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Luzerner Drama mit Hollywood-Potenzial

Die Entstehung des Obergütsch war ein regelrechter Politkrimi

Vor einem halben Jahrhundert sah es im Obergütsch noch ganz anders aus. (Bild: zvg)

Das Obergütschquartier in Luzern zieht sich zwischen Gütsch- und Gigeliwald den Sonnenberg hoch. Heute beliebt wegen des Blicks übers Seebecken und der moderaten Mietzinsen, hat es eine politisch verstörende Entstehungsgeschichte hinter sich.

Als Mitte des 19. Jahrhunderts die Urbanisierung einsetzte, die Eisenbahn die Verkehrsmöglichkeiten revolutionierte und das Wachstum die mittelalterlichen Befestigungsgürtel sprengte, wollten die liberalen Stadtregierungen die Entwicklung selber steuern. Mittels auf dem Kapitalmarkt aufgenommener Kredite kauften sie Liegenschaften privater Eigentümer auf und formten daraus neue Quartiere, Strassennetze und Grünanlagen.

1864 sicherte sich die Stadt Luzern im Hofquartier Land für die Erweiterung der Quaianlagen und für die Erstellung von Hotels. Ende des 19. Jahrhunderts erwarb die Stadt im Hirschmattquartier für den Neubau des Luzerner Bahnhofs Land, um dieses nach der Erschliessung profitabel zu verwerten. Die Rolle der Stadt als Liegenschaftshändlerin stand im 19. Jahrhundert im Einklang mit den Interessen der Wirtschaft, des Tourismus und des privaten Grundbesitzes. Die Abgabe im Baurecht, heute zentrales Instrument der Bodenpolitik der öffentlichen Hand, wurde kaum genutzt.

Der Suppleant trickst den Stadtrat aus

Mitte des 20. Jahrhunderts machte die wachsende Bevölkerung die Bebauung der ansteigenden Hügel rund um Luzern mittels dichter Siedlungen nötig. So schielte die Stadt auch nach dem unerschlossenen Land im Obergütsch, oberhalb des bereits bebauten Säli-/Steinhofquartiers. Sie verfolgt die Idee eines sogenannten Residenzquartiers mit über 5000 Bewohnern, einer Schulanlage, Einkaufsmöglichkeiten, einem Restaurant und einer eigenen Kirche.

Ursprünglich gehörte das Land im Obergütsch Frau Virginia Bally-Schiffermann. Diese bot 1953 rund 150’000 Quadratmeter Land über die Schweizerische Kreditanstalt (SKA) der Stadt Luzern zum Kauf an. Die geforderten 2.65 Franken pro Quadratmeter schienen ein Schnäppchen für die Stadt zu werden. Zum Vergleich: Die gut erschlossene «Bühlermatte» zwischen der Muggenburg und dem Lido wurde im selben Jahr zu einem Quadratmeterpreis von 85 Franken gehandelt.

Bereits nach zwei Sitzungen stimmt der Stadtrat am 3. September 1953 abschliessend dem Kaufangebot über die geforderten 400’000 Franken zu. Seit Sommer 1953 amtiert im Stadtrat aber an Stelle des verstorbenen liberalen Stadtpräsidenten Max Sigmund Wey der angesehene Anwalt und bisherige liberale Grossstadtrat Hans «Sori» Sormani als «Suppleant», also als Zusatzmitglied bis zur ordentlichen Ersatzwahl. Sormani ist gleichzeitig Verwaltungsrat des Bauunternehmens Theiler und Kalbermatter AG (Th. & K.). Auf den 1. November 1953 wird Suppleant Sormani durch den eine Woche zuvor gewählten, bisherigen liberalen Stadtschreiber Kaspar Meier ersetzt.

Nur fünf Tage nach der Amtsniederlegung Sormanis wird Baudirektor Louis Schwegler darüber informiert, dass das Obergütschland verkauft sei. Th. & K. hätten es für 470’000 Franken erworben. Der Stadtrat ist perplex. Gegen den naheliegenden Verdacht, er habe dank Insiderwissen zusammen mit seinen beiden Kollegen im Verwaltungsrat der Th. & K. die Stadt ausgetrickst, wehrt sich Sormani vehement. Die Stadt habe eben getrödelt, und da sei die SKA mit der Th. & K. schnell handelseinig geworden, so der Verdächtige.

