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Zwangsarbeit in Luzern bis 1959

Die dunkle Vergangenheit des Sedels

Der Sedelhof wurde über einen langen Zeitraum als Zwangsarbeitsanstalt genutzt. (Bild: Staatsarchiv Luzern, AKT 48/1818.1)

Der Sedel ist heute ein wichtiges kulturelles Zentrum in Luzern. Doch das war nicht immer so. Bis 1971 war der Sedelhof eine Strafanstalt des Kantons Luzern. Und noch etwas früher war hier ein Zuchthaus, in dem «Trinksüchtige» und «Arbeitsscheue» unter unmenschlichen Bedingungen und ohne Gerichtsurteil Zwangsarbeit verrichten mussten.  Es traf vor allem arme Menschen.

Die Geschichte des Sedels ist äusserst vielfältig und lesenswert. Bis in die 1830er Jahre gehörte der Sedelhof zum Grundbesitz des Klosters Rathausen, war aber ein landwirtschaftliches Gehöft, das im Auftrag des Klosters bewirtschaftet wurde.

Nach dem Sonderbundeskrieg waren viele Schweizer Orte hoch verschuldet. So auch der Kanton Luzern. Um die Schulden abzubezahlen, kam es zu zwei Klosteraufhebungen in Luzern. Einerseits wurde das Kloster Rathausen, in dem der Zisterzienserorden zu Hause war, geschlossen. Andererseits auch das berühmte Kloster in St. Urban.

Eine lange Geschichte

Aus dem Kloster in St. Urban wurde eine damals sogenannte «Irrenanstalt». Das Klostergebäude auf dem Sedel wurde 1886 in das Zuchthaus Sedelhof umfunktioniert und in eine Zwangsarbeitsanstalt umgebaut. In diesem Zuchthaus sollten die Eingesperrten «durch strenge Arbeit und bessernde Zucht wieder an ein thätiges und ehrbares Leben» gewöhnt werden.

Vor der Einrichtung des Zuchthauses gab es keine Grundlage, um die Menschen ohne Gerichtsurteil einzusperren, doch dies änderte sich 1885. In diesem Jahr trat das «Gesetz über Errichtung einer Zwangsarbeits-Anstalt für den Kanton Luzern» in Kraft. Dieses Gesetz wurde in Luzern die Grundlage für die sogenannte «administrative Versorgung» von «fehlbaren» Menschen.

Diese «administrative Versorgung» sorgte schweizweit dafür, dass vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in das Jahr 1981 bis zu 60'000 Frauen und Männer in der ganzen Schweiz ohne Gerichtsurteil in über 600 Anstalten, so wie dem Sedelhof, weggesperrt wurden, um sie zu «züchtigen» und zu «resozialisieren».

Diese Praxis musste 1981 aufgehoben werden, da die Schweiz international unter Druck geraten war, weil zehntausende Menschen in geschlossene Anstalten eingewiesen wurden, ohne jemals eine Straftat begangen zu haben. Lediglich, weil «ihr Verhalten oder ihre Lebensweise den vorherrschenden Normen in den Bereichen Arbeit, Familie oder Sexualität nicht entsprachen.»

2017 wurde der offizielle Bericht der Untersuchungskommission publiziert, nach dem die Aufarbeitung durch massiven politischen Druck aus verschiedenen Kreisen einige Jahre zuvor erzwungen worden war.

Eingesperrte sollten wieder arbeitsfähig gemacht werden

So wird im Abschlussbericht auch geschrieben, dass «sie [die Eingesperrten] in Erziehungsheimen, landwirtschaftlichen Arbeitskolonien, Strafanstalten oder psychiatrischen Kliniken ausgebeutet und körperlicher sowie psychischer Gewalt ausgesetzt waren, als auch sexuell missbraucht wurden.» Durch Fleiss, Disziplin, Redeverbot und, bei schwacher Arbeitsleistung auch anhand von Strafen wie Kürzungen der Essensrationen oder Isolierung, wurde versucht, die Eingesperrten wieder arbeitsfähig zu machen.

