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Leidvolles Aufwachsen an der Baselstrasse

Das bedrückende Leben der Waisenkinder in Luzern

Die Waisenanstalt an der Baselstrasse wurde 1811 in Betrieb genommen. (Bild: Stadtarchiv Luzern; B2N/312:2)

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde an der heutigen Baselstrasse in Luzern ein neues Waisenhaus gebaut. Für die nächsten 150 Jahre sollte es das Zuhause vieler Waisenkinder aus der Region werden. Die untergebrachten Kinder wurden lange als dumm, unfähig und geistig minderbemittelt angesehen. Schläge, Diskriminierung und psychische sowie sexuelle Gewalt prägten das Leben der Kinder.

Die Gründe, warum ein Kind in eine Waisenanstalt eingewiesen wurde, waren unterschiedlich. Dies geschah, wenn die Eltern starben oder ihr Kind aussetzten. Aber auch, wenn die Eltern kein Geld mehr hatten, um für das Kind zu sorgen. Solche Kinderwegnahmen waren nicht selten und endeten entweder mit einer Einweisung in ein Kinderheim oder oftmals auch mit der Verdingung an eine Bauernfamilie.

Die Anfangszeit

Das frühe 19. Jahrhundert war in der Schweiz durch das Aufkommen vieler neuer Anstalten geprägt. Eine davon war die neue Waisenanstalt an der Baselstrasse, welche 1811 fertiggestellt und in Betrieb genommen wurde. Laut Aussaugen des damaligen Leiters, Alois Rusconi, mangelte es allerdings noch an allen möglichen Dingen. Zum Beispiel klagte er über fehlende finanzielle Mittel und den fatalen Zustand des Hauses, weil viele Zimmer noch unvollendet waren.

Wer sorgte für die Kinder?  

Politisch war Luzern im 19. Jahrhundert lange ein gespaltener Kanton. Viele Jahre lang kämpften die Liberal-Freisinnigen gegen die Katholisch-Konservativen. Das bekamen auch die Bewohner der Waisenanstalt zu spüren. Regelmässig wechselten sich bis in die 1850er-Jahre eine liberale und eine katholisch-konservative Kantonsregierung ab.

Auf jeden Wechsel in der Kantonsregierung folgte auch ein Wechsel des Aufseherpersonals. Waren die katholischen Kräfte an der Macht, leiteten die Ordensschwestern für fünf Jahre das Heim. Verloren sie Ihre Sitze in der Kantonsregierung, war wieder weltliches Personal für die nächsten Jahre beauftragt, die Waisenanstalt zu führen.

Erst 1855 wurde die Lage ruhiger. In diesem Jahr wurden nämlich die Ingenbohler Schwestern vom Heiligen Kreuz damit beauftragt, die Aufsicht über die Kinder zu übernehmen. Auch wenn die liberalen Kräfte befürchteten, dass alles «zu religiös» abliefe, fanden sie sich mit dieser Lösung ab. Und so übernahmen die Schwestern die Leitung des Waisenhauses für die nächsten 100 Jahre. Dabei war wahrscheinlich auch ausschlaggebend, dass sie wesentlich billiger waren als das nicht klerikale Personal.

«Defizitäre» Kinder

Waisenhäuser prägten die Anstaltslandschaft in allen Kantonen der Schweiz. Sie waren oft stellvertretend für die ärmste Bevölkerungsschicht. Wie erwähnt, entriss man die Kinder oftmals ihren Familien, weil die Eltern finanziell nicht mehr für das Kind aufkommen konnten. Die Räte Luzerns wollten nicht, dass die Kinder in armen Familien aufwuchsen, denn dies schade den Kindern. So erlitten viele Familien schmerzhafte Trennungen. Ein Besuch der eigenen Eltern war in Luzern höchstens zweimal pro Jahr gestattet.

Weil die in Armut aufwachsenden Kinder selten als Hilfe suchend und in Not betrachtet wurden, sondern viel öfter als «verdorbene Naturen» und «defizitäre» Kinder aus schlechtem Elternhaus, wurden sie auch in den Kinderheimen so behandelt. Im 19. Jahrhundert kritisierte der Luzerner Waisenrat immer wieder, dass das Waisenhaus kein «menschenfreundlicher» Ort wäre. Trotzdem änderte sich daran sehr lange kaum etwas.

