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Umstrittene Tradition ging erst 1958 zu Ende

Der unwürdige Menschenmarkt von Luzern

Bis 1958 wurde beim Wirtshaus Galliker noch der Knechtenmarkt abgehalten. (Bild: Foto: Max A. Wyss/fotodok.swiss)

Noch bis 1958 hat in Luzern der Knechtenmarkt immer an Mariä Lichtmess stattgefunden. Ein «unwürdiger Menschenmarkt» oder einfach die traditionelle Form der Arbeitsvermittlung?

Am Morgen von Mariä Lichtmess am 2. Februar 1943: ein riesiger Menschenauflauf vor dem Gasthaus Galliker. Wie jedes Jahr sammeln sich auch in Kriegszeiten hier die Knechte, um sich für ein Jahr zu verdingen. Theo Frey, der in Hochdorf aufgewachsene Reportagefotograf mit seinem besonderen Gespür für soziale Ungerechtigkeiten, hat es dokumentiert. Draussen vor der Tür des Restaurants Galliker stehen die Knechte an diesem bitterkalten Tag. Es kommen Bauern vorbei, sie sondieren die Stellensuchenden. Werden sich Meister und Knecht einig, wird bei einem Umtrunk im «Galliker» der Vertrag besiegelt.

Ein Detail am Rande: Das Publikum der Gastwirtschaften sortierte sich in den 1940er-Jahren weit stärker als heute streng nach Klassen und sozialen Schichten. An dem wöchentlich stattfindenden Viehmarkt gingen die reichen Bauern in den «Galliker» und die Knechte sowie die Kleinbauern ins «Schützenhaus» und später auch in den «Schützengarten».

«‹Zugvögel› vor dem ‹Galliker›» 

Theo Frey und sein Fotografenfreund Max A. Wyss sind zwei der wenigen, die mit ihren Fotoreportagen dem Knechtenmarkt Aufmerksamkeit schenken. Selten erscheint einmal eine Notiz in der Zeitung, beispielsweise 1924 im «Luzerner Tagblatt»: «Der Knechtenmarkt vom letzten Montag brachte viel Bauernvolk in die Stadt, hauptsächlich jüngere Leute, davon sehr viele junge Knechte, die einen neuen Meister suchten. Das Angebot scheint grösser gewesen zu sein als die Nachfrage, denn der Bauer weiss, dass es gewöhnlich die ‹Zugvögel› sind, die auf Lichtmess auf dem Kasernenplatz niederfliegen. Das Jungvolk hat heute weniger Sesshaftigkeit als je. Ein kräftiges Wort – und das Blut im Dolder, und das Bündel hingeworfen. Im Alter geht es bedächtiger zu, hüben und drüben.» 

Der Tonfall des städtischen Redaktors offenbart: Knechte – das ist der Treibsand der bäuerlichen Gesellschaft. Die «Zugvögel» kommen von ganz unten. Und der Redaktor nimmt ausschliesslich die Perspektive des Bauern ein. Umgekehrt waren jedoch die Bauern, die auf dem Knechtenmarkt dingten, meist jene, die wegen harter Arbeitsbedingungen, mieser Kost und Unterkunft dauernd auf ihrem Hof Stellenwechsel hatten.

«Knechtenrumor» anno 1864

Der Streit um die Stellenwechsel sorgte sogar für Schlagzeilen. Unter dem Stichwort «Knechtenrumor» sollte die sonst «schweigende Klasse» der Knechte 1864 Spuren in Zeitungen und Archiven hinterlassen. Damals stellten die freisinnigen Grossbauern die eigenen Interessen der liberalen Doktrin voran und wollten den Arbeitsmarkt der Knechte staatlich reglementieren.