Der Sedelhof wurde 1886 eröffnet und bot für knapp 40 Zwangsarbeiter Platz. Obwohl einige wenige Parlamentarier darauf aufmerksam machten, dass die kleinen Räume, menschenunwürdig waren und Züchtigung unter solchen Umständen unmöglich wäre. Doch der Mehrheit war dies egal. Es ging den Luzernern nebst dem Ziel der «Steigerung der Arbeitsmoral» hauptsächlich um die Abschreckung der Bürger. Wer das erste Mal eingewiesen wurde, wurde für ein Jahr im Sedel eingesperrt, bei mehrfacher Einweisung stieg die Dauer auf zwei Jahre.  

Im Innern der Anstalt Sedel. (Bild: Staatsarchiv Luzern, AKT 48/1818.2)

Wer wurde eingesperrt?

Wie die unabhängige Expertenkommission (UEK) beschreibt, wurden die Einweisungen der Frauen und Männer unter der viel interpretierbaren Begründung und Rechtfertigung, dass «die öffentliche Moral und ihre Ordnung zu schützen, sowie die Fürsorgekosten zu begrenzen seien» durchgeführt. «So wurden arme, benachteiligte, rebellische oder randständige Menschen unter Missachtung ihrer Grundrechte unter unwürdigen Lebensbedingungen während längerer Zeit ihrer Freiheit beraubt.»

Wie erwähnt, war das Ziel des Zuchthauses, den «schwachen Charakter und die Arbeitsmoral zu stärken». Auch wer zu viel trank oder «nicht auf seine Kinder aufpassen konnte», wurde im Sedel eingesperrt und zur Arbeit gezwungen. Während reiche Schweizer, die ein Alkoholproblem hatten, in medizinische Therapie gingen, wurden Alkoholiker ohne Geld zur Zwangsarbeit verdonnert, um die «Belästigung der sozialen Wohlfahrt», zu beenden. Da Ende des 18. und auch lange in das 20. Jahrhundert hinein eine Massenarmut in der Schweiz herrschte, waren viele Menschen und Familien auf Geld von den Gemeinden angewiesen.

Keine Gerichtsurteile und Rekursmöglichkeiten

Wer «arbeitsfähig» war, aber trotzdem in Armut lebte, wurde oft eingesperrt, sodass der Kanton nicht mehr für diese Personen aufkommen musste. So zeigt es das Beispiel eines Vaters, dessen Frau starb. Nachdem Tod konnte er nicht genug für seine Kinder aufbringen und musste Geld von der Gemeinde beantragen. Da er auch oft alkoholisiert war, entriss man ihm seiner Familie und sperrte ihn für ein Jahr im Sedel ein. Auch wer arbeiten konnte, hatte oft einen so kleinen Lohn, dass kaum genug Geld übrigblieb, um eine ganze Familie zu ernähren. So wurden viele Kinder verdingt oder von den kantonalen Behörden mitgenommen, und in Familien platziert, die sich «besser» um die Kinder kümmern würden.

Es gab keine Gerichtsurteile und keine Rekursmöglichkeiten. Wenn der Luzerner Regierungsrat beschloss, dass jemand «administrativ versorgt» werden sollte, war dieses Urteil endgültig und konnte nicht abgewendet werden. Die Menschen, die eingesperrt wurden, waren oft auf Hilfe angewiesen und befanden sich in ernsten Notlagen. Nach Ansicht der politischen Eliten wurde durch diese Strategie «das individuelle Fehlverhalten gestraft und der Gesellschaft geholfen.» Doch am Ende verliessen die Menschen die Anstalten zum grössten Teil mit Traumata und posttraumatischen Belastungsstörungen. Auch die Angehörigen mussten durch diese Massnahmen grosses Leid erdulden.

Auch Frauen wurden zur Arbeit gezwungen

In Luzern merkten die Politiker schnell, dass es auch äusserst viele «fehlbare» Frauen gab, die «gezüchtigt» werden mussten. So beschloss der Rat 1893 eine zweite Zwangsanstalt im Seehof, ebenfalls am Rotsee in der Nähe des Sedelhofs zu errichten. Die Verwaltung wurde aufgeteilt und die beiden Zwangsarbeitsanstalten wurden zusammengeführt. Eine der Hauptgründe, weshalb Frauen in die Zwangsanstalt eingewiesen wurden, war die Prostitution. Oft war es das letzte Mittel der Frauen, um ihr Überleben zu sichern. Wer sich prostituierte, wurde verfolgt und aufs übelste misshandelt, denn Prostitution galt als «Gemeindebelästigung».