Alltag in einem Luzerner Waisenhaus im 19. Jahrhundert

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war das Leben eines Waisenkindes in einer Waisenanstalt durch strengsten Gehorsam und einen strikten Tagesablauf geprägt. Die Anstalt war alles andere als ein Ort, an dem man die Kinder fördern und ihnen ein Zuhause geben wollte. Die Kreativität, Selbstbestimmung oder individuelle Entfaltung der Kinder zu fördern, war auch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts keine gängige Praxis.

Ein Tag startete nach einem kurzen Frühstück mit Handarbeit und Lehrstunden bis zum Mittag. Nach dem Mittagessen noch einmal Handarbeit und weitere Lehrstunden. «Zur Abwechslung» gab es nach einer «Zvieri»-Pause und einer halben Stunde ohne Aufgaben noch einmal eine Schicht Handarbeit und noch mehr Lehrstunden, bevor es nach dem Nachtgebet um 20 Uhr wieder ins Bett ging.

Altmodische Anstaltskleidung

Die Mädchen und Jungen mussten einheitliche Anstaltskleidung tragen, welche meist sehr altmodisch war und dazu führte, dass man die Kinder auf den ersten Blick als Waisen erkannte. So mussten sie oft Ausgrenzung und Scham erdulden. Als die Kinder in der Mitte des 19. Jahrhunderts schliesslich nicht mehr in der Anstalt lernten, sondern in die öffentlichen Schulen geschickt wurden, wurden sie noch mehr ausgegrenzt.

Die Kinder wurden selten in die Sekundarschule geschickt. Grösstenteils landeten sie direkt in der Hilfsschule, weil sie in intelligenteren Kreisen nichts verloren hätten. Auch die Aufseher selbst versuchten, die Heimkinder so gut wie möglich von anderen Kindern abzuschirmen. Diese Ausgrenzung wurde zusätzlich dadurch verstärkt, dass auch Eltern aus dem Bürgertum den Kontakt zwischen ihren Kindern und den Kindern aus der Waisenanstalt zu verhindern versuchten.

Kinderheim der Ortsbürgergemeinde: Fassadenansicht Ansichtskarte; Verlag: E. Goetz, Luzern ohne Datierung, zwischen 1911 und 1960
Kinderheim der Ortsbürgergemeinde: Fassadenansicht. Ansichtskarte; Verlag: E. Goetz, Luzern, ohne Datierung, zwischen 1911 und 1960. Später Nachbau am Standort des heutigen Naturmuseums. (Bild: Stadtarchiv Luzern; B2N/312:1)

Physische «Züchtigung» und keine Privatsphäre

Im 19. und 20. Jahrhundert verstand man die physische «Züchtigung» von Kindern – und auch von Erwachsenen – als ein angemessenes Mittel, um jemanden zu bestrafen. Wenn ein Kind trotzig wurde, schlug man es so lange mit einem Stock oder einer Rute, bis sein Wille gebrochen war. Wie Daniela Walker, die Leiterin des Stadtarchivs, in ihrem Buch über die Geschichte des Kinderheims an der Baselstrasse schreibt, waren dies keine willkürlichen Strafen, sondern «gezielt eingesetzte pädagogische Mittel».

Sexueller Missbrauch und Essensentzug

Neben Schlägen wurden die Kinder oft auch bestraft, indem ihre Essensrationen gekürzt oder gar ganz gestrichen wurden. Bei schlimmeren Vergehen sperrte man ein Kind auch für einige Stunden in den Kohlenkeller. Obwohl die Aufseher verpflichtet waren, alle Bestrafungen zu notieren und zu begründen, wurden die Kinder oft Opfer willkürlicher Bestrafungen.

Während physische Züchtigung auch in den öffentlichen Schulen Alltag war, nahm diese Gewalt in den Kinderheimen hinter verschlossenen Türen viel grössere und schlimmere Ausmasse an. Die Waisenkinder hatten niemanden, der sich für sie einsetzte. Die Erfahrungen und Bestrafungen müssen sich von Kind zu Kind stark unterschieden haben. Mit Sicherheit mochten die Aufseher einige Kinder lieber und bestraften diese weniger. Während einige womöglich eine gute Beziehung zu den Aufseherinnen pflegten und kaum Gewalt erdulden mussten, wurden andere wohl wesentlich härter angegangen und von den Aufsehern auch sexuell missbraucht.

