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«Vorehelicher Beischlaf»: Männer genossen Immunität

Lebenslang im Halseisen: Strafe für eine Ägererin

10 Jahre musste die verurteilte Frau in einem solchen Halseisen verbleiben. (Bild: Symbolbild Adobe Stock)

Die Heirat als heilige Institution des Katholizismus ist im Ägerital des frühen 19. Jahrhunderts Programm. Doch in ihrer «heiligen» Mission zerstört sie Menschenleben. So wurde beispielsweise die junge Mutter Verena Letter zu einer lebenslangen Haftstrafe am Halseisen verurteilt. Eine Geschichte von Verzweiflung und Privilegien.

Als Getrud Meier im August 1720 ihren Mann Franz Heinrich heiratet, schwelgt das Paar im Glück. Sie freuen sich auf ihre gemeinsame Zukunft. Wenige Monate später gebärt Gertrud Meier ein kleines Mädchen. Das Glück scheint perfekt.

Was sie in den kommenden Monaten allerdings erwartet, ist dem frisch vermählten Paar noch nicht bewusst. Sie hatten sich nach den geltenden Gesetzen nämlich strafbar gemacht. Und dieser Gesetzesverstoss wird hart geahndet. Sie werden mit einer Haftstrafe belegt, welche sie im Oberägerer «Wasserkeller» absitzen müssen. Ihr Vergehen: der «voreheliche Beischlaf».

Das sechste Gebot

Was nach heutigem Verständnis komplett unbegreiflich ist, hatte in den katholischen Regionen der Zentralschweiz Tradition. Wirklich kriminalisiert werden die vorehelichen Liebschaften erst im 16. Jahrhundert, durch die Durchsetzung der kirchlichen Heirat. Nachdem der Katholizismus auf dem Konzil von Trient die Ehe als Sakrament definiert, ist sie auch für die juristischen Fragen zuständig. Die Rechtszuständigkeit liegt also auf Ebene der katholischen Kirche.

Und dementsprechend wird das junge Paar auch verurteilt. «Vorehelicher Beischlaf» heisst es in der Anklageschrift. Damit verstossen sie indirekt gegen das sechste Gebot, welches den Ehebruch bestraft. Durch die Verheimlichung ihrer Schwangerschaft ist die Legitimität ihrer Verbindung infrage gestellt. Der Ehebruch besteht in diesem Falle darin, dass die Ehe auf unrechtmässiger Basis geschlossen wurde. Die verschwiegene Schwangerschaft ist der Inhalt dieses Vorwurfs.

Doch Getrud Meier und Franz Heinrich haben Glück. Ihr Gnadengesuch wird berücksichtigt und sie werden «nur» mit einem Beichtgang und der Verwahrung im «Wasserkeller» bestraft. Wie lange sie dort einzusitzen haben und was mit ihrer Tochter während dieser Zeit passiert, ist unbekannt.

Die junge Mutter Verena Letter

Doch wurde diese Form des Ehebruchs nicht immer derart milde geahndet, wie der Fall von Verena Letter aufzeigt.

Als 24-Jährige gebärt sie im Juli 1810 ein Kind. Der Vater wird als grober Kerl beschrieben, dem auch schon eine Vergewaltigung vorgeworfen wird. Nachdem er über seine Vaterschaft informiert worden ist, flieht er vor der bevorstehenden Verantwortung in den französischen Kriegsdienst. Mit dieser Flucht entreisst er sich auch der Gerichtsbarkeit, welche sich jetzt allein auf Verena Letter beschränkt.

Da es das geltende Gesetz nicht zulässt, dass sich Verena Letter als Alleinerziehende um ihr Kind kümmert, wird es ihr weggenommen. Ihr Kind platziert die Gemeinde in der Familie des geflüchteten Vaters. Es stirbt wenige Monate nach der Trennung von der Mutter.

Verena Letter, die von den traumatischen Ereignissen tief gezeichnet ist, wird jetzt auch noch von der Gemeinde für ihr «Vergehen» bestraft. Das sogenannte «Vaterschaftsgericht», welches aus Mitgliedern des Gemeinderats besteht, verurteilt Verena Letter zu einer Strafe, welche die öffentliche Demütigung zum Ziel hat. Ein ganzes Jahr lang wird sie dazu verdammt, die Messe zu besuchen und jeweils am gleichen Platz zu stehen. Ziel dieser Zurschaustellung ist die absolute Erniedrigung.

Akuter Frauenhass erfasst Oberägeri

Hier zeigen sich die patriarchalischen Strukturen der ländlichen Schweizer Peripherie am Anfang des 19. Jahrhunderts. Ein Gericht, allein aus Männern bestehend, verurteilt eine Frau für ihre Schwangerschaft, ohne auch nur den Versuch zu wagen, den biologischen Erzeuger juristisch zu belangen. Dieser unverhohlene Hass wird Verena Letter den Rest ihres Lebens begleiten. Denn ihre Leidgeschichte beginnt erst.

Die Situation spitzt sich aufgrund ihrer zweiten Schwangerschaft zu, welche sich ein Jahr nach der ersten ereignet. Über den Vater ist nichts bekannt. Das Kind scheint überlebt zu haben.

