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Konservative greifen zu paramilitärischer Miliz

Luzerner Bürgerwehr sollte vor Sozialdemokraten schützen

Infolge des Landesstreiks bildet sich in Luzern die «Luzerner Bürgerwehr». (Bild: Schweizerisches Bundesarchiv)

Der Landesstreik bewegt und spaltet im Jahr 1918 die Luzerner Bevölkerung. Einerseits die Arbeiterschaft, die ihre soziale und politische Perspektive verbessern will. Andererseits die Bürgerlich-Konservativen, die ihren Lebensstandard gefährdet sehen. Die «Luzerner Bürgerwehr» wird gegründet.

Der 12. November 1918 ist ein geschichtsträchtiger Tag für die Schweiz. Die Arbeiterschaft ruft zum landesweiten Generalstreik auf. 250’000 Arbeiterinnen legen daher an diesem Tag ihre Beschäftigung nieder. Bereits drei Tage zuvor kommt es zu Proteststreiks in Schweizer Industriezentren.

Ihre Bedingungen zur Arbeitswiederaufnahme listen sie in einem Neun-Punkte-Programm auf. Diese Forderungen beinhalten unter anderem die Einführung des Frauenwahlrechts, den Achtstundentag und die Bildung einer Altersversicherung.

Bewaffnete Miliz in Luzern

Doch der Streik kann die erhoffte Dynamik nicht entfalten. Ein Ultimatum des Bundesrats, gepaart mit der Furcht vor einer Auseinandersetzung mit der Armee, bewegt die Streikleitung am 14. November dazu, diesen offiziell abzublasen und von der Durchsetzung der Forderungen abzusehen.

Diese Mobilmachung der Arbeiterschaft löst in bürgerlichen Kreisen dennoch Angst und Entsetzen aus. Um ihre Interessen zu schützen, sprechen sie über die Bildung von «Bürgerwehren» in Form paramilitärischer Organisationen. Auch in Luzern setzt der Streik den Industriellen und Bürgerlichen zu und bewegt sie zur Gründung einer bewaffneten Miliz.

Luzern im Landesstreik

Die Arbeiterorganisation in Luzern kommt dem Aufruf des Oltner Aktionskomitees OAK nach einer Niederlegung der Arbeit am 9. November nach und beginnt in der Folge die Bestreikung von Fabriken und anderen Unternehmen in Stadt und Kanton. Auch den Trambetrieb erwischt es, was ein Eingreifen der Armee zur Folge hat. Um den öffentlichen Transport dennoch aufrechtzuerhalten, wird der Tramverkehr unter Bewachung gestellt.

Die Kantonsregierung reagiert mit einem Demonstrationsverbot und beginnt aktiv gegen Streikende vorzugehen. Angestellte der SBB werden daher am 13. November vom Platzkommando zum Arbeiten abgeholt. Bei Widerstand drohen Haftstrafen. Die Einsatzkräfte sind zahlenmässig allerdings nicht in der Lage, die Fabriken in der Agglomeration zu besetzen.

Als das OAK in der Nacht auf den 14. November das Ende der Arbeitsniederlegung verkündet, dementiert die Luzerner Streikleitung die Neuigkeiten zuerst, da keine offizielle Kontaktaufnahme aus Olten erfolgt ist. Im Angesicht der Beschäftigungswiederaufnahme in der Folge des Tages steht sie allerdings vor vollendeten Tatsachen.

Forderungen nach einer Bürgerwehr werden laut

Konfrontiert mit dem Schrecken eines nationalen, kollektiven Streiks, beginnen sich verschiedene Organisationen in Kanton und Stadt mit der Bildung von Milizen auseinanderzusetzen, welche im Falle eines Streiks eingesetzt werden sollen.

Besonders der Gewerbeverband der Stadt Luzern prescht voran und veröffentlicht am 12. November einen Aufruf an alle Luzerner. Er fordert die Gründung einer Bürgerwehr, um im Falle eines «Massenstreiks, der leichthin zu einer Revolution ausarten könnte», die Armee zu unterstützen.

Bürgerliche und Industrielle organisieren sich

Eine Vielzahl von Industriebetrieben hat nach dem Ausbruch des Proteststreiks am 9. November Hilfe von der Armee verlangt. Der Mangel an mobilisierten Soldaten macht die Besetzung der angesprochenen Betriebe allerdings unmöglich. Umso grösser ist daher der Wunsch nach einer Luzerner Bürgerwehr, die der Armee in Ausnahmesituationen beistehen kann. Um ihr Anliegen zu unterstreichen, bilden die Industriefabriken in Reaktion auf den Landesstreik einen Verband – die «Luzerner Industrie-Vereinigung» LIV.