Das Leben danach

Der Kanton Luzern erteilte 2010 einen Auftrag, welcher es zum Ziel hatte, das Leid und die Missstände in den verschiedenen Kinderheimen in Luzern zu analysieren und aufzuarbeiten. Darin wurden viele ehemalige Heimkinder interviewt, welche beschrieben, wie das Leben war und welche Probleme die Kinder hatten.

Die Probleme reichten von fehlender Zuwendung, Diskriminierung und Willkür der Erzieher, über die Scham, öffentlich zu sagen, dass man in einem Heim aufwuchs, bis hin zu grossen Schwierigkeiten im Leben nach der Zeit im Heim wegen der schmerzhaften Erinnerungen und traumatischen Erlebnisse. Die sexuelle Gewalt, die Stigmatisierung und die fehlenden Anlaufstellen für die Kinder beschreiben eindrücklich, was es hiess, in einem Kinderheim aufzuwachsen.

 Bruch mit dem strikten autoritären Erziehungssystem

Erst in den 1970er-Jahren änderten sich viele Werte in der Kindererziehung. Nach und nach rückten die Individualität und die Selbstentfaltung ins Zentrum, während der strikte Gehorsam und die autoritäre Erziehung langsam an Wert verloren. Als auch die Ingenbohler Ordensschwestern ihren Vertrag auflösten und das weltliche Ehepaar Steiner-Horat das Personal ersetze, suchte der Luzerner Rat mit der neuen Leitung langsam einen Weg heraus aus dem stark autoritären und strikten Erziehungsstil.

Denn obwohl das System und der Erziehungsstil in den Kinderheimen immer wieder kritisiert wurde, hatte sich bis dahin nie wirklich etwas geändert. Erst in der Zeit des Umbruchs und der Jugendproteste in den 70er-Jahren rückten das Wohl der Kinder und deren Individualität mehr in den Fokus.

Naturmuseum im originalgetreuen Nachbau

Stellvertretend für diesen Wandel in der Gesellschaft steht auch der Bau einer neuen Kindersiedlung. Weil man 1966 die Autobahnausfahrt an der Baselstrasse plante und das Kinderheim im Weg war, musste es seinen Standort wechseln. 1969 stimmten die Luzerner für den Neubau der Kindersiedlung Utenberg, welche zwei Jahre später fertiggestellt und in Betrieb genommen wurde. Obwohl das Kinderheim an der Baselstrasse abgerissen wurde, kann man es heute noch bestaunen. Weil es unter Denkmalschutz stand, hat man es originalgetreu nachgebaut. Bis heute ist darin das Naturmuseum untergebracht.  

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Ob Hintergründe zu alten Gebäuden, Geschichten zu Plätzen, stadtbekannte Personen, bedeutende Ereignisse oder der Wandel von Stadtteilen – im «Damals»-Blog werden historische Veränderungen und Gegebenheiten thematisiert.
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5 Kommentare
  • Profilfoto von ccc
    ccc, 14.01.2022, 18:26 Uhr

    Interessant.
    Wie war es in der Steiner Ära?

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  • Profilfoto von livas
    livas, 14.01.2022, 18:24 Uhr

    Interessant

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  • Profilfoto von Florian Fischer
    Florian Fischer, 14.01.2022, 17:42 Uhr

    Die sehr lesenswerte Geschichte «Vom Waisenhaus zur Kinder- und Jugendsiedlung Utenberg» von Daniela Walker ist erhältlich beim Stadtarchiv Luzern.

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  • Profilfoto von Hegard
    Hegard, 14.01.2022, 14:55 Uhr

    Sehr Interessant.
    Ich liebe die Geschichte Luzerns.Die Strassennahmen sagen schon viel über das Gewerbe aus.Ich gelte schon als Dinosaurier,wenn ich den Jungen erzähle,das in der Schür früher ein Pferdestall mit Kutschen war.Auch Gmür wo sich Caritas eingenistet hat,war anfangs ausschliesslich ein
    ein Pferde Transport Unternehmen,usw.
    Auch die Baslerstrasse hat eine lange Geschichte die früher ausserhalb der Stadt des Baslertor für die ärmeren Leute war und viele Einwanderer aufnahm

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  • Profilfoto von Lp
    Lp, 14.01.2022, 11:49 Uhr

    Spannend!!

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