«Damals»
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Lustmörder und «Waldmensch» von Krumbach

Als in Luzern der letzte Mörder enthauptet wurde

Der «Waldmensch» Anselm Wütschert auf einem Polizeifoto nach seiner Verhaftung. (Bild: Polizeimuseum Luzern)

Ein grausamer Mordfall erschütterte die Schweiz vor über 100 Jahren. Das brutale Verbrechen des «Lustmordes im Krumbach» ist bis heute beispiellos. Es ist die Geschichte des «Waldmenschen» Anselm Wütschert. Und es ist auch die Geschichte der letzten zivilen Hinrichtung im Kanton Luzern.

Wir schreiben den 16. Mai 1914. Es ist ein sonniger Samstagnachmittag in der Luzerner Gemeinde Geuensee. Auf dem Pausenplatz des Schulhauses nahe der Ortschaft Krumbach herrscht reges Treiben. Die Schulkinder verbringen ihre Nachmittagspause an der frischen Luft.

Um halb drei Uhr dringt aus dem nahe gelegenen Hölzliwald ein merkwürdiges Geschrei. Die Kinder horchen auf. Auch der Lehrer Jakob Riedweg, der Aufsicht hat, vernimmt die Rufe. «Es war mehr ein Stöhnen und ein unbestimmtes Durcheinander, wie wenn 2, 3 Kinder miteinander stritten», gibt Riedweg später zu Protokoll. Der Lehrer glaubt, der Lärm stamme von Zigeunern im Wald. Noch ahnt er nicht, was für ein Grauen sich jenseits des Feldes im Dickicht abgespielt hat.

Am selben Abend, gegen neun Uhr, geht eine Meldung beim Polizeiposten in Sursee ein. Die 20-jährige Emilie Furrer wird seit dem frühen Abend in Krumbach vermisst. Einsatzkräfte machen sich auf den Weg, suchen gemeinsam mit Bauern und Knechten bis Mitternacht mit Licht den Hölzliwald ab. Ohne Erfolg. Die junge Frau bleibt verschwunden.

Emilie Furrer ist zur Kur in Krumbach

Emilie Furrer verbrachte auf Anraten ihres Arztes ein paar Tage bei ihrem Onkel Xavier Furrer in Krumbach. Sie hatte ein leichtes Lungenleiden und der Arzt meinte, Waldluft würde ihr guttun. «Sie ging, wenn das Wetter es erlaubte, in den Wald», erklärte Xavier Furrers Frau Karolina Furrer später den Behörden.

Im Wald setzte sie sich jeweils in den Schatten und widmete sich ihrer Häkelarbeit. «Als sie zum ersten Male in den Wald ging, fragte sie, ob sie denn sicher sei», so Karolina Furrer weiter. «Ich sagte, dass man noch nie etwas ungerades gemerkt habe.»

Ein undatiertes Bild des Opfers Emilia Furrer. (Bild: Staatsarchiv Luzern)

Ein Mord von beispielloser Brutalität

Die Suchaktion geht am frühen Morgen des 17. Mai im Licht der Dämmerung weiter. Xavier Furrers Knecht, Johann Köchli, ist es, der erst eine Blutlache und unweit davon entfernt eine «unheimliche Erhöhung» entdeckt. Unter Moos und Tannenästen liegt Emilie Furrer.

Der Anblick, der sich den Einsatzkräften bietet, ist grauenhaft. Die Leiche der jungen Frau ist bis auf das zerrissene Hemd entkleidet. Neben der Leiche liegen der Korb mit ihrer Häkelarbeit und die Schuhe – säuberlich nebeneinander gestellt. Die restlichen Kleider liegen auf der Leiche selbst – ausser den Strümpfen. Diese fehlen. Die Surseer Amtsärzte Dr. Beck und Dr. Schütz untersuchen die Leiche noch am Tatort und stellen Verletzungen von beispielloser Brutalität fest.