Doch ist auch diese Verbindung eine uneheliche und muss nach den geltenden Gesetzen in Oberägeri bestraft werden. Als Strafe wird ihr auferlegt, jeden Tag eine Stunde in einem Busskleid bei der örtlichen Kirche zu stehen. Hier zeigt sich erneut, dass die Gemeinde ihr Delikt öffentlich bestrafen will, wohl aus der Prämisse heraus, ein Exempel statuieren zu können. Sie kommt also nochmal glimpflich davon, zumindest ohne körperliche Schäden.

Wie sich bald herausstellt, zum letzten Mal.

Vollendete Tatsachen

Ihr Misstrauen in die Gemeinde ist nach diesen beiden Vorfällen verständlicherweise deutlich ausgeprägt. Dieses fehlende Vertrauen führt direkt zu Verena Letters nächster Straftat, die ihr restliches Leben bestimmen soll.

Ungefähr zehn Jahre nach ihrer letzten Schwangerschaft, im Sommer 1819, bemerkt sie, dass sie erneut ein Kind in sich trägt. Sich der Konsequenzen durchaus bewusst, verheimlicht sie ihre Schwangerschaft und versucht, ihr Kind abzutreiben. Doch ihre Versuche bleiben erfolglos. Ihre Verzweiflung wächst. Ihr Partner, der Gerber Domini Iten, bekräftigt sie in ihrem Vorhaben.

Auch er hat Angst vor einer Bestrafung aufgrund des Ehebruchs. Dementsprechend überzeugt er Verena Letter, seine Vaterschaft zu verheimlichen. So muss sie die kommenden Ereignisse alleine durchstehen.

Am Rande der Verzweiflung

In der Nacht auf den 2. März 1820 bringt sie einen gesunden Jungen zur Welt. Aufgrund ihrer Angst, entdeckt zu werden, gebärt sie ohne Hilfe im Bett ihrer Schwester, bei der sie unterkommt. Aus Furcht vor Bestrafung und öffentlicher Erniedrigung trifft sie nun einen folgenreichen Entschluss. Vom Gemeinderat und seiner frauenfeindlichen Politik derart in die Enge gedrängt, sieht sie nur noch einen Ausweg.

Sie entscheidet sich, ihren Sohn zu töten.

Nach der Tat wickelt sie ihren leblosen Sohn in ein paar Lumpen und legt ihn in die Fluten der Lorze. Doch die Tat fällt auf und sie wird vor Gericht gebracht. Sie ist den Behörden keine Unbekannte, aufgrund ihres wiederholten «Ehebruchs». Nach einem scharfen Verhör gesteht sie die Tat und wird vom zuständigen Gericht zu einer lebenslangen Haftstrafe am Halseisen verurteilt. Der Vater des verstorbenen Kindes wird natürlich nicht belangt. Die Schuldzuweisung trifft allein Verena Letter.

Nachdem sie zehn Jahre ihres Lebens ans Halseisen gekettet ist, wird sie 1830 von der Tortur befreit. Ihr Zustand hat sich in den Jahren der Gefangenschaft derart verschlechtert, dass sie wenige Monate nach der Freilassung verstirbt. Im Sammelband «Ägerital – seine Geschichte» wird am Ende ihrer Geschichte deutlich hervorgehoben, wie sie stirbt. Nämlich «in summa miseria», im grössten Elend.

Vergiftete Ansichten

Letztendlich ist Verena Letter eine junge Frau, welche durch fragwürdige Ehegesetze in eine kriminelle Existenz gedrängt wird. Durch die anhaltende Drangsalierung und Erniedrigung findet sie sich in einer prekären Situation wieder, die sie aus der Verzweiflung heraus beantwortet. Auffällig ist die juristische Ignoranz, mit welcher ihre Sexualpartner fortführend übersehen werden. Es erhärtet sich wiederholt der Verdacht, dass Männer im Oberägeri des 19. Jahrhunderts strafrechtliche Immunität geniessen.

In einer von Männern dominierten Welt muss sie den Sündenbock mimen. Kaum erstaunlich ist auch ihre letzte Prozessaussage, welche repräsentativ für ihre Lebensgeschichte und für jene vieler Leidensgenossinnen steht. Verena Letter versichert dem Gericht in ihrer Aussage, dass sie in ihrem «ganzen Leben nichts mehr mit dem Mannevolk zu thun haben» wolle.

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Ob Hintergründe zu alten Gebäuden, Geschichten zu Plätzen, stadtbekannte Personen, bedeutende Ereignisse oder der Wandel von Stadtteilen – im «Damals»-Blog werden historische Veränderungen und Gegebenheiten thematisiert.
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2 Kommentare
  • Profilfoto von David
    David, 26.11.2023, 14:36 Uhr

    Ich finde es immer sehr schwach, wenn man aus der heutigen, Situation heraus (Wohlstand und Sozialversicherung) mit dem Finger überheblich auf die vergangenen Generationen zeigt. Wenn ich es richtig verstehe verteidigt der Artikel eine Kindsmörderin und betont nur andauernd, dass die Männer Schuld seien. Wieviele uneheliche Kinder (die elend verhungert wären) hätte es damals wohl gegeben, wenn aussereheliche Elternschaft damals noch nicht bestraft worden wäre? Damals gab es nun halt mal noch keine AHV und Wittwenrente.

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  • Profilfoto von Meier Rumi
    Meier Rumi, 25.07.2021, 08:30 Uhr

    Die katholische Kirche ist und bleibt eine große geduldete Sekte, einfach krank auch heute noch.

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