«Ist dieses Baby wirklich 100 Prozent Schweizerin?»
:focal(50x50:51x51)/www.zentralplus.ch/wp-content/uploads/2025/01/pexels-pnw-prod-7328423-scaled.jpg)
Als Mutter zweier Töchter gemischter Herkunft wurde ich mit den Themen Identität und Anderssein schon oft konfrontiert. Was auf den ersten Blick wie Neugier wirkt, entpuppt sich aber als tief verwurzeltes Vorurteil.
Mein Vater schob kürzlich unseren Kinderwagen mit unserer damals acht Monate alten Tochter durch die Menschenmenge. Plötzlich stand ein älterer Herr vor ihm und fragte aus heiterem Himmel: «Ist dieses Baby wirklich 100 Prozent Schweizerin?» Zur Antwort meines Vaters kommen wir später.
In den darauffolgenden Wochen hat mich diese Frage immer wieder – mal mehr und manchmal weniger – beschäftigt. Bis ich auf einen interessanten Artikel der Chefredaktorin der «Schweizer Illustrierten» traf. Dort beschreibt Silvia Bingelli ihr Anderssein und welche Erfahrungen sie rückblickend damit gemacht hat. Ich identifizierte mich schlagartig mit ihrem Artikel. Und begann damit, mich intensiver mit Fragen rund ums Anderssein zu beschäftigen.
Rassismus ist noch immer allgegenwärtig
Vor Jahren beschäftigte ich mich durch eine Vorlesung das erste Mal mit dem Tabuthema struktureller Rassismus in unserer Gesellschaft. Anhand von Beispielen wurde aufgezeigt, dass dieser nach wie vor fester Bestandteil der Schweizer Alltagskultur ist. Was ich damals unterschätzte? Dass auch meine Kinder dereinst von diesem Phänomen betroffen sein könnten.
Bereits in den Schwangerschaften wurde ich naiv, aber ohne Wertung gefragt: «Werden eure Kinder deine blauen Augen oder die dunklen Augen ihres Vaters haben?» Oder: «Werden sie eher eine weisse Hautfarbe haben oder eher dunkler sein?» Die Neugierde trieb sie an – und daran ist nichts Schlechtes.
Was ist impliziter respektive expliziter Rassismus?
Impliziter Rassismus sind Vorurteile, Stereotypen oder Gefühle, die man gegenüber einer bestimmten Gruppe hat, ohne sich dessen bewusst zu sein. Diese können negativ, aber auch positiv sein. Expliziter Rassismus bedeutet, dass man sich der Vorurteile und Stereotypen, die man gegenüber einer Gruppierung hat, bewusst ist.
In der Vorlesung hätten wir diese Fragen wohl als implizit rassistisch betrachtet. Weil ich aber weiss, dass die Fragen aus meinem engsten Umfeld kamen, widerspreche ich hier ganz sachte. Klar, hier könnte man von implizitem Rassismus sprechen, aber er ist eben auch nicht ganz so eindeutig identifizierbar.
Herkunft und Identität der Kinder
Unsere Mädchen sind tatsächlich gemischter Herkunft: Geboren sind sie als Töchter einer Schweizerin (ich) und eines Arabers. Das arabische Blut sieht man vor allem meiner älteren Tochter sehr gut an, wie ich finde. Und eigentlich dachte ich bis zu diesem Zeitpunkt, dass man es meiner jüngeren Tochter weniger ansieht.
Und trotzdem war ich überrascht, mit welcher Wucht mich diese Aussage als Mami getroffen hat. Nicht, weil mich die Neugier nervte. Sondern weil ich merkte, dass bei dieser Frage eine Wertung mitschwang.
In der Anthropologie gibt es für Kinder solcher Eltern den Begriff «Mischling», dieser wird heutzutage aber oft als unangemessen oder überholt betrachtet. Ich habe dann auf Wikipedia, die von Menschen jeder Couleur mit Informationen gefüttert wird – also sozusagen ein Wissenspuls der Bevölkerung ist –, gefragt, was ein Mischlingskind ist.
Der Begriff «Mischling»
Wikipedia beschreibt das so: Der Begriff Mischlingskind kommt vom englischen Begriff «Brown Babys» und wurde während des Zweiten Weltkriegs verwendet, um Kinder zu beschreiben, die aus Beziehungen zwischen afroamerikanischen Soldaten und deutschen Frauen entstanden sind, insbesondere in den Jahren nach dem Ende des Kriegs.
Historisch gesehen war der Begriff häufig negativ konnotiert und wurde verwendet, um Menschen aus verschiedenen ethnischen Gruppen zu diskriminieren oder zu stigmatisieren. Wait, what?
Wenn ich die Aussage also so betrachte, war es keine Frage, sondern eher eine Beschimpfung. Meine Tochter ist also anders. Aber nicht nur das, sie ist offenbar auch weniger wert. Lediglich aufgrund ihres Aussehens. Was also nach einem hundsmiserablen Start meiner Tochter ins Leben klingen mag, kann aber letztlich auch ihre grösste Chance sein.
Eine Beschimpfung oder eine Chance?
Bei uns zu Hause treffen nicht nur zwei Religionen, sondern auch zwei (teilweise komplett) verschiedene Kulturen aufeinander. Und vielleicht weckt genau dieses Gefühl vom Anderssein bei unseren Töchtern die Neugier nach Geschichten in den Menschen.
Heute muss ich darüber schmunzeln, dass mich diese Frage über mehrere Wochen derart beschäftigt hat. Obwohl ich weiss, dass meine Töchter durchaus ihre Erfahrungen mit ihrem Anderssein – gute sowie schlechte – machen werden, bin ich davon überzeugt, dass diese Andersartigkeit auch Vorteile haben wird. Sie werden in einer Masse auffallen, wo andere untergehen. Dort, wo sich andere erst einmal Aufmerksamkeit verschaffen müssen.
Als Kind oder Jugendliche wird ihnen das vielleicht teilweise etwas unangenehm oder peinlich sein. Weil auf die Aufmerksamkeit schnell auch Vorurteile folgen – negative wie positive. Und ein gewisser Druck, besser sein zu müssen als alle anderen, um akzeptiert zu werden. Aber es wird ihnen auch Möglichkeiten eröffnen, ihre eigenen Projekte, Aufgaben, Anliegen voranzutreiben.
Die Antwort meines Vaters
Aufmerksamkeit allein bringt aber natürlich noch keinen Erfolg. Bleibt die Leistung aus, verschwindet erfahrungsgemäss auch das Interesse. Aber ihnen wird auch die Chance geboten, ihre Talente zu zeigen. Auf Menschen zuzugehen. Nachzufragen. Zu Hinterfragen.
Abschliessend möchte ich nochmals kurz auf die Antwort meines Vaters zurückkommen. Etwas verdutzt schaute er den Mann an und antwortete ruhig und bestimmt: «Und wenn schon?». Besser hätte man diesem expliziten Rassismus nicht begegnen können.