Der Kopf der 20-jährigen Frau weist grosse Blutergüsse an den Schläfen auf. Ihr Hals wurde bis auf den Kehlkopf durchtrennt. Teile der rechten Brust fehlen ebenfalls. «Es fehlt circa die Hälfte des weggeschnittenen Stückes», hält ein Bericht des Kriminalgerichts fest. Brutal verstümmelt wurden auch ihre Geschlechtsorgane. Als Todesursache halten die Ärzte fest: Verblutet infolge der Halswunde. Eine spätere Obduktion beweist zudem: Emilie Furrer wurde vergewaltigt. Nachdem sie ermordet worden war.

Die Polizei findet die Leiche der jungen Frau im Waldstück nahe Krumbach. (Bild: Staatsarchiv Luzern)

Die Jagd nach dem «Waldmenschen» beginnt

Dass man es hier mit einem Mord zu tun hat, ist schnell klar. Umso dringlicher ist es den Behörden, den Täter zu finden. Unter der Leitung von Polizeihauptmann Xaver Jans beteiligen sich zahlreiche Polizisten und Privatpersonen an der Suche nach dem Täter. Überall in der Umgebung stösst man auf Spuren eines Menschen, der seine Lager im Wald aufgeschlagen hat. Decken, Bretterverschläge, ein Emailhafen mit frischer Milch. Bald ist von einem Waldmenschen die Rede, der in der Gegend sein Unwesen treibt.

Stück für Stück fügte sich ein Bild zusammen. Verschiedene Menschen aus der Umgebung geben an, dass sie in den vergangenen Tagen und Wochen einen «auffälligen und furchteinflössenden Menschen» mit ungepflegtem Vollbart gesehen haben. Dass ihre Kühe des Nachts heimlich gemolken oder dass ihnen Lebensmittel und Decken entwendet worden sind.

Zehn Tage später scheuchen drei Polizisten in den Wäldern oberhalb des Dorfes Wetzwil einen Mann auf, der gleich die Flucht ergreift, aber kurz darauf eingeholt und durchsucht werden kann. In den Taschen des verwahrlosten Mannes finden sie die schwarzen Strümpfe, wie Emilie Furrer sie getragen hatte – und die bei ihrer Leiche nicht mehr vorhanden waren – und ein blutiges Stück Leinentuch. Darin eingewickelt: die abgeschnittenen Schamlippen der jungen Frau.

Der Waldmensch gibt sich als Anselm Wütschert von Mauensee zu erkennen. Er wird sofort ins Gefängnis von Sursee gebracht, wo er verhört wird.

Die verkorkste Jugend eines Vagabunden

Anselm Wütschert kam am 11. Februar 1881 in Ruswil zur Welt. Er war einer von drei Söhnen eines Tagelöhners und einer Magd, die später als Prostituierte ihr Geld verdiente. Die Ehe zerbrach und Anselm Wütschert wurde im Alter von neun Jahren zum Verdingbuben verschiedener Bauern. Lehrer und Vormunde beschrieben ihn als faul und verkommen, als Dieb und Lügner.

«Sie wollte lieber sterben, als eine schwere Sünde begehen. Ein Wort, das sie dann gehalten hat.»

Bericht des Kriminalgerichts Kanton Luzern

Später verdient er sein Geld als Knecht und Hilfsarbeiter in der Schweiz, dann im Elsass und Strassburg, bevor er 1910 mittellos wieder in die Schweiz zurückkehrte, wo er als Vagabund durch die Gegend zog und schliesslich im Luzernischen landete, wo er am 16. Mai 1914 im Hölzliwald Emilie Furrer begegnete.

Emilie Furrer, die bei einem alt Grossrat in Inwil als Magd angestellt war, wurde rundherum als brav, still und zurückgezogen beschrieben. Ausserdem als sehr keusch und religiös. «Ein paar Tage vor ihrem Tode sagte sie noch, sie wollte lieber sterben, als eine schwere Sünde begehen. Ein Wort, das sie dann gehalten hat», heisst es in einem Bericht des Kriminalgerichts des Kantons Luzern.

