Ein Mohrenkopf als Luzerner Stadtpatron?
Der Heilige Mauritius war der erste Luzerner Stadtpatron. Was dieser Märtyrer mit der heutigen Debatte um den «Mohrenkopf» zu tun hat und welche Überlegungen dazu auch noch angestellt werden können, schreibt der Luzerner Jurist Loris Fabrizio Mainardi in seinem Gastbeitrag.
Die tödliche Polizeigewalt von Minneapolis hat einerseits – und zu Recht – erneut das Feuerhorn des nimmer gelöschten Rassenglimmbrands angestossen, andererseits – und fragwürdig – zu neuen Wellen politisch korrekter Säuberungsaktionen geführt. Als deren prominentestes Opfer darf hierzulande jenes Süsswarenerzeugnis gelten, gegen dessen erzwungene Wiedertaufe als «Schokokuss» sich der Hersteller zu wehren erdreistete.
Für manche durch den Fall Floyd Aufgebrachte lag wohl nur allzu nahe, den Traditionsfabrikanten und dessen treue Kundschaft als mehr oder weniger gutbürgerlich kaschierte Rassisten zu brandmarken. Spätestens seit Wittgenstein gilt es zu bedenken: «Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.» Tatsächlich erscheint der dunkelhäutige Afrikaner schon im Althochdeutschen des 8. Jahrhunderts – und somit ebenso vieler vor der Kolonialzeit – als «mōr», angelehnt an lateinisch «maurus», Bewohner der nordafrikanischen Provinz – respektive griechisch «maurós», braun, schwarz.
Der Heilige Mauritius war der erste Patron des um 768 gegründeten Benediktinerklosters Luzern, bevor dieses im 12. Jahrhundert der elsässischen Abtei Murbach unterstellt wurde und der fränkische Heilige Leodegar zum Luzerner Hauptpatron aufstieg. Mauritius war Anführer einer Legion aus dem ägyptischen Theben, die aus Christen bestand und um das Jahr 290 im heutigen Saint-Maurice im Wallis stationiert war. Weil er und seine Gefährten sich weder an Christen-Verfolgungsaktionen beteiligen noch die römischen Götter anbeten wollten, wurden sie nach vorausgegangener Drohung des Kaisers Mann um Mann geköpft.
Bereits das biblische Hohelied liess die legendär schöne, dunkelhäutige Königin von Saba von sich singen: «nigra sum, sed formosa»; ihr neutestamentliches Ebenbild wurde seit der Romanik und nicht nur in Einsiedeln als «Schwarze Madonna» verehrt, genauso wie der «Mohrenkönig» der Heiligen Drei Könige – und eben der Märtyrer und Luzerner Stadtpatron Mauritius aus dem ägyptischen Theben, dessen «Mohrenkopf» bis heute die Wappen unzähliger Patronatsgemeinden in der Schweiz und ganz Europa ziert.
Diese Zusammenhänge verdeutlichen, dass weder die Namen der Luzerner Patrizierfamilie Mohr, der italienischen «Birra Moretti», des Mailänder Renaissancefürsten Lodovico Sforza «detto il Moro» oder die Bewohner des Solothurner «Schwarzbubenlandes» in rassistischer Konnotation «durch den Kakao gezogen» werden konnten.
Der Mohrenkopf – ein alter Zopf?
Wie aber steht es nun um das umstrittene Eiweissschaumerzeugnis mit Schokoladeüberzug? Auch wenn, wie gemeinhin kolportiert, ein Leipziger Konditor um 1890 dem preussischen Kaiser Wilhelm II. damit zu dessen Kolonialeroberungen gratulieren wollte – während die Franzosen derweil ihre Têtes de Nègre genossen –, finden sich die «Chocolate-Krapfen mit geschaumter Milch gefüllt» schon ein Jahrhundert früher in der bereits damaligen Hauptstadt der Zuckerbäckerei: Wien. Zwar werden sie dort seit 1926 – und politisch auch nicht viel korrekter – als «Schwedenbomben» verkauft, nachdem ein entsprechender Skandinavier ihre industrielle Massenproduktion entwickelte.