Um ihre Fabriken bei einer erneuten Arbeitsniederlegung schützen zu können, fordert die LIV eine Bürgerwehr. Diese soll die Arbeitswilligen nach Ausbruch des Streiks bis zum Eintreffen der Armee schützen. Auch andere bürgerlich-konservative Organisationen verlangen die Bildung eines Luzerner Paramilitärs. So stimmen die Luzerner Ortsgruppen, die «Neue Helvetische Gesellschaft» und die «National- Bürgerliche Vereinigung Kriens» in den vom Luzerner Gewerbeverband vorgegebenen Tenor ein.

«Umsturz von bolschewistischen Agenten»

In ihrer gemeinsamen Argumentationslinie sprechen sie dabei von einem drohenden politischen Umsturz, welcher von bolschewistischen Agenten aus dem Ausland gesteuert werde. Es ist die Rede von «Elementen, die stets bereit sind, Ereignisse im Ausland zu Putschversuchen gegen die bevorstehende Ordnung bei uns auszunützen.» So formuliert es die «Neue Helvetische Gesellschaft» am 14. November in einem Schreiben an den Regierungsrat.

Ihren Ängsten vor sozialen Änderungen, welche die OAK im Neun-Punkte-Programm formuliert hat, setzen sie eine entschlossene Propaganda entgegen. Mithilfe ihrer schrillen Argumentation wollen sie die Luzerner Bevölkerung von der Notwendigkeit einer Bürgerwehr überzeugen.

Konspiratives Treffen im «Falkengarten»

Nach der Streikbeendigung und dem Ausbleiben des vermeintlich politischen Umsturzes droht die Debatte um eine Luzerner Bürgerwehr allerdings einzuschlafen. Der Gewerbeverband verfolgt sein Anliegen jedoch noch immer und ruft am 7. Dezember zu einer Veranstaltung im «Falkengarten» auf. Er lädt verschiedene Luzerner Behörden und Vereine ein, um diese über den Status der ausbleibenden Bürgerwehr zu informieren. Die Teilnehmenden werden mit dem Schreckensszenario einer Revolution konfrontiert, welche bei einem erneuten Streik auszubrechen drohe.

Wie es scheint, ist der Gewerbeverband in seiner Rhetorik erfolgreich, denn der geplante Aufbau einer Bürgerwehr stösst auf ein überzeugtes Publikum, wie die «Luzerner Neuste Nachrichten» LNN am 9. Dezember 1918 berichten.

Gründung der «Luzerner Bürgerwehr»

Nach dem erfolgreichen Treffen im Falkengarten ist sich der Gewerbeverband der überwältigenden Zustimmung bezüglich des Aufbaus einer Bürgerwehr bewusst. Und so kommt es am 27. Dezember zur Gründung der «BWL», der «Luzerner Bürgerwehr», erneut im «Falkengarten».

Bis Weihnachten 1918 verzeichnet die BWL bereits 600 Anmeldungen. An der Gründungsveranstaltung nehmen 250 Mitglieder teil, welche der vorgeschlagenen Organisationsstruktur zustimmen und diverse Ämter per Wahl bestätigen. Die «Bürgerwehr» repräsentiert allerdings nur männliche Bewohner der Stadt. Keine einzige Frau findet sich in ihren Reihen.

Anerkennung durch die Stadtregierung

Um die Bürgerwehr gesetzlich zu legitimieren, fehlt der Organisationsleitung noch ein behördlicher Entscheid. Dafür lässt sie dem Regierungsrat Ende Dezember 1918 ihr Organisationsreglement zur Bestätigung zukommen. Der Entscheid lässt allerdings auf sich warten. Ende Februar 1919 bestätigt der Regierungsrat schliesslich die Legalität der BWL. Er beanstandet aber gewisse Paragrafen des Organisationsstatuts.

So fordert die Bürgerwehr die Bewaffnung und Versicherung der Mitglieder vonseiten der Kantonsbehörden. Besonders die geforderte Versicherung der Mitglieder kommt für den Regierungsrat nicht infrage. Ohne die Versicherung aller Mitglieder lässt sich jedoch die Anerkennung vonseiten des Regierungsrates nicht vollziehen. Und ohne Anerkennung lässt sich die Bewaffnung der Miliz nicht durchführen. So steht und fällt die Anerkennung der Organisation mit der Versicherung ihrer Mitglieder.

