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Pikante Lücke im Luzerner Staatsarchiv

Wie die Luzerner Regierung zur Selbstjustiz aufrief

Die Karikatur von Johannes Ruff zeigt die Freischärler mit Gottfried Keller als Trommler. (Bild: Johannes Ruff, 1885 / Wikipedia)

Nach der Niederlage des zweiten Freischarenzugs kommen im Jahr 1845 Tausende von Aufständischen in Gefangenschaft. Angestachelt von der Stadtregierung, verübt der «Landsturm» Verbrechen an den Gefangenen. Pikanterweise wird dieses Thema vom Luzerner Staatsarchiv bis heute nicht dokumentiert.

Am Morgen des 1. April 1845 realisiert auch der zweite Freischarenzug seine Niederlage. Die geplante Belagerung Luzerns ist fehlgeschlagen. Fehlende Einigkeit ums militärische Vorgehen und eine plötzliche Massenpanik zwingen die Aufständischen zum Rückzug von ihrer Position vor der Stadt. Verstreut und unorganisiert treten sie die Flucht an. Doch die Luzerner Regierungstruppen antizipieren deren überstürzten Abzug und lauern ihnen in Malters auf (zentralplus berichtete).

Auslöser für die Freischarenzüge war die Berufung von Jesuiten an die höheren Lehranstalten durch den von Katholisch-Konservativen regierten Kanton Luzern. Dies sorgte in liberalen Kreisen für Empörung.

Unzuverlässige Berichterstattung

Der Flucht folgt ein mehrstündiges Feuergefecht, welchem zwei Dutzend der Freischärler zum Opfer fallen. Schätzungen gehen von bis zu 400 Gefangenen aus. Die Kommunikationsschwierigkeiten zwischen den verschiedenen Abteilungen der Umstürzler führen zu einer Zersprengung, welche die Regierungstruppen gezielt ausnutzen. Die isolierten Gruppen liefern Widerstand, können gegen die geeinten und organisierten Regierungstruppen allerdings nichts aussetzen.

So werden an diesem Tag etliche Freischärler gefangen genommen. Zeitgenössische Medien berichten von mehreren Tausend Kriegsgefangen. Ein wenig konkreter wird das «Basellandschaftliche Wochenblatt». Dort ist die Rede von 1730 Gefangenen und 300 Toten. Doch die Angaben sind mit Vorsicht zu geniessen. Genaue Nennungen existieren nicht, die Zahlen werden aus unbestätigten Meldungen entnommen und je nach politischer Überzeugung mehr oder weniger ausgeschmückt. Liberale Zeitungen erhöhen die Opferzahlen, während die katholisch-konservativen Blätter sie mindern oder gar nicht erst aufzählen.

Mediale Ausschmückung der Geschehnisse

Doch nicht nur die Angaben bezüglich der Kriegsgefangen und Toten variieren. In den Folgemonaten entsteht eine mediale Schlammschlacht über den Umgang der Luzerner mit den gefangenen Freischärlern. Die katholischen Luzerner Zeitungen verdammen die Freischärler und ihre geplante Übernahme der Stadt. So beschreibt die «Staatszeitung» die Aufständischen am 1. April als: «Räuber- und Mörderbanden, Auswurf der Schweizernation».

In einem Versuch, die Deutungshoheit zu bewahren, fährt die liberale Presse eine geeinte Politik. Durch wiederholte Berichterstattung über die vollzogenen Gräuel gegen die Gefangenen versuchen sie der Luzerner Regierung Kriegsverbrechen vorzuwerfen. Grund dazu haben sie allemal.

Gesetz gegen die Freischaren

Nach dem fehlgeschlagenen ersten Freischarenzug vom Dezember 1844 erlässt der Grosse Rat das «Gesetz gegen die Freischaren». Inhaltlich verbietet es jegliche Bildung von unautorisierten Milizen. Bei Nichtbeachtung drohen drakonische Strafen. Eine militärische Auflehnung gegen die Stadt Luzern hat die Reichsacht zur Folge.

Das Kantonale Bürgerrechtsgesetz legt fest, dass Bewohner Selbstjustiz gegen die Milizsoldaten walten lassen sollen: «Sollten fremde Freischärler in den Kanton eindringen, so ist jedermann verpflichtet, auf dieselben loszuziehen und sie als Gebietsverletzer, Räuber und Mörder zu vertilgen.» Auch der Umgang mit Gefangenen ist deutlich: «Gefangene, fremde Freischärler sollen mit dem Tode vermittelst Erschiessen bestraft werden.»

Doch trotz der unmissverständlichen Warnung gegenüber jeglichen Aufständischen kann der zweite Freischarenzug nicht verhindert werden. Die Niederschlagung bietet allerdings die Möglichkeit, das Gesetz anzuwenden, wovon auch Gebrauch gemacht wird.