Egal welcher Tätigkeit die Frauen nachgingen, sie verdienten im Vergleich zu den Männern oft bis zu 50 Prozent weniger. Dieses strukturelle Problem wurde ignoriert und die Schuld wurde den Frauen zugeschoben, da sie eine schlechte Arbeitsmoral und einen schlechten Charakter hätten. Ohne Überraschung blieben die Zuchthäuser am Rotsee, was das ernannte Ziel der «Steigerung der Arbeitsmoral» anbelangte, recht wirkungslos. Bei über 50 Prozent der Insassen waren «alle Mühen und Versuche, dieselben zur Arbeit zu gewöhnen, resultatlos» und führten zu einer zweiten Einweisung. Wer kein zweites Mal eingewiesen wurde, verdankte das aber vermutlich eigenen Anstrengungen und nicht den unmenschlichen Methoden in den Zuchthäusern.

Vom Zuchthaus zum Gefängnis

Die Zwangsarbeitsanstalt begann neben den, für die Anzahl der Zwangsarbeiter, viel zu kleinen Zimmer, nach und nach auch richtige Gefängniszellen einzubauen und Menschen mit einem Gerichtsurteil einzusperren. In den 1930er Jahren waren schon die Hälfte der Insassen Gefangene. In dieser Zeit wurde die «Versorgungspraxis» im Sedel erstmals auch innerhalb des Regierungsrates in Luzern kritisiert. Erst 1955 aber wurde sie das letzte Mal angewendet. Die kantonale Praxis der Versorgung wurde in Luzern an die Gemeinderäte übertragen und so verlor die kantonale Zwangsarbeitsanstalt ihren ursprünglichen Zweck und der Sedel wurde 1959 zu einer offiziellen Strafanstalt des Kantons Luzern.

«National wurden erst Ende der 60er Jahre im Blick auf einen Beitritt zum Europarat oder, in der Diskussion über die Anerkennung der Europäischen Menschenrechtskonvention darüber nachgedacht, das nationale Versorgungsrecht grundlegend zu reformieren».

Die Verzweiflung im Sedel ist verstummt

1971 wurde die Strafanstalt schliesslich ganz geschlossen und die letzten Gefängnisinsassen wurden verlegt. Nach der Schliessung stand das Gebäude während zehn Jahren leer und wurde nur für die Aktenaufbewahrung genutzt.

Als in den 80er Jahren in Zürich ein autonomes Jugendzentrum abgelehnt wurde, die Regierung währenddessen aber einer Renovierung des Opernhauses für 60 Millionen Franken bewilligte, waren viele junge Menschen empört. So versammelten sich hunderte Jugendliche vor dem Opernhaus, um für ein eigenes Jugendzentrum zu protestierten. Auch in Bern begannen Proteste. Der Druck der Jungen war erfolgreich und so entstanden auch in weiteren Städten autonome Jugendzentren. Allen voran aber die Rote Fabrik in Zürich und die Reitschule in Bern.

Angespannt blickte auch die Luzerner Regierung in die naheliegenden Kantone. Man wollte Jugendunruhen unbedingt verhindern, um das touristische Flair und den guten Ruf nicht zu verlieren. Als das beliebte Kriegerhaus in Horw niederbrannte, verblieben ein Dutzend Bands ohne Proberäume und stellten Forderungen nach einem neuen Lokal an die Regierung. Durch die angespannte Lage sah die Regierung Luzerns den Sedel als den perfekten Ort, ausserhalb des Stadtzentrums, für ein alternatives Musik- und Kulturzentrum. Seit 1981 wird der Sedel nun als Probelokal für Musikgruppen und seit 1995 auch für öffentliche Veranstaltungen genutzt. 1983 schloss der Kanton Luzern als Eigentümer der Liegenschaft mit der Stadt und vielen weiteren Gemeinden einen Vertrag über ein unentgeltliches, auf 15 Jahre befristetes Baurecht ab. Dieser Vertrag wurde seither immer erneuert und auch der Kulturbeauftragte der Stadt Luzern ist zuversichtlich, dass dieser Vertrag auch weiterhin verlängert wird.