Doch der kulinarische Bruder des Mohrenkopfs, der «Mohr im Hemd», wird noch heute in jedem Wiener Kaffeehaus mit viel Schlagobers serviert. In welchem historischen Kontext diese Möhlspeisen im Wien des späten 18. Jahrhunderts auf die Tische kamen, vermag nichts eindrücklicher zu verdeutlichen als die Geschichte des «fürstlichen Mohren» Angelo Soliman. 1726 in Nigeria als Prinz geboren, wurde er als Siebenjähriger von rivalisierenden Stämmen entführt und gegen ein Pferd an europäische Händler eingetauscht.
Ein Mensch, abgehäutet, ausgestopft und ausgestellt
In Messina erhielt er neben der christlichen Taufe auch eine Schulausbildung und beeindruckte den österreichischen Gouverneur Fürst Lobkowitz, dem er als oberster Leibdiener nach Wien folgte – und im Türkenkrieg das Leben rettete. Im Hause der Fürsten von Liechtenstein stieg der gebildete Soliman, der fünf Sprachen beherrschte, bis zum Prinzenerzieher auf. Als schneller Denker gewann er bei Schachturnieren ungeheure Preisgelder, war – wie Haydn und Mozart – Mitglied der Freimaurerloge «Zur wahren Eintracht» und mit dem aufklärerischen Kaiser Joseph II. persönlich bekannt. Als Soliman 1796 starb, geschah jedoch das Unerhörte:
Er wurde «trotz lebhaften, durch ein energisches Schreiben des Erzbischofs von Wien unterstützten Protestes der Familie, der man die Leiche abgelistet hatte, von dem Bildhauer Franz Thaler abgehäutet, ausgestopft und den kaiserlichen Sammlungen als Repräsentant des Menschengeschlechtes einverleibt, wo er in Gesellschaft eines Wasserschweines und mehrerer Sumpfvögel der frivolen Neugierde eines schaulustigen Publikums preisgegeben wurde.»
Über die Frage, wie es dazu kam, streiten Historiker bis heute: Entweder hatte der Freimaurer und Freidenker Soliman, wie prominent etwas später der «Vater des Utilitarismus», Jeremy Bentham, über die Konvention seiner Zeit hinausdenkend seine posthume Ausstellung selbst angeordnet – und sich als naturalistisches Denkmal für immer über alle Anfälle von Fremdheitswahn gestellt.
Oder aber die Präsentation erfolgte auf direktes Betreiben des neuen, aber politisch reaktionären Kaisers Franz II., für den Soliman das ihm verhasste aufklärerische Wien verkörpert hatte und nun in einem dezidiert rassistischen, kolonialistischen Akt vom vernünftigen Menschen wieder zum tierischen Objekt gemacht werden sollte.
Wörter im Fluss von sich wandelnder Bedeutung
Das wechselvolle Leben und das umstrittene wie mehrdeutige Schicksal der Leiche des «fürstlichen Mohren» verdeutlichen, dass Geschichte und Überlieferung komplex, ihrerseits wandelbar und bisweilen auch widersprüchlich ausfallen. Die historisch gebotene Differenzierung sollte deshalb davor bewahren, «Mohrenköpfe» – nachdem sie während der letzten Jahrzehnte unbekümmert Kindergeburtstage versüssten – apodiktisch mit kolonialer und postkolonialer Unterdrückung in Verbindung bringen und aus Regalen, Wappen und Wörterbüchern verbannen zu müssen.
