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Ausgereiftes Netzwerk von Luzern aus gesteuert

Luzern beherbergte einst einen «Meisterspion»

Rudolf Rössler (vorne) und Xaver Schnieper werden angeklagt, während des 2. Weltkrieges einen verbotenen militärischen Nachrichtendienst in der Schweiz betrieben zu haben. (Bild: RDB BY DUKAS)

Die Flucht vor den kriminellen Machenschaften der Nazis bringt Rudolf Rössler in den 1930er-Jahren nach Luzern. Von dort aus organisiert er seinen Widerstand: in Form eines ausgereiften Spionagenetzwerks.

Rudolf Rössler flüchtet 1934 in die Schweiz nach Luzern. Ein Jahr zuvor, im Juni 1933, wird ihm seine Lebensgrundlage genommen. Seine umfassenden Tätigkeiten am christlich-deutschen «Bühnenvolksbund» in Berlin muss er unter Druck aufgeben.

Am 27. Mai 1933 wird gegen Rössler Strafanzeige gestellt. Man eröffnet einen konstruierten Fall gegen ihn und wirft ihm «Unterschlagung, Betrug, Bilanzvergehen, Konkursvergehen und handelsrechtliche Untreue» vor. Wirklich handfest ist keine dieser Anschuldigungen. Doch sie dienen als Mittel zum Zweck. In Presse und Rundfunk wird zudem eine offene Propaganda gegen ihn gestreut. Zur Einschüchterung erscheinen SA-Kommandos in seinem Büro.

Und so entscheiden Rudolf Rössler und seine Frau Olga sich schliesslich, das «Deutsche Reich» zu verlassen.

Ein Freund aus Luzern und «Vita Nova»

Rössler greift hierfür auf eine Bekanntschaft aus Luzern zurück. 1933 hat er den jungen Studenten Xaver Schnieper in Berlin kennengelernt. Als Fluchthelfer kann dieser dem Ehepaar beistehen und ihre Übersiedlung nach Luzern organisieren. Die beiden verbindet eine Freundschaft, welche sich in der Folge zu einer konspirativen Partnerschaft ausweitet.

Kaum in Luzern angekommen, eröffnet Rössler 1934 den «Vita Nova»-Verlag. Mithilfe von Schnieper und seiner lokalen Kontakte gelingt eine Finanzierung. Bereits in Berlin ist Rössler als Verleger tätig gewesen. So hat er vor der Gleichschaltung 1933 die Theaterzeitungen «Das Nationaltheater» und die «Deutschen Bühnenblätter» herausgegeben.

Bei «Vita Nova» publiziert er nun Bücher von exilierten Antifaschisten und «entartete» Literatur. Geprägt ist der Verlag von einer christlich-bürgerlichen Haltung, mit dem Faschismus als Feindbild.

Aufbau des Informationsnetzwerks

Sein Luzerner Freund Xaver Schnieper kehrt 1936 von seinem Studium in Wien zurück. In der Folgezeit vertieft sich die Beziehung zu Rössler. Schnieper ist Mitherausgeber des antifaschistischen Blatts «Entscheidung», in welchem Rössler ab 1936 als Mitarbeiter ebenfalls schreibt.

An Ostern 1939 macht Xaver Schnieper eine folgenreiche Bekanntschaft. In einem Hotel in Lugano lernt er Hans Hausamman kennen. Offiziell stellt Hausamman sich als Fotograf vor. Fotograf ist er zwar, aber seine Hauptbeschäftigung ist eine andere. Seit 1935 ist er auf die Beschaffung von militärischen Nachrichten spezialisiert, als Major für den Schweizer Nachrichtendienst. In dieser Funktion beschafft er Meldungen, welche unter anderem an die Alliierten weitergegeben werden. Sein Büro befindet sich in der Villa Stutz in St. Niklausen.