Ein grausiges Geständnis

Wütschert gesteht den Mord an dem «keuschen Meitli», wie er es nennt, bei der ersten Einvernahme. Er habe das Lager beim Krumbach aufgegeben, weil er da nicht mehr sicher gewesen sei. «Die Landjäger haben mich nehmen wollen. Weil ich ein Mädchen getötet habe.» Der Waldmensch schildert den Tatvorgang mit grausiger Präzision. Er habe es «vögeln» wollen, das Mädchen aber habe sich geweigert. Es wolle diese «Schlechtigkeit» nicht tun. Lieber würde es sterben, habe es gesagt und begonnen zu beten.

Wütschert schlug der jungen Frau mehrmals an die Schläfe und als es zu schreien begann, würgte er sie. «Es hatte auch eine Schere dabei und mit derselben habe ich ihm die Gurgel verhauen», erzählt er weiter. «Nachher habe ich ihm am Herz und ‹Überunten›, zwischen den Beinen, noch abgehauen mit der Schere.»

«Das Leben ist mir verleidet.»

Anselm Wütschert, Mörder

Die Beamten wollen es genauer wissen, Wütschert gibt Antwort. «Das Loch war zu klein, um mein Geschlechtsteil hineinstossen zu können. Habe dann abgehauen, damit das Loch grösser würde. Nachdem ich abgehauen, habe ich es ihr gemacht und zwar nachdem es schon tot war.» Es habe ihn angefangen zu «grausen», erzählt er. Er habe schon etwas Mühe gehabt, denn «es war nicht gleich, wie wenn eine Person noch lebt».

Den Mord hat Wütschert aus einem einfachen Grund begangen: «Das Leben ist mir verleidet.» Er habe sich auch schon erhängen wollen, traute sich dann doch nicht, weil ihm dieser Tod «e chli lang» dauern würde. Aber die Strafe nach einem Mord – Enthauptung –, die ginge «gleitiger». Während der insgesamt elf Verhöre zeigt Wütschert keine Anzeichen von Reue oder Aufregung. «Hin und wieder nahmen seine Gesichtszüge einen Ausdruck an, als ob er lachen wollte», hält der Rapport fest.

Im Staatsarchiv Luzern finden sich die Verhörprotokolle. (Bild: Staatsarchiv Luzern)

Ein Fall von «unsäglicher Verkommenheit»

Wütschert kam schon früher in Konflikt mit dem Gesetz, wurde 1904 in Frankreich wegen Schmuggel für drei Tage weggesperrt. Im Luzernischen hat er mehrere Diebstähle begangen, Geld, Nahrung, Kleider und Werkzeug entwendet und einen Bauer mit einer Mistgabel verletzt. Und er ist schon früher Frauen und gar Schulmädchen aufgelauert, weil er «geschlechtlich aufgeregt» gewesen sei. Zwar hatte er die Absicht, sie zu überfallen, ihm habe aber der Mut gefehlt.

Die Surseer Amtsärzte Beck und Schütz erstellen auf Gesuch des Luzerner Kriminalgerichts ein Gutachten über den Zustand des Inhaftierten. Sie unterziehen Wütschert mehreren Tests, stellen fest, dass er zwar eine «abnorme Schädelbildung» vorweist, die einer «schwachen geistigen Entwicklung» entspricht, dass sein Schwachsinn aber nicht «hochgradig» sei.

Die Amtsärzte konstatieren, dass Wütschert keine Geisteskrankheit vererbt bekommen habe, wohl aber die «schlechten Charaktereigenschaften» seiner Eltern. Wütschert gilt – entgegen dem Plädoyer seines Verteidigers Josef Hinnen – als zurechnungsfähig. Beck und Schütz kommen zum Schluss, dass Wütschert nicht aufgrund von Krankheit gemordet hat, sondern wegen «unsäglicher Verkommenheit».

Anselm Wütschert wird des Mordes, Raubversuchs, Schändung und fortgesetzten kriminellen Diebstahls angeklagt.

Keine Gnade für Wütschert

Obwohl Wütschert mehrmals betont, sterben zu wollen, reicht er am 14. Januar 1915 über seinen Verteidiger Hinnen überraschend ein Gnadengesuch ein. Er hofft, seine mangelnde Erziehung, das zerrüttete Verhältnis zu seinen Eltern und seine «geistigen Defekte» geltend zu machen und so der Todesstrafe zu entgehen. Stattdessen plädiert er auf lebenslängliche Zuchthausstrafe.

