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Gender Disappointment in meinem Umfeld

Die Enttäuschung, wenn das Kind nicht das Wunschgeschlecht hat

Gender Disappointment nennt man es, wenn man über das Geschlecht des Babys enttäuscht ist. (Bild: Adobe Stock)

In der Schweiz und der EU ist die Geschlechtswahl mittels künstlicher Befruchtung verboten. Damit man trotzdem das Wunschgeschlecht kriegt – dafür gehen viele Paare ins Ausland. Ich habe mich gefragt: Gibt es das sogenannte Gender Disappointment auch in meinem Umfeld? Die Antwort ist eindeutig.

Wir wussten es bei beiden Töchtern früh. Verhältnismässig sehr früh, wenn ich es mit anderen Paaren vergleiche, die ebenfalls schwanger waren. Ob ich mich freute? Natürlich. Schliesslich waren es Mädchen. Sie sind bei Schweizer Eltern offenbar besonders beliebt. Wohingegen im Balkan eher Jungs bevorzugt werden.

Ich habe mich in den letzten Monaten etwas umgehört und mich gefragt: Gibt es das Phänomen des Gender Disappointments auch in meinem Umfeld? So heisst der Fachbegriff, wenn Eltern über das Geschlecht ihres Kindes enttäuscht sind.

Im folgenden Beitrag möchte ich aber keinen wissenschaftlichen Artikel über das Phänomen schreiben. Es soll vielmehr darum gehen, wie es sich anfühlt, wenn Paare das – für sie in diesem Moment – «falsche» Geschlecht ihres Babys erfahren. Und zwar, ohne auf sie zu zeigen oder sie zu werten.

Unsere Tochter ist wie ein Junge

Bei unserer erstgeborenen Tochter wusste ich früh, dass sie ein richtiges Energiebündel ist. Ähnlich wie die Jungs in ihrem Umfeld. Kurz nachdem sie laufen konnte, kletterte sie bereits auf alle möglichen Hindernisse, rutschte verhältnismässig früh selbstständig die Rutschbahnen hinunter.

Wenn man heute ihren Gang betrachtet, fällt auf, dass sie ganz genau weiss, was sie will. Stereotypisch betrachtet könnte man jetzt behaupten, das passt nicht wirklich zu einem Mädchen. Aber da ist noch so viel mehr.

Diese Sätze helfen nicht

In meinem Umfeld bin ich ebenfalls auf das Phänomen gestossen. Eine Freundin erwartet bald ihr zweites Kind. Alle Schwangerschaftsbeschwerden haben stärker auf ein Mädchen vermuten lassen. Nun wird es doch ein Junge. Sie brauchte mehrere Tage, um mit dieser Nachricht klarzukommen. Zu Recht! Wie ich finde.

Was ihr zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht half, waren Sätze wie: «Ist doch egal, welches Geschlecht das Kind hat. Die Hauptsache ist doch, dass es gesund ist.» Glaubt mir, solche Worte verursachen im Innern noch mehr Druck. Denn ich kenne kein einziges Paar, das sich nicht ein gesundes Kind wünscht.

Natürlich haben solche Sätze durchaus ihre Berechtigung. Aber sie helfen eben nicht. Denn die Geburtenhäufigkeit zeigt klar, dass wir weniger Kinder haben und sich dadurch auch die Möglichkeit verringert, das Wunschgeschlecht zu erhalten.

Viel wichtiger wäre es, in solchen Momenten einen Raum zu schaffen, in dem betroffene Paare ihre belastenden Gefühle deponieren können. Denn diese Gefühle sind weder gegen das Kind im Bauch gerichtet noch sind sie verwerflich. Sie sind schlichtweg einfach da.

Vielleicht identifiziere ich mich mit dieser Freundin auch deshalb, weil auch ich gerne – neben meinen beiden Mädchen – einen Jungen gehabt hätte. Ich habe mich nämlich immer auch als Jungen-Mama gesehen. Das rührt vermutlich daher, dass ich zwei jüngere Brüder habe, die ich abgöttisch liebe. Weil sie mein Leben auf eine andere Art und Weise bereichern.

Meine Brüder zeigen mir eine andere Welt

Obwohl ich älter als sie bin, lerne ich bis heute immer wieder neue Dinge von ihnen. Und sie fordern mich heraus, sodass ich immer mal wieder über mich selbst hinauswachsen muss. Vielleicht ist das auch der Grund, weshalb ich ein drittes Kind in Betracht ziehe.

Gleichzeitig muss ich aber auch zugeben, dass der Gedanke, eines Tages mit meinen Töchtern Kaffee trinken zu gehen oder mit ihnen Kleider einzukaufen, auch mein Mama-Herz mit einer Wärme umgibt. Schliesslich sind Töchter den Müttern doch näher, als es die Söhne sind. Gerade im Erwachsenenalter. Für all diese Vorstellungen gibt es aber keine Evidenz.

Gerade meine Brüder sind die besten Beispiele dafür, dass auch Jungen eine starke Bindung zu ihren Eltern aufbauen können. Das beobachte ich im Übrigen auch bei meinem Mann und meiner Schwiegermutter. Und auch Töchter können zu ihren Vätern eine tiefe Bindung aufbauen. Das sehe ich bei meinen Töchtern. Und ich spüre es bei mir und meinem Vater.

Der Ursprung von Gender Disappointment liegt in der Gesellschaft – und in uns selbst

Übrigens liegt der Ursprung von Gender Disappointment oft in persönlichen und soziokulturellen Umständen. Und in meinem Fall würde ich sagen, dass sogar das Gegenteil beobachtbar ist. Meine Brüder sind enorm stark mit unserer Mutter und unserem Vater verbunden. Natürlich schwingt im Vater-Sohn-Verhältnis auch immer ein bisschen ein Konkurrenzgedanke mit. Aber auch dieser darf Platz haben.

Übrigens existiert das Konkurrenzdenken auch im Mutter-Tochter-Verhältnis. Dort nimmt es vielleicht einfach eine andere Form an, die schwerer identifizierbar ist. Es sind dann Sätze wie «Das mussten wir früher auch alleine auf die Reihe kriegen», die für mich auf dieses Denken hindeuten. 

Gerne würde ich abschliessend nochmals auf das behandelte Phänomen des Gender Disappointments zurückkommen. Paare, die davon betroffen sind, kann ich beruhigen. In den meisten Fällen weicht die Enttäuschung spätestens bei der Geburt. Und wenn man solchen Frauen (oder Männern) zuhört und gemeinsam mit ihnen ergründet, welche Vorliebe zum einen oder anderen Geschlecht führten, hilft man ihnen mehr – damit das Geschlechterthema eine neue Perspektive erhält. Es geht auch ohne Wertung.

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Kinder: Neun Monate sehnt man sie herbei und dann machen sie einen Haufen Arbeit. Und bestimmen ab sofort Mamis und Papis Leben. Fünf Mütter und ein Vater schreiben über ihren Alltag mit dem Familienzuwachs. Von Herausforderungen, Veränderungen, Ängsten und Freuden.
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