Die beiden kommen ins Gespräch. Schnell bemerkt Schnieper, dass er einen Bekannten in Wien habe, welcher Hausamman bei Bedarf Nachrichten weitergeben könne. Die Rede ist von Franz Wallner. Hausamman ist interessiert und lässt den Kontakt zu Wallner herstellen. Daraufhin reist Hausamann nach Wien.

Nachrichtendienstnetz in Luzern

Nach der Kontaktaufnahme mit Wallner in Wien ist Hausamman überzeugt, einen passenden Mitarbeiter gefunden zu haben. Wallner kommt also nach Luzern. Fortan wohnt er bei Xaver Schnieper und seiner Frau in der Rebhalde 3.

Doch hier hört die Vernetzung Schniepers nicht auf. Wohlwissend, dass Rudolf Rössler im Ersten Weltkrieg gedient hat und Kontakte zu Offizieren im Dritten Reich besitzt, beginnt er, Rössler für eine Tätigkeit im Büro Hausamman anzuwerben. Rössler erklärt sich einverstanden.

Das Netzwerk auf Schweizer Seite ist nun also aufgebaut. Strukturell funktioniert es folgendermassen: Rössler holt Informationen von seinen Kontakten im Oberkommando der Wehrmacht ein und übergibt sie dann Wallner, welchen er in der Zwischenzeit auch persönlich kennengelernt hat. Wallner leitet die Nachrichten dann direkt an Hausamman weiter.

Anwerbung deutscher Spione an der Landesausstellung

Das Nachrichtendienstnetz auf Schweizer Seite ist also gespannt. Was jetzt noch fehlt, sind zuverlässige deutsche Informanten. Nun ist Rössler gefragt. Um eine unauffällige Kontaktaufnahme zu gewährleisten, verabredet er sich wenige Wochen vor Kriegsausbruch mit zwei deutschen Stabsoffizieren der Wehrmacht auf der Landesausstellung in Zürich. Jeweils einzeln trifft er sich mit ihnen, um mögliche Risiken zu minimieren.

Für seine Treffen wählt er gut besuchte Restaurants, in welchen ein Gespräch unverdächtig erscheint. Dort präsentiert er sein Vorhaben. Mit Erfolg. Die beiden Offiziere sind einverstanden, sensible Informationen weiterzuleiten. In den nächsten Jahren baut Rössler sein Netz weiter aus. Er verschafft sich eine unbekannte Zahl an Informanten, welche ihm eine Menge Material liefern. Verschiedene Quellen gehen von bis zu 100 Meldungen monatlich aus.

Misstrauen der Alliierten

Nach dem Fiasko von 1942, bei welchem bekannt geworden ist, dass ein Schweizer Nazi den US-Militärattaché ausspioniert hat, ändert sich die Lage auch für Rössler und sein Nachrichtennetz.

Die Alliierten betrachten die Meldungen aus der Schweiz nun äusserst misstrauisch. Zu gross ist die Gefahr, potenziellen Desinformationen Glauben zu schenken. Rössler erkennt dieses Problem. Um seine Informationen dennoch gewinnbringend einzusetzen, wendet er sich an andere Abnehmer.

Informationsbeschaffung für den sowjetischen Geheimdienst

Im Zuge seiner Tätigkeit als Verleger des «Vita Nova»-Verlags lernt Rössler 1939 Christian Schneider kennen, den er als Verlagsmitarbeiter einstellt. In der Folge baut dieser eine Zweigstelle des Verlags in Genf auf. Auch Rössler und Schneider verbindet die Abneigung gegenüber dem Nationalsozialismus. Im Vertrauen präsentiert Rössler einige seiner geheimen Meldungen. Schneider nimmt diese zur Kenntnis.

Aus einer früheren Anstellung beim «Internationalen Arbeitsamt» in Genf steht Schneider noch in Kontakt mit einer ehemaligen Kollegin namens Rachel Dübendorfer. Sie und ihr Partner Paul Böttcher sind überzeugte Kommunisten, welche vor der faschistischen Machtergreifung in die Schweiz geflohen sind. Wohlwissend, dass Dübendorfer und Böttcher Informationen an die Sowjetunion weitergeben, erzählt Schneider von Rössler und seinem Netzwerk.

