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Die leise Tragik der Rollen, die wir übernehmen

Geschwisterliebe – und die Bürden, die damit einhergehen

Geschwisterliebe verbindet und prägt uns – bewusst oder unbewusst. (Bild: Samer Daboul via Pexels)

Eine persönliche Reflexion über Konkurrenz, Verantwortung und die unsichtbaren Spuren der Kindheit.

Was macht die Beziehung zu unseren Geschwistern so besonders – und manchmal so kompliziert? Seit ich selbst Mutter von (bald) drei Kindern bin, sehe ich meine eigene Kindheit in neuem Licht. Die Dynamiken mit meiner Schwester und meinen Brüdern erkenne ich nun bei meinen Töchtern wieder. Und mittendrin die Frage: Wie sehr prägt uns unsere Geschwisterrolle wirklich?

Kennt ihr das? Ihr schaut eure Schwester oder euren Bruder an und denkt: So viel haben wir doch eigentlich gar nicht gemeinsam. Ich habe das früher oft gedacht. Gerade bei meiner älteren Schwester war da manchmal mehr Reibung als Nähe, ein ständiges Sich-Vergleichen, unbewusstes Konkurrenzdenken. Mit meinen jüngeren Brüdern war das Verhältnis entspannter. Klarer. Weniger aufgeladen.

Doch seit ich selbst Mutter von zwei kleinen Töchtern bin – und nun mit einem Jungen schwanger – muss ich diese Aussage immer wieder revidieren. Denn eines steht fest: Ich erkenne mich und meine Geschwister in meinen Kindern mehr, als mir manchmal lieb ist.

Die Rolle der Erstgeborenen – ein unterschätzter Balanceakt

Meine Schwester war die Erstgeborene. Mein Mann auch. Beide haben früh Verantwortung übernommen – und tragen sie bis heute. Ich sehe bei ihnen diese Ernsthaftigkeit, dieses Pflichtbewusstsein, das oft bewundert, aber selten hinterfragt wird. Der Münchner Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer spricht von der «Tragik der Erstgeborenen».

Das Kind, das zuerst im Zentrum der elterlichen Liebe steht, muss mit der Geburt eines Geschwisterkindes nicht nur diesen Platz räumen, sondern auch lernen, sich anzupassen, zurückzunehmen, verständnisvoll zu sein – oft viel zu früh. Spontane Affekte? Selbstbezogenheit? Dafür ist plötzlich kein Raum mehr. Die Folge: Viele Erstgeborene wirken kontrolliert, reif, gewissenhaft – aber tragen innerlich ein hohes Mass an Druck mit sich. Nicht selten führt das in späteren Jahren zu Depressionen.

Rivalitäten, Rollen und Reibungen

Ich frage mich oft: Ist es etwas anderes, die grosse Schwester eines Bruders zu sein als die einer Schwester? Ich glaube ja. Zwischen Schwestern liegt oft eine besondere Form von Nähe – und Spannung. Wir konkurrieren nicht nur um Aufmerksamkeit, sondern auch um Identität. Wer darf was sein? Wer ist wie viel wert?

In vielen Familien, gerade in unserer modernen Kleinfamilienstruktur, werden Rollen fast automatisch vergeben: die Verantwortungsvolle. Die Wilde. Der Sensible. Der «Easy one». Aber diese Zuschreibungen können einengen. Vor allem, wenn das älteste Kind zur «hingebungsvollen Grossen» wird – immer vernünftig, immer mitdenkend, immer stark. Wo bleibt da der Platz für Egoismus, für Trotz, für offene Aggressionen?

Was macht uns wirklich aus?

Statistiken zeigen: Geschwisterkonstellationen prägen unsere späteren Beziehungen – Ehen halten länger, wenn sich Konstellationen in den Partnerbiografien spiegeln. Doch was ist mit den Dingen, die in keiner Statistik auftauchen? Scham, Schuld, Abwehr, all das, was wir nicht erklären, nur erahnen können?

Die Frage, wer wir sind, hat viel mit unserer Rolle in der Familie zu tun. Und auch damit, ob wir es schaffen, für uns selbst einzustehen. Wer immer versucht, alle glücklich zu machen, wird selten selbst glücklich. Für das eigene Recht zu kämpfen, unvernünftig zu sein – auch das will gelernt sein.

Geschwisterliebe heute – und wie wir lernen, uns selbst zu sehen

Wenn ich meinen Töchtern zusehe, wie sie lachen, streiten, kuscheln, baue ich nicht nur an ihrer Zukunft, sondern blicke auch in meine eigene Vergangenheit. Und in eine Zukunft, in der sie hoffentlich einander halten – gerade, wenn das Leben unbequem wird.

Geschwisterliebe ist nicht immer harmonisch. Aber sie ist echt. Sie ist ein Raum, in dem wir lernen, wer wir sind – im Spiegel des Anderen. Und vielleicht ist es gerade das, was uns im Leben weiterhilft: Die Perspektive des Geschwisterkindes einzunehmen – um uns selbst besser zu verstehen.

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Kinder: Neun Monate sehnt man sie herbei und dann machen sie einen Haufen Arbeit. Und bestimmen ab sofort Mamis und Papis Leben. Fünf Mütter und ein Vater schreiben über ihren Alltag mit dem Familienzuwachs. Von Herausforderungen, Veränderungen, Ängsten und Freuden.
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