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Legale und illegale Kunst als symbolische Eroberung

Wie Street-Art in Luzern öffentliche Räume prägt

Ein Sujet, das die Dialektik von «Nicht-Ort» und Strassen-Kunst stimmig einfängt. (Bild: Michael Weber)

Ein Wandbild oder Graffito ist immer auch eine symbolische Eroberung des Orts. Besonders die Autobahnunterführung am Sentiweg beherbergt unzählige Schriftzüge, «Tags» und Schmierereien. Während die Unterführung nun aufgewertet werden soll, sind im Untergrund-Quartier gleich an zwei Orten neue Kunstwerke entstanden. Ein Blogpost von UntergRundgänger Michael Weber.

Das eigene Haus ist «meines», auch wenn ich darin nur zur Miete wohne. Um sein vermeintliches «Eigentum» kenntlich zu machen, könnte man – sofern erlaubt – ein grosses «Banner» vor das Fenster hängen. So wie dies Firmen oder Institutionen gerne tun – wie beispielsweise die Pädagogische Hochschule (PH) Luzern an der Dammstrasse. Die Beflaggung von Balkonen und Fenstern wurde in den letzten Jahren zum städtischen Trend. Meist jedoch nicht, um sich «selbst» zu huldigen, sondern mittels Babytafeln den Nachwuchs kundzutun oder eine politische Botschaft (Spange Nord, Eichwäldli oder Frauenstreik) nach aussen zu tragen.

Die PH Luzern macht ihre Herrschaftsansprüche in der Dammstrasse mittels Banner klar. (Bild: Michael Weber)

Kennzeichnung des «Herrschaftsgebiets»

Das Symbol der Flagge ist eine etablierte Methode, um «Herrschaftsgebiet» zu kennzeichnen. Bereits die römischen Heere zogen vor zwei Jahrtausenden mit wehenden Bannern in die Schlacht und im Mittelalter zeigten Vögte durch Flaggen auf den Zinnen ihrer Burgen, wem das Land in der Umgebung gehört. Auch das in der Dammstrasse von der PH Luzern betriebene Gebäude erinnert durch die daran flatternden Banner an eine mittelalterliche Burg, welche Herrschaftsansprüche zu stellen scheint.

Diese Art der symbolischen «Macht» zeigt auch die Stadt selber – mittels Flaggen an repräsentativen Gebäuden oder Brücken. Flaggen in Schrebergärten imitieren diese Herrschaftsansprüche, gerade weil sie meistens andere Länder oder Kantone repräsentieren. Sie stehen also entgegen der «herrschenden Ordnung» als Bastion oder Botschaft im «Feindesland».

Illegale Eroberung des Raumes

Der öffentliche Raum kann aber auch illegal «erobert» werden. Mit Graffiti oder Klebern werden Strassenzüge und Verkehrsschilder gebrandmarkt und territorial in Besitz genommen. Dabei wird der eigene Name, der Name der Crew oder eines Fussballclubs «verewigt». Diese «Eroberung» gilt so lange, bis die Kennzeichnung entfernt oder von anderen übermalt oder überklebt wird.

Zwischen legal angebrachten Flaggen und illegal gesprayten «Tags» (einfarbig gesprayter Name) oder «Throw-ups» (meist zweifarbig schnell gesprayter Name, der nur mit einer raschen Schraffierung oder gar nicht ausgefüllt ist) besteht ein grosser Unterschied. Während sich die illegal Sprayenden mit ihrer Handlung strafbar machen, werden die Flaggenhissenden von den gleichen Gesetzen geschützt. Das Ziel – einen vermeintlichen «Herrschaftsanspruch» geltend zu machen – ist jedoch stets das gleiche.