Einige Monate später wendet sich Böttcher an Schneider. Rösslers Informationen seien von grossem Interesse für den sowjetischen Militärnachrichtendienst. Er bittet Schneider, den Kontakt zu Rössler herzustellen. Rössler stimmt überein und gibt die Informationen via Schneider an Böttcher und Dübendorfer weiter.

Die rote Drei

Im Herbst 1942 intensiviert sich die Zusammenarbeit. Mit Schneider als Verbindungsmann funktioniert die Weitergabe der Informationen. Dübendorfer überbringt die Meldungen dann Alexander Rado, dem Leiter des sowjetischen Nachrichtendiensts in der Schweiz. Rösslers Informationen zeigen sich kriegsentscheidend. Es werden Lageberichte und Dokumente betreffend der Truppenstärke der Wehrmacht in Stalingrad weitergegeben.

Enttarnung und Verurteilung

Die rote Zelle in Genf wird 1943 von der Schweizer Bundespolizei enttarnt. Der Hinweis kommt aus Deutschland. Mitarbeiter des deutschen Geheimdiensts haben von der Entschlüsselung der Genfer Funksprüche nach Moskau erfahren. Um den Anschein der Neutralität zu wahren, muss der Bund handeln.

Dübendorfer, Böttcher und Schneider werden festgenommen. Auch Rössler erwischt es. Sein Name taucht in einem der Funkberichte auf. 1944 wird er zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Damit nimmt auch seine Tätigkeit als Informationsbeschaffer für das Büro Hausamman ein Ende.

Nachkriegszeit

Nach dem Ende des Krieges nimmt Rössler seine Tätigkeit als Verleger von «Vita Nova» wieder auf. Doch der Verlag befindet sich in finanziellen Nöten. Rössler braucht Geld und wird vom tschechischen Geheimdienst angeworben.

Er liefert Analysen über die Truppenstärke der Alliierten in Deutschland und Tätigkeiten der Besatzungsmächte in Deutschland. Gemeinsam mit seinem alten Freund Xaver Schnieper liefert er Berichte nach Tschechien. 1953 fliegen ihre Aktivitäten jedoch auf. Beide müssen sich einer Untersuchung stellen.

Der verfemte Spion

Rösslers Einsatz für den Schweizer Geheimdienst wirkt mildernd auf seine Haftstrafe. Er wird zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, Schnieper zu neun Monaten. Nach dem Absitzen seiner Strafe ist Rössler als freier Journalist tätig. Beim sozialdemokratischen Blatt «Freie Innerschweiz» verfasst er anonyme Beiträge. Durch seine geheimdienstliche Rolle wird er von der Luzerner Bevölkerung «verfemt» und als «Verräter» wahrgenommen.

Sein Beitrag zur Niederschlagung Nazideutschlands wird dabei wenig berücksichtigt. Doch es gibt Ausnahmen: Nach seinem Tod 1958 schaltet der Chefredakteur Dr. Alfred Wolf in der «Freien Innerschweiz» einen Nachruf. In diesem rühmt er seinen Kollegen und würdigt dessen Beitrag im Kampf gegen den Faschismus. Er beschreibt ihn gar als «Meisterspion». Eine Bezeichnung, gegen die sich Rudolf Rössler zeitlebens gewehrt hat.

Verwendete Quellen
  • Kamber, Peter: «Die Macht der Gesinnung» und «das romantische Ich»: Rudolf Roessler und der deutsche Widerstand 1939-1944. In: Exil. Forschung. Erkenntnisse. Ergebnisse. 2011.
  • Kamber, Peter (2010): Geheime Agentin. Berlin.
  • Bonjour, Edgar (1976): Geschichte der Schweizer Neutralität. Basel.
  • Rings, Werner (1990): Schweiz im Krieg. Ascona.
  • Durzak, Manfred (Hrsg.)(1973): Die deutsche Exilliteratur 1933-1945. Stuttgart.
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