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Gastrokritiken im Internet

An den Herrn aus Meggen, der mein Lieblingsrestaurant beleidigt hat

Bei der Wahl eines Restaurants sollte man sich nicht nur auf die Kritiken im Internet verlassen. (Bild: PIxabay)

Dank dem Internet sind wir bestens darüber informiert, welche Beizen in die Ränge kommen und welche nicht. Oft verzichten wir ganz auf einen Besuch und machen uns deshalb kein Bild vor Ort. Dass wir einen guten Abend verpassen, weil wir einer Kritik im Internet vertrauen, macht es für die Restaurants und unseren Flaneur auch nicht einfacher.

Flanieren ist eine Tätigkeit, die eigentlich jeder beherrscht, jedoch leider Gottes niemand mehr wirklich anwendet. Das ziel- und zeitlose Gehen mit Fokus auf all die schönen Details dieser Welt ist in der heutigen Zeit wahrlich aus der Mode gekommen. Alles muss einen unmittelbaren Sinn ergeben, keine Handlung soll die ach so kostbare Zeit verschwenden.

Selbst der angebliche Genuss, der in unserer Gesellschaft so scheinbar leidenschaftlich zelebriert wird, verkommt im Angesicht der hedonistischen Sinnlosigkeit zur existenziellen Aufgabe, diesen im Internet, nach Bestätigung trachtend, zur Schau zu stellen.

Von der Selbstversorgung zur Internetbestellung

Nichts gegen das Internet! Ich liebe es. Und darin lässt es sich auch wunderbar flanieren – vom Bett aus rund um die Welt. Und was es da alles zu entdecken gibt nebst Online-Shopping und kostenloser Interkontinental-Pornographie!

Als leidenschaftlicher Bar-Gänger, Hobby-Trinker und Möchtegern-Gourmet sind für mich natürlich vor allem jene Bereiche von Belangen, die sich mit gastrosophen Themen befassen. Wie ein digitaler Bücherwurm fresse ich mich durch Geschichte und Gegenwart der globalen Schlemmerei und denke dabei häufig mitleidvoll an jene Zeiten zurück, als es in Europa noch keine Kartoffeln, Teigwaren, Tomaten oder Pfeffer gab.

Das gilt auch für die Schweiz. Unsere kulinarischen National-Allegorien wie Röschti und Älplermagronen waren 1291 in etwa so unbekannt wie es Albert Rösti hoffentlich in zehn Jahren sein wird.

Wenn Bewertungen ein Restaurant (dis-)qualifizieren

Aber meine grösste Leidenschaft in diesem Internet ist ganz klar das Lesen von (negativen) Restaurant-Bewertungen. Das ist Unterhaltung pur und teilweise so niveaulos und peinlich wie der Bachelor oder Irina Beller.

Gerade wenn man die Betriebe kennt, die fast immer zu Unrecht ihr Fett abkriegen, ist das eine emotionale Gratwanderung zwischen Mitleid, Wut und Gewaltfantasien. Die beste 1-Stern-Bewertung, die ich bis jetzt gelesen habe: Ein Herr aus Meggen (gemäss Profil auf Tripadvisor) hat sich beschwert, dass das Zigarettenangebot an der Bar zu klein sei und diese dann auch noch 9 Franken kosten würden. Gegessen und getrunken habe er nichts, da aufgrund dieser Tatsache auch vom Restaurant nichts zu erwarten sei.

Die Wirte brauchen nicht nur Sterne ...

Das ist leider kein Einzelfall. Überall im Netz tummelt sicher dieser Schlag Leute, der sich hinter dem Deckmantel der Anonymität verkriecht, seine niederträchtige Wut und Verzweiflung munter in die Welt hinausposaunt und durch diese geistesgestörte Selbstbefriedigung nichts anderes als Schaden anrichtet.

Und sowieso und ganz allgemein: Das Preis-Niveau in der Gastronomie ist keinesfalls zu hoch, sondern zu tief. Noch nie in der Geschichte unseres Landes musste man prozentual weniger von seinem Geld ausgeben, um sich ausserhalb der eigenen vier Wände zu ernähren als heute.

Gleichzeitig ist das Märchen vom Wirt, der sich auf die Schnelle eine goldene Nase verdient, längst Geschichte. Das Beizensterben grassiert mittlerweile in epidemischem Ausmasse und selbst Gastro-Messias Bumann kann diese Massenvernichtung nicht aufhalten.

... sondern auch viele Gäste!

Der Flaneur appelliert deshalb: Geht aus, flaniert, trinkt, esst, haltet die Schnauze und sorgt damit für den Erhalt der grössten kulturellen Errungenschaft seit der Erfindung des gewerblichen Beischlafs. Und wenn es unbedingt sein muss, dann stellt euren Foodporn halt ins Internet; ich bin sicher, dass noch nie jemand eine California-Roll mit Avocado gesehen hat.

In eigener Sache: Auch zentralplus bietet Gastrokritiken an. Ob diese niveauvoller ausfallen als der oben genannte Beitrag, entscheidest Du hier.

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Claudio Fenner ist ein passionierter Stadtmensch mit Hang zu hedonistischer Landstreicherei, Glücksspiel und Schrebergärten. Als Traumtänzer und Schlafwandler zieht er in Luzern seine Runden, beobachtet und taucht auch mal in einer Bar auf. Dabei passieren dem Flaneur oft seltsame und skurrile Dinge, die es verdienen, aufgeschrieben zu werden.
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