An der Gibraltarstrasse wurde ein «Tag» durch FCL-Fans überklebt und somit egalisiert. (Bild: Michael Weber)

Wolle und Spraydose

Gemäss dem Soziologen Ueli Mäder halten sich Menschen gerne an belebten Orten auf. Diese «belebten Orte» strukturieren das gesellschaftliche Leben. Sie repräsentieren soziale Werte und dokumentieren ein geschichtliches und kulturelles Gedächtnis. Sie führen Menschen zusammen und laden dazu ein zu sinnieren. Beliebte Orte prägen soziale Ordnungen, die soziales Verhalten ermöglichen. Wir eignen uns Orte an und konstruieren sie mit.

Je beliebter der Ort, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass bereits eine (offizielle) Gestaltung vorgegeben ist. Belebte Orte wie Bahnhofsplätze oder Einkaufspassagen sind stark durchgeplant und in ihrer Gestaltung von den mächtigen Einflussträgern durchorchestriert. Auch wenn solche «Treffpunkte» aus pragmatischen und logistischen Gründen gut durchgeplant sein müssen, «ungenutzte» soziale Räume gäbe es auch hier. Eine Mitgestaltungsmöglichkeit durch Bürgerinnen wird aber in der Regel (im Sinne einer «Ordnung») unterbunden.

Verbindung mit Rissen

Einen solch ungestalteten aber dennoch belebten Raum stellt die St.-Karli-Brücke dar. 2015 startete die Pfarrei St. Karl eine «bunte» Idee der optischen Raumeroberung. Das Einzugsgebiet dieser katholischen Pfarrei erstreckt sich über zwei unterschiedliche Quartiere. Das Oberschichtquartier St. Karli und das Unterschichtquartier Basel-/Bernstrasse (BaBeL). Getrennt werden diese beiden Quartiere durch die Reuss und verbunden werden sie durch die St.-Karli-Brücke, an deren Ufer auch die Kirche steht. Die Pfarrei liess unter dem Motto «St. Karl verbindet» unter anderem ihre Mitglieder stricken, um die Brückengeländer in bunte Farben zu hüllen.

Hier stand die Sichtbarmachung der Personen, die in den beiden Quartieren leben, im Vordergrund. Dabei wurden auch 30 der damals 76 Landesflaggen der Bewohnerinnen und Bewohner der beiden Quartiere gestrickt.

Obwohl diese Aktion vonseiten der Behörden sicher geduldet war, bekam die wollene Verbindung – und somit die symbolische Eroberung – schnell Risse. Neben der Witterung machte auch «Vandalismus» der Strickverbindung zu schaffen, wie Delf Bucher in seinem Blog-Beitrag «Die wollene Utopie auf der St.-Karli-Brücke» konsterniert feststellte (zentralplus berichtete).

Witterung und Vandalismus machten der Wolle auf der St.-Karli-Brücke zu schaffen. Diese Aufnahme entstand im April 2016 – ein halbes Jahr nach der offiziellen Eröffnung. (Foto: Michael Weber

Der Durchgangsweg ist ein «Unort»

Überraschenderweise langlebiger sind die zahlreichen Graffiti, welche sich in der Personen- und Velounterführung am Sentiweg befinden. Der «Unort» direkt an der Reuss unter der Autobahn ist eine bunte Ansammlung von Farbe. Unzählige Personen haben sich dort «verewigt». Wie langlebig diese «Tags» oder «Throw-ups» sind, zeigt ein Bildvergleich im Abstand von fünf Jahren.

Die Unterführung ist ein klassischer Durchgangsweg, eine Passage, die – trotz ihrer eigentlich malerischen Lage an der Reuss – nicht zum Aufenthalt einlädt. Ein unwirklicher Ort – düster und gruselig, und somit unbeliebt, ist diese Autobahnunterführung. Das liegt selbstverständlich nicht nur an den unzähligen Spinnennetzen, sondern auch an den zahlreichen Graffiti. Dennoch ist der Ort belebt, da er, insbesondere für Velofahrer, eine direkte und zudem autofreie Verbindung zwischen der Stadt Luzern und Emmenbrücke darstellt.