Die liberale Presse berichtet

Im Versuch, den Luzernern Kriegsverbrechen vorzuwerfen, startet die liberale Presse eine entschlossene Kampagne. Sie verfasst eine Chronik, welche die Gräueltaten auflistet. Das «Landsturmbüchlein» enthält detaillierte Fälle der Misshandlungen gegenüber den Freischärlern. Es fusst auf Zeugenaussagen der gefangenen Milizen und ist voll von Schuldzuweisungen. Inhaltlich zeichnet es ein Bild des Grauens und bezeichnet die gesamte Luzerner Bevölkerung als Kriegsverbrecher. Denn die Schrift diskriminiert nicht.

Die Anschuldigungen ziehen sich durch die gesamte Bevölkerung. Einfache Soldaten werden genauso angeklagt wie Offiziere oder sogar Geistliche. Ein Freischärler berichtet von den Beschimpfungen, welche ihm zuteilwurden: «Du verfluchter Kerl, du Vaterlandsverräter, du Meineidiger, du hast unsere Religion stehlen wollen, mit Freuden geben wir dir eine Kugel durch den Kopf, aus dir gibt es dann gute Würste, du bist gut gemästet.»

In diesem Falle wurden die Androhungen zwar nicht realisiert und der Freischärler konnte seine menschliche Form beibehalten. Doch nicht alle kamen so glimpflich davon.

Luzerner «Landsturm» misshandelt Freischärler

Die Chronik der Misshandlungen gegenüber den Milizionären wurde vom gleichnamigen «Landsturm» inspiriert. Dieser entstand durch den Aufruf der Luzerner Regierung, Freischärler zu «vertilgen». Diesem Appell wurde folgsam nachgekommen, wie die NZZ am 3. Juni 1845 bemerkt: «Das Los derjenigen, die in seine Hände fielen, war nicht beneidenswert, Beschimpfungen, Kolbenstösse, Faustschläge, Tritte wurden ihnen reichlich zuteil, auch nachdem sie gebunden waren.»

Interessanterweise bestand der Landsturm nicht aus regulären Truppen, sondern aus Stadtbewohnern, welche sich den Regierungsaufruf zu Herzen nahmen. Die vom Rat goutierte Miliz macht daraufhin Jagd auf die versprengten Freischärler. Durch den chaotischen und überhasteten Truppenabzug finden sie sich anschliessend in kleinen Gruppen wieder. Ohne jeglichen Schutz sind diese dem Landsturm ausgeliefert.

Das Aargauer Staatsarchiv liefert neue Einblicke

Pikanterweise finden sich in den Freischaren-Akten im Luzerner Staatsarchiv keinerlei Hinweise auf Misshandlungen vonseiten des «Landsturms». Dem widersprechen jedoch die im Aargauer Staatsarchiv gesammelten Darstellungen. Aargauische Freischärler, welche nach ihrer Freilassung aus der Luzerner Gefangenschaft zurückkehrten, hinterliessen Aussagen, welche auf Misshandlung deuten.

Johann Hintermann aus Beinwil gibt an, dass er während seiner Flucht aus dem Kanton Luzern eine Pause in einem Wald eingelegt habe. Dort haben ihn Landsturmtruppen entdeckt, welche ihm daraufhin durch den Hals geschossen und ihn mit Schlägen versehen haben. Sein Bruder Gottlieb ist an Ort und Stelle erschossen worden.

Mehr Glück hat hingegen Samuel Landolt aus Aarau. Ihm gelingt die wiederholte Flucht aus der Luzerner Gefangenschaft. Seine Flucht und wohl auch sein Leben verdankt er der mangelnden Bewaffnung des Landsturms. Da sie «nur» mit Morgensternen und Äxten bewaffnet sind, können sie den Flüchtenden nicht erschiessen. Trotzdem nehmen sie ihn erneut gefangen. Seine Verfolger nehmen die Justiz in die eigene Hand und beginnen ihn zu malträtieren. Seinen Angaben zufolge stoppen diese die Misshandlung nur, weil ihm ein Luzerner «Landjäger» zur Hilfe eilt.

Fanatische Lynchjustiz

Diese Episoden zeigen, wie fanatisiert die Bevölkerung durch das «Gesetz gegen die Freischaren» war. Ausgestattet mit der Möglichkeit, Lynchjustiz zu verüben, ergreifen sie die Gunst der Stunde und lassen ihre Wut und Verachtung an den Freischärlern aus. Dass die Armee und die Polizeigewalt diesen unverhohlenen Hass nicht teilten, zeigt die Intervention des Landjägers.

Bei der vorherrschenden Faktenlage ist es unmöglich, eine abschliessende Schuldzuweisung vorzunehmen. Die liberale Presse zieht alle Register, um die Aufmerksamkeit auf die Misshandlungen des Landsturms zu legen. Währenddessen versuchen die katholischen Orte die Geschehnisse zu verdecken, was die Nichtexistenz der Gefangenenaussagen aufzeigt.

Beachtlich ist die enorme Anstrengung zur Verdrehung der Fakten. Ein Symptom zur Vertuschung der eigenen Schuld, welches uns sowohl in der Geschichte als auch in der Gegenwart immer wieder begegnet.

Verwendete Quellen
  • K. Bühlmann, Der zweite Freischarenzug, 1985
  • Otto Gass: Die politische Vorgeschichte zum Freischarenzug gegen Luzern im Jahre 1844
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