Die bewegte Vergangenheit des Schlössli Schönegg
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Über dem dicht besiedelten Talboden des Reusstals thront das heutige Schlössli Schönegg auf einem steil abfallenden Felssporn. Schaut man in der Zeit zurück, stellt man schnell fest: Die Gemäuer dieses Gebäudes haben viel zu erzählen. UntergRundgänger Peter Lussy macht einen Ritt durch die Jahrzehnte.
Ende des ausgehenden 19. Jahrhunderts geht in Luzern die Post ab. Die Bevölkerung verdoppelt sich von 1890 bis 1910 auf 40’000 Einwohner. Ein neuer Bahnhof entsteht am Seebecken, die neue Linienführung macht Platz für die Neustadt, und das altertümliche Städtchen wird in die Moderne katapultiert. Im schattigen Talboden des Untergrundquartiers lebt es sich immer enger, und Dichtestress macht sich breit.
Während sich hier die Moderne mit viel Dynamik, Dampf und Lärm bemerkbar macht, entwickelt sich der angrenzende Gütschhügel punktuell zu einer Zone der Nostalgie und romantischen Schwärmerei. In erhabener Höhe thront das Hotel Château Gütsch und etwas tiefer gelegen sein weniger berühmter kleiner Verwandter – das Schloss Wilhelmshöhe – auf einem Felssporn. Sie blicken in die blühende Landschaft und buhlen um Gäste.
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«Bevorzugtes Haus der Deutschen» am weltberühmten Gütschhang
In der Belle Epoque steuert Luzern langsam, aber sicher in Richtung Massentourismus. Es herrscht harte Konkurrenz, und da kann eine gute Werbestrategie nicht schaden. Auf der sogenannten Wilhelmshöhe reagiert die Witwe Babette Hurter-Wangler nach dem Tod ihres Gatten Wilhelm mit expansivem Geschäftssinn. (Ob der Ort nach ihm oder dem deutschen Kaiser Wilhelm II. benannt wurde, ist umstritten.) Sie lässt auf eine schon bestehende Trinkhalle einen markanten Fachwerk-Baukörper mit zwei flankierenden Türmen bauen. Merkwürdig, nein zeittypisch, wirkt der Kontrast zwischen der romantischen Burgästhetik und der auf die Bergfried-Fassade in grossen Lettern angebrachten Aktionswerbung: «Pension From 6 Fr.».
Trotz englischer Werbung zielte das Schloss Wilhelmshöhe insbesondere auf deutsche Kundschaft und pries sich als «Bevorzugtes Haus der Deutschen» an: «Schloss Wilhelmshöhe – Am weltbekannten Gütschwald – Bevorzugtes Haus der Deutschen – Erhöhte, allseitig geschützte Lage, ohne lästige Schwüle, mit entzückender Fernsicht auf Stadt, See und Alpen. Absolut ruhig».
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Via Bildungshaus zum Spekulationsobjekt
Die Belle Epoque war schon fast süchtig nach historischer, wenn möglich mittelalterlicher Tiefe. Die neuen Strassen der Neustadt wurden nach alteidgenössischen Schlachten benannt, neben dem neuen Bahnhof stand eine mittelalterliche Trutzburg im Stile eines potemkinschen Dorfes. Der Jesuitenkirche aus dem 17. Jahrhundert wurden erst 1893 auch zwei Türme aufgesetzt und die Häuser der Altstadt mit «mittelalterlichen» Fresken eifrig bemalt.
Je mehr Züge gleich unterhalb der Wilhelmshöhe durch den Gütschtunnel rasten, desto grösser die Sehnsucht nach Kitsch. Dass das Mittelalter nur noch eine ferne Projektion war, zeigte sich dann 1914 umso drastischer, als unter anderem die deutschen und britischen Bürger und Untertanen in einen vermeintlich ritterlichen Krieg zogen, um real in industriellen Stahlgewittern für Kaiser, Volk oder Vaterland zermalmt zu werden.
Das europäische Drama des Ersten Weltkriegs besiegelte nicht nur das «lange 19. Jahrhundert», sondern auch den Tourismusboom in Luzern. Auch Schloss Wilhelmshöhe musste seinen Tribut bezahlen, und 1914 wurde der Betrieb eingestellt. Die weitere Entwicklung: 1924 zog das Knabeninstitut Helvetia ein, 1972 übernahm die Missionsgesellschaft Bethlehem (Immensee), und seither ist der Name Schlössli Schönegg gebräuchlich.
Nach dem Weiterverkauf 1986 verkommt das Schlössli zum Spekulationsobjekt und entschlummert ab 1993 in einen Dornröschenschlaf, bis es im Sommer 1996 von einer gemischten Gruppe von Luzerner Aktivisten der linksalternativen Szene mit einem Knall aufgeweckt und mit Leben gefüllt wurde.