Dank eines einzuführenden Dienstbüchleins sollte vor allem eines lückenlos überprüft werden: Haben die Knechte auch die vereinbarte Dauer des Arbeitsvertrags eingehalten? Mit dieser bindenden Unterschrift wären die Knechte ihren Meistern ohne probates Gegenmittel – beispielsweise in der Erntezeit den Dienst zu quittieren – zumindest für das verdingte Jahr ausgeliefert gewesen.

Schliesslich kam es in Luzern beim «Schützenhaus» in der Bruchstrasse zu einer Grosskundgebung, von der das liberale «Tagblatt» ziemlich polemisch berichtete (LT 25.10.1864): «Ein Knecht aus dem obern Löchli bei Luzern stieg auf ein stehendes Fass und hielt mit ziemlich geläufiger Zunge eine Ansprache an die Versammelten, womit er hauptsächlich zeigen wollte, dass die neue Dienstordnung nur für die Bauern gemacht sei, dagegen die Rechte und Interessen der Dienstboten nicht in Schutz nehmen.»

Die «Knechtenagitation» schreckte die Parteien auf, und der Kantonsrat liess die Dienstbotenverordnung mitsamt Dienstbüchlein wieder in der Schublade verschwinden. 

Maschine macht Knecht überflüssig

Das «Luzerner Tagblatt» als Sprachrohr der Grossbauern bemerkte aber eines: «Man kann sich übrigens auch durch eine intelligentere Landwirtschaft selbst von einer Knechtenbevormundung mehr oder weniger emanzipieren. In Nordamerika werden jetzt schon die wichtigsten Feldarbeiten mithilfe von Maschinen verrichtet, sodass es nur einer geringen Mitwirkung menschlicher Kräfte bedarf.»

In der unterkapitalisierten Landwirtschaft im Kanton Luzern brauchte es dann fast 100 Jahre, bis sich die Mechanisierung auf den Höfen durchsetzte. Und das hatte auch seine Konsequenzen für den Lichtmessmarkt: 1958 verdingten sich auf dem Kasernenplatz zum letzten Mal die Knechte. Ein rasches Ende übrigens. Denn noch 1941 kamen auf 17’200 familiär an den Hof gebundene Berufstätige in der Landwirtschaft 8484 betriebsfremde Knechte.

Die Fremdarbeit bestimmte damit die Luzerner Landwirtschaft weit stärker als anderswo in der Schweiz – sicher auch ein Ausdruck des industriell wenig entwickelten Kantons. Dessen Arbeitsmarkt bot nicht genug Alternativen zur harten Knechtenarbeit mit ihren langen Arbeitszeiten bei null Ferienanspruch und geringer Bezahlung.

Unwürdiger Menschenmarkt

Mit Blick auf die Arbeitszeiten wundert es nicht, dass die SP-Zeitung «Berner Tagwacht» den dortigen Knechtenmarkt 1929 als «unwürdigen Menschenmarkt» bezeichnet. Auch wenn das Luzerner Bauernsekretariat bereits 1909 zur Verbesserung der Lage der Knechte forderte, um halb sieben abends Feierabend zu machen, wurde es meist später. Vor allem bei der «Heuete» oder der Obsternte war es nicht selten, dass erst nach 22 Uhr Feierabend war.

Der Arbeitsbeginn wiederum lag – jahreszeitlich etwas verschieden – zwischen halb fünf und fünf Uhr morgens. Der einzige Luxus war, bei den dörflichen Festen einen Schoppen bezahlen zu können. Entscheidend für die Knechte war, ob sie reichlich zu essen bekamen und im Winter nicht in ungeheizten Dachkammern hausen mussten.

Die Raumnot war selbst dem luzernischen Polizeidepartement zu Ohren gekommen. In einem Bericht beklagten sie, die Knechte hätten «bei den Dienstherren, namentlich auf dem Lande, weder den nötigen Platz noch Schränke erhalten, um ihre militärische Ausrüstung zu besorgen». Wenn die Bedingungen allzu prekär waren, erschienen sie bei Lichtmess auf dem Kasernenplatz.

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