An den Wänden der Proberäume des Sedels hallt heute kein Geschrei von leidenden Gefangenen und Zwangsarbeitern mehr. Heute ist der Sedel ein buntes und positives Kulturzentrum, das einen wichtigen Teil der Musik- und Kulturlandschaft Luzerns darstellt. Doch diese wichtige Geschichte des Sedels darf nicht vergessen werden.

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Ob Hintergründe zu alten Gebäuden, Geschichten zu Plätzen, stadtbekannte Personen, bedeutende Ereignisse oder der Wandel von Stadtteilen – im «Damals»-Blog werden historische Veränderungen und Gegebenheiten thematisiert.
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5 Kommentare
  • Profilfoto von Manuel
    Manuel, 20.11.2021, 09:21 Uhr

    Nicht gegen die Wirtschaft im Allgemeinen! Nur gegen gewisse – lediglich den Shareholder Value bedachte – Grosskonzerne aus Bereichen wie Finanzwesen & Rohstoffe. Ihre Devise lautet wohl «Augen zu und durch».
    Übrigens: Schöner Versuch, alles im historischen Kontext legitimieren zu wollen. Der Zweck heiligt nicht die Mittel.

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  • Profilfoto von Andreas Bründler, Kriens - Bleiche
    Andreas Bründler, Kriens - Bleiche, 19.11.2021, 18:01 Uhr

    Das extrem gut ausgebaute Sozialsystem das wir heute haben konnten wir uns erst leisten nachdem die Wirtschaft so richtig zu florieren anfing. Wenn Firmen wie Nestlé, Roche, Novartis, etc. zig Milliarden jedes Jahr an Steuern zahlen, sind solche Luxus-Sozialsysteme wie wir sie heute haben erst möglich. Früher war die Schweiz ein armes Bauern-Land mit wenig erfolgreicher Industrie und konnte sich das nicht leisten. Deshalb gab es solche Einrichtungen wie den Sedel. Meine Grosseltern und Urgrosseltern billigten Institutionen wie den Sedel aus der Not heraus. Gleich wie die psychiatrische «Anstalt» St. Urban. Man muss immer auch das wirtschaftliche Umfeld betrachten, in dem diese sozialen Institutionen existierten. Wenn wenig Geld da ist, hat man keinen Handlungsspielraum. Deshalb verstehe ich die Linken heute nicht, die so gegen unsere Wirtschaft poltern. Ohne unsere Wirtschaft und deren Steuergelder haben wir kein gut funktionierendes Sozialsystem. Das hängt zusammen.

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    • Profilfoto von Libero
      Libero, 12.12.2021, 15:33 Uhr

      Ohne die Sozialdemokraten
      hätten wir keine AHV, keine Sozialversicherungen usw.
      lies die Forderungen des Generalstreiks von 1918 nach; ……..
      als streikende Arbeiter vorn Innerschweizer Soldaten erschossen wurden!

      Mein Vater verteilte jeweils beim Kies aufladen beim Seetalplatz
      den «Zuchthäuslern vom Seldel» Stumpen-Pläckli !!!!!!!

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  • Profilfoto von Ferdi Spaeti
    Ferdi Spaeti, 19.11.2021, 15:38 Uhr

    De Sedel (Songtext)

    1981
    Wie hemmier zäme glacht
    Wie hemmier düre gmacht
    Punk Rock die ganzi Nacht
    1981
    Wie hemmier Musig gmacht
    För Probelokal kämpft
    Erfolgrich für de Sedel kämpft – he he he
    Diskussione mit de Stadt vo Lozärn
    Herti Positione vo de ILM
    Hemmier de Sedel übercho – he he he
    2021
    40 Johr hemmier üs gschänkt
    Wer hätti de scho dänkt
    Wohé üs’s Läbe länkt
    Sie hend üs Jobs wäg gnoh
    Velli stönd alleini do
    Wohe chönned mier no go?
    Gömmer i Sedel, dä gid’s immerno – he he he
    De Knascht ghört üs syt 4 Johrzähnt
    Im Wikipedia erwähnt
    Und es ged nüd wo üs je zähmt – he he he
    Mier hend wenigschtens no de Sedel
    Mier hend wenigschtens no de Sedel
    Mier hend wenigschtens no de Sedel

    FAiR 2021

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  • Profilfoto von Livas
    Livas, 19.11.2021, 12:18 Uhr

    Interessant, wusste ich nicht

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