Obwohl es offensichtlich an Publikumsverkehr nicht fehlt, scheint der Raum der Fussgänger- und Velounterführung am Sentiweg für die hiesigen Sprayenden dennoch zu wenig attraktiv zu sein, um dort längerfristige Herrschaftsansprüche geltend zu machen.

Gleichzeitig bedeutet das, dass diese Wände seit vielen Jahren nicht mehr frisch gestrichen wurden. Das ändert sich nun. Im Zuge der Renovation der Lärmschutzwände soll die Unterführung aufgehellt werden (zentralplus berichtete). Und gleich um die Ecke (neben dem beflaggten PH-Standort Sentimatt) hat die Stadt per 1. April 2021 zwei lange Wände fürs legale Sprayen freigegeben (zentralplus berichtete). Bereits am ersten Tag haben Graffiti-Künstlerinnen mit grossen «Pieces» (von Masterpiece – zeitintensive, bunte Bilder, die in der Regel mehr sind, als nur der Name der Graffiti-Künstler) die Autobahnwände bemalt.

Gleich am Tag der Eröffnung der legalen Wände in der Sentimatt gingen Sprayende ans Werk. (Bild: Peter Lussy)

Diese Legalisierung ist nicht nur eine optische Aufwertung der Wände. Die bunten Bilder schaffen auch ein positiveres Klima an diesem tristen Parkplatz – wovon die Menschen im Quartier sicher profitieren. Diese für die Stadt kostenlose Massnahme schafft zudem den Sprayenden eine stressfreie Möglichkeit, sich zu verwirklichen – an Wänden, die zuvor illegal versprayt waren. So gibt die Stadt in gewisser Weise die «Kontrolle» über die Wände ab und lässt der «Bevölkerung» die Möglichkeit der Gestaltung (mehr oder weniger) frei.

Der Grund, weshalb nun in der Sentimatt grosse, bunte und eher fröhliche Bilder entstehen, während nur wenige Meter entfernt in der Unterführung düstere Schriftzüge überdauern, liegt in der Zeit, welche die Sprayenden jeweils investieren. Denn wer illegal sprayt, muss sich beeilen, um nicht erwischt zu werden. Darum werden – in Nacht- und Nebelaktionen – vor allem «Tags» oder «Throw-ups» an die Wand gemalt. Für die vielfarbigen «Pieces» fehlen an illegalen Orten meistens Zeit und Licht. Insofern könnte die Umwandlung der Unterführung in eine legale Sprayzone für eine Aufwertung der Passage sorgen.

Lokale Industriegeschichte künstlerisch verpackt

Vor wenigen Wochen ist auf der Reussinsel ebenfalls ein öffentliches Kunstwerk entstanden. Im Rahmen einer Zusammenarbeit zwischen dem Fumetto-Festival und dem Verein UntergRundgang hat die Westschweizer Künstlerin Anda ein Stück Bahndamm bemalt. Das Bild, an dem sie während des diesjährigen Fumetto-Festivals täglich gearbeitet hat, soll an die Industriegeschichte der Reussinsel erinnern. Denn dort verschwinden demnächst die letzten Zeugen der Luzerner Industrialisierung (zentralplus berichtete). Somit hat Anda mit ihrer Street-Art den Raum nicht nur für sich, sondern auch zur Sichtbarmachung der industriellen Geschichte dieses Ortes erobert.

Das am Fumetto-Festival entstandene Kunstwerk erinnert an die untergehende industrielle Geschichte der Reussinsel. (Bild: Michael Weber)
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Ob Hintergründe zu alten Gebäuden, Geschichten zu Plätzen, stadtbekannte Personen, bedeutende Ereignisse oder der Wandel von Stadtteilen – im «Damals»-Blog werden historische Veränderungen und Gegebenheiten thematisiert.
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