Doch zu genau solchem sehen sich, aus je unterschiedlichen Motiven, braune Rassisten und orange Grossverteiler berufen. Die sich in bester politischer Absicht als sprachliche Volksgerichtshöfe aufspielenden «Creative Offices» entbehren freilich keiner Ironie: Die Nazis begingen ihre Verbrechen nicht nur als Rassen-, sondern auch als Sprachhygieniker und ernannten, den Wortschatz von Nichtgermanischem reinigend, die Banane zur Schlauchfrucht und die Schokolade zum Wonnekleister. Eine gut gemeinte, aber schlecht durchdachte Sprachpolizei langt heute nun ausgerechnet wieder nach jenen giftigen Reinigungsmitteln, und fast bliebe verborgen, dass sie sich zunehmend ungeahndet am hergebrachten Wortschatz vergreift:
Wahrhaft «dämlich», wer letzteres von «Dame» hergeleitet glaubt und darauf ebenso verzichtet wie – eines geeigneten weiblichen Pendants nunmehr beraubt – auf «herrlich». Und wenn die Nutzenden von Binnen-I und Gender-* verkennen, dass das Deutsche, anders als das Englische, keine Sexus-, sondern eine Genus-Sprache ist, begehen sie, aus unbegründeter Angst vor Diskriminierung, sprachliche und typografische Sündenfälle.
Mangelhafte Konsequenz im aktuellen Sprachgebrauch
Die gewachsene Sprache, zumal die kulinarische, ist weder sauber noch korrekt. So könnte – honni soit qui mal y pense – auch über bayerische Weisswürstl wie alemannische Landjäger sinniert oder in der Bäckerei gefragt werden, was Spitzbuben neben Meitschibei und Pfaffenhüten mit freiem Blick auf entblösste Gipfeli und Weggli zu suchen haben. Eine wortwörtlich bevormundende Sprachpolizei täte indes gut daran, sich auf Fälle offensichtlicher Zynismen zu beschränken, wie dem unsäglich zum «gestampften Juden» gepressten Büchsenfleisch der helvetischen Militärsprache.
In anderen, nicht derart eindeutigen Fällen, muss sie sich jedoch nicht nur dem regelmässigen Vorwurf der Inkompetenz, sondern auch jenem der Inkonsequenz ausgesetzt sehen: Wie wäre sonst zu erklären, dass seit der Nachkriegszeit, ausser bisweilen alpine Bundesräte, fast keine Söhne mehr den im 19. Jahrhundert noch höchst modischen Vornamen des «Führers» tragen, während heute – wie nota bene schon vor, aber eben auch nach Auschwitz – ungeniert «bis zur Vergasung» gearbeitet wird?
«Diesen Befund vor Augen, werden die ‹Kulturträger› des Landes ihr altes Gejammer über den Nihilismus von Neuem anstimmen, eine Messerspitze Abendland verordnen und getrost zu ihren Goethe-Jahren und Hofmannsthal-Wochen zurückkehren. Da hilft aber kein Goethe mehr, und auch kein Hofmannsthal.» Enzensbergers Diagnose von 1963 wäre – freilich vom kulturellen Abendland schon etwas weiter entfernt – auch heutigen PR- und Marketing-Kampagnen zu stellen:
Während linke Kreise renitent ignorieren oder gar leugnen, dass die schwarze im Verhältnis zur weissen Bevölkerung westlicher Staaten um Faktoren überproportional kriminell ist, scheinen sich Rechte und Neoliberale wenig dafür zu interessieren, dass Einkommen, Bildungschancen und Lebenserwartung noch heute deutlich «gefärbt» sind und latenter wie offener Rassismus nicht nur in amerikanischen Kleinstädten verbreitet ist.
Die Modetherapie der politisch korrekten Sprachhygiene verkommt jedenfalls zum sozialpolitischen Kitsch, wenn Kakao für Schweizer Schokolade weiter von blutenden Händen afrikanischer Kindersklaven geschlagen wird, ohne dass den moralinsüchtigen Verkäufer*n und Konsument*n die süssen Schokoküsse bitter werden.
Wenn der «Mohrenkopf» des Heiligen Mauritius heutige Menschen zum diesbezüglichen Weiterdenken anzuregen vermöchte, wäre der alte Stadtpatron jedenfalls in unerwartet neuer Mission unterwegs.
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