«Das autonome Märchenschloss»
So betitelte das sozialistische Blatt «Vorwärts» seinen Artikel über die Besetzung des Schlössli Schönegg im August 1996. Das Haus throne über dem «am Fusse des Gütsch» gelegenen Untergrundquartiers, «seit je die Heimat der Unterprivilegierten und Randständigen der Stadt Luzern». Durch die Besetzung sei «die traditionelle Ordnung von Oben und Unten für einmal etwas durcheinandergeraten».
Es war längst nicht die einzige, aber wohl die schönste Besetzungsgeschichte der 1990er-Jahre in Luzern. Darauf können sich Boris Rossi und Trix Krebs einigen, wenn sie an das gut ein Jahr dauernde Wohnexperiment im Schlössli zurückdenken. Zusammen stellten sie das Präsidium im Vorstand des Vereins Schöneck, welcher die heterogene Gruppe gegen aussen repräsentierte. Rossi, ein Urgestein der Luzerner Alternativkultur, lebte im Chalet und war vor allem für die Organisation von Konzerten verantwortlich, während Krebs im zweiten Stock des Haupttrakts im Frauenstock lebte. Die Erkämpfung eines autonomen Lebensraums speziell für Frauen war ihr ein grosses Anliegen und gab der ansonsten schon fast routiniert verlaufenden Besetzung einen visionären Touch.
Was es sonst noch gab? Ziemlich viel: eine «Volxküche», Spielräume, Veranstaltungsräume für Lesungen, Filmvorführungen und Konzerte, einen Infoladen, ein Café und eine Druckerei, alles in allem ein autonomes Kulturhaus – ein «Wohlgroth à la Lucerne» («Vorwärts»). Ungefähr 50 Personen im Alter zwischen 15 und 40 Jahren besetzten das Haus im August 1996, und ein harter Kern von etwa 20 Personen lebte hier bis zum Abbruch des Experiments im November 1997.
Nur vereinzelte Stimmen aus dem rechtsbürgerlichen Lager (SVP und Freiheitspartei) forderten «die sofortige Räumung und die Bestrafung der Rechtsbrecher», die unsere «verfassungsmässigen Rechte wie die Eigentumsgarantie mit Füssen treten» (Bruno Heutschy, SVP-alt-Grossstadtrat).
Abseits von Law-and-Order-Rufen gab es jedoch erstaunlich viel Sympathie, und auch der neue Stadtpräsident Urs W. Studer bot sich an, zwischen Besetzenden und Eigentümerschaft zu vermitteln. Mit dem Instrument eines Notmietvertrags wurde eine Zwischenlösung gefunden, bis mit den Gebrüdern Stefan und Bruno Muff ernsthafte Kaufinteressenten auftraten.
Die erfolgreichen Jungunternehmer Muff suchten das Gespräch mit den Besetzern, und Boris Rossi hält heute fest, dass man «das Projekt der Muffens» verstanden habe, denn dabei sei es nicht um Spekulation, sondern um Renovation und Umnutzung gegangen. Fast schon märchenhaft friedlich löste sich die Besetzung auf.
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Luzerns «Silicon Valley»
Mit den neuen Besitzern verschwanden Bierdunst, Anarchie und Punk-Attitüde. Es blieb aber die schöne Aura des Unkonventionellen, Visionären und Innovativen über dem Schlössli schweben. Die expandierende Firma Endoxon richtete hier ihren repräsentativen Firmensitz ein und arbeitet seither im selbst ernannten «Silicon Valley der Zentralschweiz» an «komplexen Big-Data-Lösungen für weltweit operierende Unternehmen» (Eigenwerbung Website).
Damit wurde das Schlössli nicht nur vor einem drohenden Zerfall gerettet, sondern gleich in eine perspektivenreiche Zukunft katapultiert, wie der gerade laufende Ausbau für zusätzliche 100 Arbeitsplätze zeigt. Momentan laufen zwar noch aufwendige Sicherungsarbeiten am prekären Steilhang. Der zuständige Geologe Beat Keller würdigt diese Massnahmen in der «NZZ» vergangenen Herbst mit einem weiten Blick in die Zukunft so: «Nachher haben wir wieder hundert Jahre Ruhe.»
Wer mehr über das Schlössli Schönegg und andere schöne Geschichten aus dem Untergrund erfahren will, besuche den neuen UntergRundgang «Augenweiden» im Rahmen des Kulturprojekts «schön?!.» der Albert Koechlin Stiftung. Anmeldung zu Führungen und Bestellungen der neuen Publikation via www.untergrundgang.ch