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Chaos im Luzerner Gesundheitswesen

Spanische Grippe – die politisierte Pandemie

So geordnet und gut organisiert ging es im Notspital für die Unterwaldner Soldaten im St.-Karli-Schulhaus nicht zu. (Soldaten im Militär-Notfallkrankenhaus während der Spanischen Grippe in Kansas, Bild: Wikipedia)

Covid-19 hat die Erinnerung an die Spanische Grippe wieder hochgespült. Wenn heute die Impforganisation kritisiert wird, zeigen die Zustände im Luzerner Notspital St. Karli von 1918, wie Chaos wirklich aussieht. Mehr als hundert Jahre später ist das staatliche Gesundheitswesen wesentlich besser organisiert. Mehr dazu liest Du im Blogpost von Untergrundgänger Delf Bucher.

Spanische Grippe – das Schreckgespenst eilte schon in Nachrichten voraus, bevor die Grippewelle mit ganzer Wucht Luzern im Oktober 1918 erreichte. Schwarz geränderte Todesanzeigen bestimmten wochenlang den Anzeigenteil der Zeitungen. Was auffällt: Vor allem junge Menschen werden von der Grippe dahingerafft.

«Eine besondere Tücke der Grippe ist es, dass ihr meistens junge und tüchtige Leute zum Opfer fallen», schreibt denn auch das «Luzerner Tagblatt». Und ein Lehrer wehklagte im «Vaterland» über den Verlust seines Lieblingsschülers: «Mit frevelhaft wühlerischer Lust stürzt die Grippe sich nur auf das Beste, knickt von den schönen nur die schönsten Blüten.»

Verglichen mit dem Ausmass der Katastrophe berichtet die Lokalpresse eher spärlich und unaufgeregt. In der Stadt Luzern werden am Ende des Jahres 1918 290 Grippeopfer gezählt. Teilweise tragische Szenen haben sich in verschiedenen Familien zugetragen, wo manchmal drei oder vier Familienmitglieder verstarben.

«Wem’s bestimmt ist, den erreicht’s!»

Manche Argumente der heutigen Debatte, ob die staatlichen Sicherheitsmassnahmen zu lasch oder zu hart sind, finden sich schon damals. So kritisierte das sozialdemokratische Organ «Demokrat» die «unverständliche Einschränkung des freien Wortes», da den Sozialisten jedes Recht auf Versammlungen verboten wurde.

Dass diese Anordnung durchaus politisch auf den Gegner zielte, dafür spricht eines: Sonst gab es im Kanton so viele Ausnahmeregelungen, dass von einem Versammlungsverbot im Kanton Luzern wie in anderen Kantonen nicht die Rede sein konnte.

Das «Luzerner Tagblatt» kommentierte dazu: «Und wie steht es mit der Schliessung der Kirchen? Huldigen die Behörden etwa auch dem Fatalismus einer konservativen Gemeindegrösse, die mit der Weisheit tröstete: «Was nützen Massnahmen und Vorbeugungen? Wem’s bestimmt ist, den erreicht’s!"»

«Sanitätskompagnie dringend nötig!»

Anfang November sank der Krankenstand in der Stadt. Doch da rollte bereits die zweite Welle der Grippe an. Dieses Mal erwischte es vor allem die Soldaten. 3’000 Wehrmänner aus Ob- und Nidwalden und aus dem Entlebuch waren während der Zeit des Landesstreiks in den Novemberwochen in Luzern stationiert.

Das eigentlich vorgesehene Notspital St. Karli, das bereits im Sommer als Notstation vorgesehen war, sollte nun die erkrankten Militärs aufnehmen. Aber im St.-Karli-Schulhaus standen noch die Stühle auf den Schulbänken. Schnell musste das Schulinventar beiseite geräumt werden, Strohsäcke wurden in der Turnhalle deponiert, Betten herbeigeschafft. Dennoch fehlte zum Schluss eigentlich alles, was für ein Notspital notwendig war: Nachthemden, Nachttöpfe, Decken und selbst Fiebermesser.

Hilflos agierten die Sanitätssoldaten, Ärzte und Ordensschwestern. In seiner Hilflosigkeit telegrafierte der kurzfristig vom Militär eingezogene Stadtarzt Karl Doepfner an den Territorial-Chefarzt: «Im St.-Karli-Grippespital 360 Grippekranke. Zahl des Sanitätspersonals 26, durchaus ungenügend. Hunderte Kranke noch zu erwarten. Sanitätskompagnie dringend nötig!»

«Opfer der Revolution»

Sein Hilferuf blieb ungehört. Selbst die Luzerner Sanitätskompagnie wurde weggeschickt – mit Marschbefehl Bern als Bestimmungsort.

61 Soldaten verliessen das völlig untaugliche Notspital im Sarg. Unter dumpfen Trommelklängen wurden sie vom Schulhaus zum Bahnhof geleitet. In Nid- und Obwalden, so berichtet das katholische «Nidwaldner Volksblatt», wurden die «wackeren Verteidiger des Vaterlandes gegen revolutionären Aufruhr» mit einer dreifachen Salve als «letzten Ehrengruss der schweizerischen Armee» ins Grab gesenkt.

Von Anfang an war für die Unterwaldner Presse klar: Die Grippetoten in Uniform waren «Opfer der Revolution». Immerhin sollten die Opfer ihren Lohn im Himmelreich erhalten. So schreibt das katholische «Volksblatt» bei einem verstorbenen Soldaten aus Buochs, dass er «wohlausgerüstet mit den Gnadenmitteln unserer hl. Kirche ins bessere Jenseits» hinübergewandert sei.

Erbärmliche hygienische Verhältnisse

Der zweite Schuldige wiederum war der Stadtarzt Doepfner. Ihm wurde angekreidet, dass die Soldaten statt in Hotelbetten auf Strohsäcken lagen, dass die hygienischen Verhältnisse erbärmlich waren und man bei der Benutzung der Toiletten erst durch Kot und Erbrochenes waten musste.

Dass die Soldaten in der Touristenstadt, in der so viele Hotels leer standen, auf Strohsäcken schlafen mussten, wurde als besonderer Skandal empfunden. Nur war es für den armen Doepfner schwierig, neben seinem medizinischen Nonstop-Dienst noch die unwilligen Hoteliers zu mehr Hilfe zu verpflichten.

Trotz des Chaos, das in Luzern geherrscht hat, zeigt heute ein ganz unaufgeregter Blick auf die Statistik: Unter den aufgebotenen Militärs ist die Zahl der Grippeopfer nicht signifikant höher als unter den Toten der nicht zum Militär einberufenen jungen Männer.

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