«Sträggele» – die gemeinste Hexe der Luzerner Sagenwelt
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Die Luzerner Sagenwelt hat einige unliebsame Gestalten zu bieten. Die wohl schlimmste dürfte die «Sträggele» sein. Nicht nur, weil die Hexe im Bund mit dem Teufel steckt, sondern weil sie einen argen Groll auf Kinder hat.
Ob Seeschlangen oder einäugige Riesen – die Luzerner Sagenwelt bietet zahlreiche Monster, Geister und sonstige Schreckgestalten (zentralplus berichtete). Aber die wohl grausigste unter ihnen ist eine Hexe. Die «Sträggele». Im Kanton Luzern ist die Sträggele Teil vieler Erzählungen. Mal ist sie die Frau des Türsts – besser bekannt als Teufel – und Teil der «Wilden Jagd», die ihr geisterhaftes Unwesen treibt. Mal treibt sie fiesen Schabernack mit Jugendlichen und Wanderern.
Einig ist man sich aber dahingehend, dass man sich die oft als einigermassen unattraktiv beschriebene Dame nicht als Besuch wünscht. Schon gar nicht, wenn im selben Haushalt noch Kinder zugegen sind. Denn auf die hatte es die Sagengestalt besonders gerne abgesehen.
Die Sträggele reisst ein Bein aus – buchstäblich
Das zeigt eine Sage aus Lombach in Escholzmatt. Hier wohnte ein junges Paar, das über Jahre hinweg versuchte, ein Kind zu bekommen. Als es endlich klappte, schien das Familienglück perfekt – bis eines Nachts das Fenster in der Stube aufgerissen wurde. Die Mutter war an jenem Abend alleine und gerade dabei, das kleine Kind zu stillen, als eine grausige Gestalt durch das Fenster in die Stube kroch.
Von Schock und Angst gelähmt, sah die Mutter zu, wie die Sträggele ihr das Kind von der Brust zerrte und ihm die Gliedmassen ausriss. Arme und Beine des Kinds warf die Hexe der Mutter zurück in den Schoss, den restlichen Körper wickelte sie der Sage nach in ihren Schoss und entschwand wieder durch das Fenster in die Nacht.
Die Hexenjagd ist eröffnet
Geschichten wie diese machen verständlich, warum sich in einigen Ortschaften Luzerns eine regelrechte Jagd auf die Sträggele etablierte. Etwa in Triengen oder bei Schüpfheim. Beide Sagen berichten von einem harmlosen «Fangis»-Spiel, bei dem sich ein Kind als Hexe verkleidete und von anderen gefangen werden musste. In beiden mischt bald aber die echte Sträggele mit.
Während die Sage in Schüpfheim als Lehrstück in Demut endet und die Kinder zu Besonnenheit und Tüchtigkeit antreibt, hat jene aus Triengen ein finsteres Ende. Denn einer der Buben, der an der Jagd auf die Hexe teilnahm, sei kurz darauf auf mysteriöse Art ums Leben gekommen.
Eine besonders bekannte Geschichte um die Sträggele hat sich Legenden zufolge in Sempach ereignet. Die Spuren sind bis heute zu sehen.
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Wenn eine Lektion schiefgeht – und zwar so richtig
In Sempach auf dem Meierhof – ein mehrstöckiges Bauernhaus mit Gehöft, das heute noch steht – soll einst eine Familie gewohnt haben. Ruhig sei es hier nie zu- und hergegangen. Aber nicht etwa wegen eines Poltergeists oder Fluchs.
Sondern wegen eines Kindes. Teil der Familie soll nämlich ein kleines Mädchen gewesen sein, das niemand zur Räson bringen konnte. Nicht mit gutem Zureden, nicht mit Strenge und wohl auch nicht mit einem zünftigen «Chlapf as Chessi». «Wenn du nicht ruhig bist und dich benimmst, holt dich die Sträggele», sollen die Eltern immer wieder gedroht haben. Ohne Erfolg.