Bewaffnung der «Bürgerwehr»

Die Organisationsleitung fasst deshalb den Entschluss, sich selbst zu versichern, wodurch ihre «Bürgerwehr» offiziell bestätigt wird. Nun steht auch einer Bewaffnung nichts mehr im Wege. Doch diese gestaltet sich komplizierter, als von der Organisationskommission erwartet. Denn die Bewaffnung vonseiten der Armee ist an bestimmte Bedingungen geknüpft.

Fast kommt die «Bürgerwehr» zum Einsatz

Die ausgestellten Feuerwaffen werden von der BWL allerdings nie gebraucht. Nur ein Mal wird die Bürgerwehr in Bereitschaft versetzt. Am 7. September 1919 findet in Luzern eine Kundgebung der «sozialistischen Jugendorganisation» statt. Aus Angst vor möglichen Ausschreitungen, welche das Militär nicht mehr unter Kontrolle bringen könnte, entscheiden sich Regierungsvertreter, die Bürgerwehr in Bereitschaft zu versetzen.

Es wird zum ersten – und letzten – Mal ein Einsatzplan ausgetüftelt, welcher eine Mobilisierung aller Mitglieder vorsieht. Am Vortag der Kundgebung erlässt der Regierungsrat ein Versammlungsverbot. Sollte dieses gebrochen werden und die Polizei und das Militär in Folge überfordert sein, würde die Stunde Miliz schlagen. Doch dazu kommt es nicht. Das Versammlungsverbot wird eingehalten und der Bürgerwehr wird jegliche Aktion gegen «bolschewistische Elemente» verwehrt.

Organisatorisches Chaos und der Untergang in die Irrelevanz

Mit fortschreitender Dauer geht die BWL im organisatorischen Chaos unter. Aus Dokumenten wie Briefen und Protokollen geht hervor, dass viele Projekte der Bürgerwehr am mangelnden Engagement der Mitglieder scheitern. Die verteilten Aufgaben werden oftmals trotz wiederholter Mahnungen und Erinnerungen nicht ausgeführt und verhindern so ein organisches Wachstum der Organisation. Auch die Bewaffnung der Mitglieder funktioniert nicht wie geplant.

Die Mehrheit erhält nie eine Waffe der Armee, wodurch sie sich oft selbst bewaffnen muss. Ebenso gestaltet sich die finanzielle Versorgung der Organisation schwierig. Kosten fallen unter anderem für die Veranstaltung von Versammlungen, die Beschaffung von Ausrüstungen und besonders für die Versicherungsgebühren an. Die Spendengelder, welche anfangs noch beträchtlichen Summen entsprechen, versiegen zunehmend.

Gewaltvolle Verteidigung der Identität

Bis Ende 1921 hat mehr als ein Drittel aller Mitglieder die Bürgerwehr verlassen. In den Folgejahren verliert die BWL zusehends an Einfluss und Mitgliedern, bis sie dann 1928 komplett aufgelöst wird. Was bleibt, ist ein Dokument der bürgerlichen Ängste. Zusammengeschweisst durch Hass auf die Arbeiterschaft und den sich entwickelnden Sozialismus vereinen sich die Luzerner Gutbürger. Getarnt unter einem Mantel der vermeintlichen Zivilcourage, ermöglichen sie sich die – notfalls gewaltvolle – Verteidigung ihrer Identität.

Verwendete Quellen
  • Schelbert, Joe (1985): Der Landesstreik vom November 1918 in der Region Luzern. Seine Vorgeschichte, sein Verlauf und seine Wirkung, Luzern.
  • Schneider, Oliver (2013): Von Knüppelgardisten, Revolutionshelden und Radaubrüdern. Die Luzerner Bürgerwehren nach dem Landesstreik 1918. In: Historische Gesellschaft Luzern. Geschichte, Kultur Gesellschaft.
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1 Kommentar
  • Profilfoto von Hannes Estermann
    Hannes Estermann, 08.07.2022, 21:57 Uhr

    Herrlicher Beitrag !
    Aus heutiger, rein pers.Sicht gesehen,hatte diese BLS «Sturmtruppe»
    eher die Qualität einer unausgegorenen Stadt.luzernischen Führungs Köpenikade.
    Zum Foto…ganz links,immerhin wurde der Kochfurgon rege benützt.
    Besten dank für den Beitrag !

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