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Wie massentaugliche Texte Qualitätsjournalismus ablösten

Aufstieg und Fall der «Luzerner Neuesten Nachrichten»

Die «Luzerner Neuesten Nachrichten» war eine neutrale Zeitung. (Bild: Wikimedia Common / Paebi, 1. Januar 1925)

Am 23. Oktober 1980 findet in der Luzerner Medienszene ein Wechsel statt. Die unabhängige «Luzerner Neueste Nachrichten», die LNN, steht plötzlich vor dem professionellen Ruin. Auf die Absetzung des Chefredakteurs Jürg Tobler folgt eine nationale Reaktion der Empörung.

Alice Bucher begann ihre Karriere zunächst als Sekretärin im C.-J.-Bucher-Verlag. Dort lernte sie auch ihren künftigen Ehemann kennen, den Verleger Carl Josef Bucher. 1930 heirateten sie schliesslich. Bis zum Tode ihres Mannes arbeitete Alice weiterhin als Sekretärin. Als dieser jedoch 1941 unerwarteterweise einem Schlaganfall erlag, übernahm sie den Verlag und damit auch die LNN.

Entwicklung der «Luzerner Neuesten Nachrichten» unter Alice Bucher

In den Folgejahren schaffte Alice Bucher es, mit ihrer energischen und unnachgiebigen Art die Zeitung zu fördern und die Auflagenzahlen in die Höhe schnellen zu lassen. Zeitgenössische Berichte beschreiben sie als «impulsiv und unberechenbar».  Ihr Führungsstil wurde als schwierig überliefert, unumstritten sind allerdings ihr Engagement und Herzblut, die sie in die LNN steckte.

Diese Charakterzüge halfen ihr dabei, sich in der konservativen Luzerner Presselandschaft durchzusetzen. In ihrer Zeit als Herausgeberin von 1945 bis 1970 schaffte sie es, die Auflage der LNN von 28.000 auf 55.00 Exemplare zu erhöhen. Somit erreichte das neutrale Blatt höhere Zahlen als politisch geprägte Zeitungen wie das «Luzerner Tagblatt» oder das «Vaterland».

Ihre Parteilosigkeit, die erfolgreiche Entwicklung der LNN und ihre Machtposition als Frau in der Luzerner Medienlandschaft riefen allerdings auch Skeptiker hervor. Sie selbst reflektierte ihre umstrittene Stellung: «Für die Luzerner Snobs war ich eben bloss eine Sekretärin, die ihren Chef geheiratet hat (…). Dass ich Verlegerin der LNN war, die, keiner Parteidoktrin verpflichtet, eine unabhängige und oft unbequeme Position vertrat, trug wenig zu meiner Beliebtheit bei den Luzernern bei.»

Fehlgeschlagene Expansion nach Adligenswil

1965 stellte ein folgenreiches Jahr für die LNN dar. Verschiedene Motivationen, u. a. akute Platznot und Schwierigkeiten mit behördlichen Auflagen, veranlassten Alice Bucher dazu, zu expandieren. Ein Neubau mit moderneren Druckmethoden sollte deshalb in Adligenswil errichtet werden. Doch durch Sprengung des vorgesehenen Budgets und durch das Ausbleiben des erhofften Druckvolumens verschuldete der Verlag sich in der Folge massivst. Die akute finanzielle Notlage veranlasste Alice Bucher schliesslich zu einer höchst umstrittenen Entscheidung.

Verkauf eines Lebenswerks

Die erdrückende Schuldenlast zwang Alice Bucher zum Verkauf ihres Lebenswerks. Im August 1973 musste sie den Verlag an das Medienunternehmen Ringier abtreten. Die neutrale, unvoreingenommene Berichterstattung hatte damit ein Ende. Von nun an dominierten die Vorstellungen des Ringier-Verlags das Geschehen in der LNN.

Ringier installiert bei «Luzerner Neuesten Nachrichten» neuen Chefredakteur

Die Übernahme der LNN verlangte nach einem neuen Chefredakteur, welcher im Sinne des Verlags das Geschehen dirigierte. Ringier-Chef Heinrich Oswald entschied sich, die vakante Position mit dem Thurgauer Jürg Tobler zu besetzen. Dieser war durch seine Funktionen als Moderator, Autor und Inlandchef der DRS eine bekannte Figur in der Schweizer Medienlandschaft.

Am 15. September 1974 trat Tobler seine Stelle an und begann sogleich, die LNN nach seinen Vorstellungen umzustrukturieren. Er leitete in der Redaktion einen regelrechten Kulturwandel ein. Regelmässig formulierte er dazu in Exposés seine aktualisierten Konzepte, in welchen er die Anforderungen an seine Mitarbeitenden formulierte. Sein Anspruch war hoch, besonderen Wert legte er auf die Trennung zwischen Berichterstattung und Kommentar. Eine möglichst objektive Berichterstattung war dabei im Fokus. In einer Broschüre an seine Mitarbeitende verdeutlicht er seinen Anspruch. Journalisten sollen «als Treuhänder der Informationen am Werk, nicht als verhinderte Politiker» fungieren.