Fragwürdige Erziehungsmethoden
Also dachte sich die Mutter des querulierenden Schratzes mit dem Knecht eine ganz besondere Lektion aus, um das Mädchen endlich zur Vernunft zu bringen. So plante die Mutter eines Winterabends, das Kind aus dem Fenster zu halten und der Knecht – als garstige Sträggele verkleidet – sollte den Balg mitnehmen und im nahegelegenen Wald wieder freilassen. Die Idee dahinter: Von dieser inszenierten Entführung erschreckt – heute würde man wohl eher «traumatisiert» sagen –, sollte sich das Mädchen von nun an besser betragen.
Als Mutter und Knecht zur Tat schritten, wütete ein schweres Unwetter über Sempach. Regen prasselte gegen die Scheiben, ein frostiger Wind zerrte und rüttelte an den Läden. Das Betzeitläuten war gerade verklungen und wie auf Kommando ging das Geschrei des Mädchens los, weil es nicht ins Bett gehen wollte. Die Mutter packte das Kind, ging zum Fenster, riss es auf und streckte das tobende Goof in die sturmumtoste Nacht hinaus. «Sträggele, hol dieses unartige Kind!», schallte ihre Stimme in die Dunkelheit hinaus. Und zack, packte etwas das schreiende Mädchen und trug es in die Nacht davon.
Zufrieden und in der festen Überzeugung, dem Kind die Flausen effizient und nachhaltig ausgetrieben zu haben, setzte sich die Mutter zurück ans wärmende Feuer und wartete, bis Knecht und Kind zurückkamen. Nur passierte das nicht. Stattdessen pochte wenig später etwas ans Fenster. Wieder und immer wieder und mit jedem Schlag heftiger. Schliesslich stand die Mutter auf, öffnete das Fenster und sah im flackernden Schein des Feuers die schaurige Gestalt der Sträggele – in Form des verkleideten Knechts.
«Reiche mir das Kind», sagte er und streckte die Hände aus. Der Mutter lief es eiskalt den Rücken herunter. «Aber ich habe dir das Kind doch vorhin gegeben!», sagte sie. Da dämmerte es beiden.
Gruselige Überreste
Der Sturm tobte weiter durch die Nacht und erstickte die panischen Schreie der Familie unter grollendem Donnern und peitschenden Regen. Das Kind aber blieb verschollen.
Bis zum nächsten Morgen.
Dann fand die Mutter die blonden Zöpfe ihrer Tochter, abgeschnitten und an die Haustüre genagelt. Das Kleidchen des Mädchens, die Strümpfe und das Hemd fand man in der Umgebung im Schnee verstreut.
Im nahen Mühlital, wo die Sträggele der Legende nach hauste, soll man noch lange Zeit das Schreien und Wimmern eines kleinen Mädchens vernommen haben. Gefunden hat man es aber nie.
Hinweise auf die «Sträggele» existieren bis heute
Die trauernde Mutter hat nach dem Verlust der Tochter vor dem Hof eine Kapelle errichten lassen. So erzählt es die Sage. Eltern von schwierigen Kindern haben seither immer wieder Zöpfe aus Flachs als kleine Opfergabe in die Kapelle gehängt. Wer das nicht glaubt, kann sich heute noch davon überzeugen.
Denn nahe dem Kreisel bei der Eicher- und Kirchbühlstrasse steht die Sträggele-Kapelle noch heute. Im Innern der kleinen Kapelle hängen nebst Heiligenbildern auch Reisigbündel als symbolische Opfergabe. Eine Informationstafel der Stadt Sempach vor der Kapelle erinnert an jene umtriebige Hexe, die nicht nur in den obengenannten Orten, sondern auch in Rickenbach, im Eigenthal und gar im Kanton Zug ihr Unwesen getrieben haben soll (zentralplus berichtete).
Und es vielleicht noch heute tut, wenn man trotzende Kinder im Dezember am Fronfasten-Mittwoch aus dem Fenster streckt.
Von einer Probe aufs Exempel raten wir jedoch ab …
- Website Stadt Sempach
- Schriftlicher Austausch mit André Heinzer, Stadtarchiv Sempach
- «Sagenhaftes Habsburgeramt und Rigigebiet», gesammelt und bearbeitet von Josef Muheim
- «Sagenhaftes Entlebuch», gesammelt und bearbeitet von Frieda Schnyder
- Augenschein vor Ort in Sempach