Sormani hatte den Gesamtstadtrat aber nie über den bevorstehenden Kaufabschluss informiert und machte dafür einen Loyalitätskonflikt geltend. Er demissionierte anschliessend als Mitglied des Parlaments. Rechtliche Schritte gegen Sormani wurden keine eingeleitet. Sein pflichtwidriges Verhalten wurde innerhalb der Liberalen Partei, die drei der fünf Stadträte und die stärkste Fraktion im Grossen Stadtrat stellte, still ausgesessen.

«Der Kampf um den Obergütsch tobt weiter»

1959 übernehmen die drei Aktionäre Sormani, Theiler und Kalbermatter einen Grossteil der von der Th. & K. erworbenen Liegenschaft als einfache Gesellschaft. Die drei Teilhaber veräussern die wesentlichsten Terrainteile 1966 an die Beamtenpensionskasse der Stadt Luzern für 4’056’772 Franken, also zum knapp zehnfachen Kaufpreis, den die Th. & K. 1953 bezahlt hat. 

1968 startet die erste von mehreren Bauetappen des mittlerweile reduzierten Projekts. Die quartiereigene Schule und die Kirche entfallen, die Bewohnerzahl war während der Planung auf 2500 halbiert worden. Das Quartierrestaurant und ein Quartierladen werden hingegen ausgeführt. Der anschliessende Betrieb des Restaurants verläuft aber nicht vielversprechend. Die Obergütschler bevorzugen für den Ausgang die Kernstadt.

Ende der 90er Jahre entsteht in den Räumlichkeiten ein Quartiertreff, der von der inzwischen entstandenen Interessengemeinschaft Obergütsch bis heute erfolgreich betrieben und von der Stadt finanziell unterstützt wird. Der Quartierladen erlebt mehrere Wechsel von Detailhandelsketten und Pächtern. Dem Trend zum wöchentlichen Grosseinkauf ist er aber nicht gewachsen und ist aktuell als Treffpunkt für Bierfreunde beliebt.

Zurück zur Überbauung der Pensionskasse. Federführend wirkt beim Bau Finanzdirektor Armand Wyrsch, genannt «Obergütschturbo». Ständige Begleiterin des Vorhabens bleibt aber die Kritik an der Rechtmässigkeit des Bebauungsplans. «Der Obergütsch darf nicht verschandelt werden», «Der Kampf um den Obergütsch tobt weiter» und ähnliche Titel zieren die Tagespresse. Sogar der ansässige Quartierverein meldet Widerstand an. Im Wesentlichen geht es darum, ob Abholzung nur Niedergehölz oder auch Waldbestand umfassen darf.

Ein Landabtauschgeschäft zwischen der Beamtenpensionskasse und der Einwohnergemeinde Luzern bricht dieser Kritik die Spitze und führt dazu, dass die Stadt 1977 wieder zum Land kommt, das sie 1953 eigentlich hatte erwerben wollen. Was Beat Mugglin in seiner Monografie über die Bodenpolitik der Stadt Luzern als Fazit festhält, trifft auf den Obergütschhandel exemplarisch zu: «Städtische Bodenpolitik ist ein gutes Stück weit auch eine Geschichte der verpassten Gelegenheiten.»

Die Überbauung Obergütsch der Beamtenpensionskasse wurde schliesslich 1980 fertiggestellt. Weitere Bauten im Obergütsch wurden erst Anfang des neuen Jahrtausends errichtet, zehn Einfamilienhäuser ober- und unterhalb der Obergütschhalde von privater Bauherrschaft.

Verwendete Quellen
  • Beat Mugglin, Die Bodenpolitik der Stadt Luzern, Beiträge zur Luzerner Stadtgeschichte, Band 9, 1993
  • div. Sitzungsprotokolle des Stadtrates und des Grossen Stadtrates
  • div. Geschäftsberichte der Beamtenpensionskasse der Stadt Luzern
  • div. Ausgaben von Vaterland, Luzerner Tagblatt und Luzerner Neuste Nachrichten

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