Wiedererstarkung der Hierarchien

Unter der Herausgeberin Alice Bucher zeichnete sich die LNN durch eine flache hierarchische Struktur bezüglich der redaktionellen Mitbestimmung aus. Den Posten des Chefredakteurs hatte man durch einen dreiköpfigen Redaktionsausschuss ersetzt. Dadurch wurde den Mitgliedern der Redaktion ein Mitspracherecht bei organisatorischen Vorgängen eingeräumt.

Mit der Anstellung von Jürg Tobler änderte sich dies allerdings grundlegend. In Absprache mit Heinrich Oswald wurde der Posten des Chefredakteurs wieder kreiert und von Tobler besetzt. Ihm wurden umfassende Kompetenzen eingeräumt, welche ihm die Alleinentscheidung bei personellen Besetzungen sowie bei der Festlegung des Blattkurses eingestanden.

Jürg Tobler auf Linienkurs mit Ringier

Die neue Linie unter Chefredakteur Tobler zeigte schon bald Erfolg. In einer Befragung der Leserschaft durch das Umfrageinstitut Scope, wurde eine umfassende Akzeptanz der Zeitung festgestellt. Die politische Neutralität des Blattes war dabei ausschlaggebend für die Popularität der LNN.

Auch Ringier-Chef Oswald zeigte sich von seinem neuen Chefredakteur begeistert. So wurde Tobler von seinem Vorgesetzten als «inspirierender Führer» beschrieben. Besonders sein Geschick im Umgang mit der vorgeschriebenen Linie von Ringier wurde gelobt. Toblers gekonnter Balanceakt zwischen angebrachter lokaler Berichterstattung und einer nationalen Vernetzung fand bei der Leserschaft Anklang. So entwickelte sich die LNN zu einer führenden Lokalzeitung.

Die «Luzerner Neuesten Nachrichten» muss «hemdsärmeliger» werden

Jürg Toblers Höhenflug war allerdings nur von kurzer Dauer. Obwohl die LNN qualitativen Journalismus vorweisen konnte, warf sie für den Verlag nicht genügend Gewinne ab. Ringier setzte ab 1978 Adolf Theobald als Chef in Linienfunktion ein. In seiner Funktion diente er der Gewinnmaximierung des Verlags.

Schon bald meinte Theobald zu erkennen, weshalb die LNN nicht genügend Gewinne abwarf. In seinen Augen war sie zu distanziert der Leserschaft gegenüber und handelte zu stark nach politisch- moralischen Kriterien. Die LNN sollte «hemdsärmeliger» werden, also lockerer und ungezwungener berichten. In Theobalds Wahrnehmung sollte ein Konzept nach der deutschen «Bild» angestrebt werden. Diese Kritik und die angestrebten Änderungen sind als direkter Angriff auf Toblers Blattkurs zu verstehen.

Ringier-Chef Oswald verliert das Vertrauen in seinen Chefredakteur

Angesichts der unverhohlenen Kritik gegenüber Tobler erhob nun auch Ringier-Chef Oswald Vorwürfe. Er bemängelt die «Leser-Ferne» der LNN und wies auf die mangelnden Gewinne hin. Trotz der unbefriedigenden finanziellen Bilanz konnte Tobler auf eine Steigerung der Auflagen hinweisen.

In den fünf Jahren seiner Beschäftigung als Chefredakteur hatte die Auflage der LNN um  5000 Exemplare zugenommen. Doch trotz dieser Wachstumsrate schien Ringier über die Personalie Tobler bereits entschieden zu haben.

Die «Ablösung Toblers» löst Aufschreien aus

Am 23. Oktober 1980 verkündete Ringier die Trennung von Jürg Tobler als Chefredakteur. Die Redaktion der «Luzerner Neuesten Nachrichten» war entsetzt. 31 Mitglieder der Redaktion kündigten in Solidarität mit ihrem Chefredakteur. Und damit nicht genug. Sie druckten Flugblätter, welche Licht in die «Ablösung» des Chefredakteurs bringen sollte. Dieses wurde in 15'000-facher Auflage gedruckt und auf den Strassen verteilt.

Der pikante Titel: «Was die Leser der LNN heute in ihrer Zeitung nicht erfahren dürfen.» Ihre Protestaktion veranlasst Ringier Chef Oswald dazu, zwei Seiten in der LNN mit Leserbriefen und Stellungnahmen abzudrucken. Diese war gespickt mit Kritik am Verlag Ringier.

Öffentliche Empörung in Luzern

Auch die Luzerner Bevölkerung echauffierte sich über die undurchschaubare Termination Toblers. Am 31.10. veranstalte sie einen Trauermarsch durch die Luzerner Innenstadt, an welchem tausend Bewohnerinnen teilnahmen. Auch die Politik und Journalisten aus der ganzen Schweiz waren entsetzt über den plötzlichen Abgang Toblers.

Denn mit seinem Abgang verlor die Zeitung ihre Richtung der ausführlichen und durchdachten Berichterstattung. Ringier dagegen forderte schnelle, unkomplizierte Darstellungen, welche den Lesenden eine einfache Lektüre ermöglichte. Und ihre Forderungen konnten sie durchbringen. Ihre bekömmliche und massentaugliche Linie ersetzte den Qualitätsjournalismus der Ära Tobler.

Verwendete Quellen
  • Konrad Suter: «Pressegeschichte des Kantons Luzern von 1945 bis 1970»
  • «Jahrbuch der Geschichte Luzern»

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