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Der erste Fund in der Schweiz galt lange als Fabelwesen

Wie aus dem Riesen von Reiden ein zotteliges Mammut wurde

Mammutknochen aus Rotkreuz, Bild: Museum für Urgeschichte(n) Zug

Mammuts waren im 16. Jahrhundert in der Zentralschweiz noch nicht bekannt. Die Leute kannten damals weder Elefanten noch ihre «wollhaarigen» Verwandten aus der Eiszeit und gingen lange von einem Riesen aus. Heute wissen wir, dass hier – je nach Klima – auch ganz andere Tiere gelebt hatten.

Mammuts waren typische Tiere der Eiszeit. Erst im letzten Sommer wurde in einer Kiesgrube bei Cham ein einzelner Backenzahn eines Mammuts geborgen (zentralplus berichtete). Der Baggerführer erkannte sofort, was er gefunden hatte und übergab das Stück der zuständigen Kantonsarchäologie.

Anders verhielt es sich vor etwas mehr als 400 Jahren: Beim Kloster Reiden im Luzerner Wiggertal kamen 1577 bei einer umgestürzten Eiche riesige Knochen zum Vorschein. Solch grosse Knochen konnten damals keinem bekannten Tier zugeordnet werden. Der Basler Arzt und Naturforscher Felix Platter interpretierte sie als Überreste eines Riesen von 5,6 Metern Grösse. Die Knochen wurden im Rathausturm von Luzern ausgestellt.

Der erste Mammutfund in der Schweiz

Die Einwohner von Reiden und Luzern waren damals so stolz auf ihren Riesen, dass er Anfang des 17. Jahrhunderts auf einer der Bildertafeln der Kapellbrücke verewigt wurde. Er schmückt das erste Brückenbild beim Eingang der Kapellbrücke auf dem linken Reussufer. Das Gemälde zeigt den Riesen in einer Drohgebärde. In seiner rechten Hand hält er eine ausgerissene Eiche hoch.

Doch der Fortschritt der Forschung brachte die Welt der Riesen und Fabelwesen zum Verschwinden. Im Jahr 1799 untersuchte Professor Johann Friedrich Blumenbach aus Göttingen (DE) die Knochen des «Riesen von Reiden». Er hatte sie als Elefantenknochen gedeutet und nahm einige davon mit nach Göttingen. Die ursprüngliche Deutung geriet in Vergessenheit, bis eine Journalistin aus Reiden 2006 im Geowissenschaftlichen Zentrum Göttingen auf die Mammutknochen gestossen ist.

Eine Untersuchung brachte Gewissheit: Die Knochen passten zum einzigen in Luzern verbliebenen Knochen. Auch wenn sich die erste Interpretation des Knochens als falsch erwiesen hat, bleibt der Fund bis heute spektakulär: Schliesslich handelt es sich um den ersten Mammutfund in der Schweiz.

«Riese von Reiden» Bild der Kapellbrücke. Bild: Stadtarchiv Luzern, F2a_Bruecken_24_12_03_Kdm001-D.

«Riese von Reiden» Bild der Kapellbrücke. Bild: Stadtarchiv Luzern, F2a_Bruecken_24_12_03_Kdm001-D.

Seit der Antike bis in die frühe Neuzeit wurden derartige Funde Fabelwesen zugeordnet. Ab dem 18. Jahrhundert waren Gelehrte auf den Spuren der Evolutionstheorie und deuteten solche Fossilienfunde als Entwicklungsprozess der Erdgeschichte. Wissenschaftlich angelegte Sammlungen untermauerten ihre Thesen.

Um 1800 stiessen Jäger auf die ersten Mammutkadaver in den Permafrostböden in Sibirien. Nun war es unumstritten, dass auch die Knochen von Reiden zu den Resten eines Mammuts gehörten. Folglich wird der 55 cm grosse Knochen heute im Naturmuseum Luzern aufbewahrt. Von den beiden Knochen, die in Göttingen bleiben, wurden mittlerweile Kopien für das Naturmuseum Luzern hergestellt.

Die Knochen von Reiden, Original und Kopien, Bild: Naturmuseum Luzern.

Die Knochen von Reiden, Original und Kopien, Bild: Naturmuseum Luzern.

Heute werden archäologische Funde in der Schweiz von den Kantonsarchäologien sichergestellt bzw. ausgegraben. So wurden auch im Sommer 2015 die Funde von Mammutknochen und einem Stosszahn in Rotkreuz vom Amt für Denkmalpflege und Archäologie Zug geborgen und wissenschaftlich untersucht.

Die Ergebnisse derartiger Untersuchungen enträtseln heute alle erdenklichen Fragen: Die archäozoologischen Bestimmung der Knochen ergibt, dass es sich um ein ausgewachsenes, männliches Wollhaarmammut handelt, also um einen stattlichen Bullen. Dank der Radiokarbondatierung (14C-Methode) ist die Zeit bekannt, aus der die Knochen stammen: Der Mammutbulle lebte vor 17’000 Jahren. Der Vergleich des Erbguts (aDNA-Analyse) zeigt, dass der Bulle genetisch nahe mit einem Mammut aus dem Kesslerloch bei Thayngen SH verwandt ist. Isotopen belegen, dass sich das Mammut beinahe ausschliesslich von Gras ernährte.

Gerät für die Radiokarbondatierung, Bild: Labor für Ionenstrahlphysik der ETH-Zürich

Gerät für die Radiokarbondatierung, Bild: Labor für Ionenstrahlphysik der ETH-Zürich

Ähnlich wie vor gut 400 Jahren werden die bedeutendsten Funde ausgestellt, damit die Öffentlichkeit an den Erkenntnissen über unsere Vergangenheit teilhaben kann. Der Mammutfund aus Rotkreuz war sogar Anlass für die Sonderausstellung «Mammuts – Zuger Riesen zeigen Zähne» im Museum für Urgeschichte(n) Zug. Sie ist noch bis am 28. April 2019 zu sehen und präsentiert auch den Originalknochen des «Riesen von Reiden» und die Kopien der Knochen aus Göttingen.

In einem nachgebildeten Forschungslabor können die modernen Methoden nachvollzogen werden. Aber auch zum Eintauchen in die Zeit und das Leben vor 17’000 Jahren bietet die Ausstellung viele interaktive Stationen.

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