Das Gnadengesuch wird vom Grossen Rat mit 103 gegen 32 Stimmen abgelehnt. Das Urteil: «Anselm Wütschert sei verurteilt zum Tode mittelst Enthauptung und zum Verluste der bürgerlichen Ehren und Rechte.»

Der Scharfrichter aus Rheinfelden reist nach Luzern

Fehlt nur noch etwas: der Scharfrichter. Hierfür wendet sich das Justizdepartement an Theodor Mengis, einen Weichenwärter aus Rheinfelden, der schon früher als Scharfrichter in Luzern Hinrichtungen vorgenommen hat. «Für den Hinrichtungsvollzug zahlt Ihnen das herwärtige Departement eine fixe Entschädigung von 450 Franken sowie eine Extrazulage von 50 Franken in dem Falle, wo die Besorgung des Ihnen übertragenen Mandates durch Sie vollkommen korrekt erfolgt», heisst es in einem Brief vom 2. Januar 1915.

Drei Tage später trifft beim Justizdepartement ein Antwortschreiben des 63-jährigen Theodor Mengis ein. «Teile Ihnen mit, dass ich das Scharfrichtermandat unter aufgeführten Bedingungen übernehme und versichere Sie für korrekte Ausführung des mir übertragenen Mandates.»

Der letzte Kopf rollt

Am 20. Januar 1915 um neun Uhr morgens wird Anselm Wütschert aus seiner Zelle in der Strafanstalt Luzern geholt. Ihm werden die Augen verbunden. Begleitet von zwei Geistlichen und unter Bewachung von zehn Polizisten wird Wütschert zur Richtstätte im Holzhof der Strafanstalt gebracht, wo er Scharfrichter Mengis übergeben wird. Der Raum ist mit schwarzen Stoffbahnen drapiert, anwesend sind mehrere Amtspersonen, darunter auch Regierungsrat Jakob Sigrist mit seinem Departementssekretär Xaver Schnieper.

Wütschert wird bäuchlings auf die Guillotine gelegt. Mengis löst das Fallbeil aus. Wenige Minuten nach neun Uhr ist Anselm Wütschert tot. Der Hinrichtungsakt lief gemäss dem Bericht des Justizdepartements «rasch und korrekt» ab. Wütscherts Leiche wird auf Anweisung von Regierungsrat Sigrist auf dem städtischen Friedhof im Friedenthal beerdigt. Der Lustmörder vom Krumbach ist Geschichte. Seine Tat und sein Tod hallen bis heute nach.

Die Guillotine im Historischen Museum Luzern. (Bild: Historisches Museum Luzern, Theres Bütler)

Die Luzerner Guillotine bleibt noch jahrelang im Einsatz

Die Hinrichtung Anselm Wütscherts geht als letzte zivile Hinrichtung im Kanton Luzern in die Geschichte ein. Das Fallbeil der Luzerner Guillotine fiel indes in der Schweiz noch einige weitere Male. Mit dem Dreifachmörder Hans Vollenweider wurde in der Strafanstalt Sarnen am 18. Oktober 1940 der letzte Mensch in der Schweiz zivilstrafrechtlich hingerichtet.

1942 wurde die Todesstrafe aus dem zivilen Strafrecht gestrichen. Die Todesstrafe im Militärstrafrecht wurde indes erst 1992 aufgehoben. 2002 bekannte sich die Schweiz im Rahmen der Europäischen Menschenrechtskonvention zur «Abschaffung der Todesstrafe unter allen Umständen».

Verwendete Quellen
  • Strafurteil Wütschert, Staatsarchiv X 33/145
  • Protokoll Regierungsrat, Staatsarchiv RRB 1915/95
  • Anklage Anselm Wütschert, Staatsarchiv X 20/162
  • Personalakte Anselm Wütschert, Staatsarchiv AKT 413W/970
  • Informationen zur Todesstrafe vom Schweizerisches Bundesarchiv
  • Artikel in der «Weltwoche» vom 20. Januar 2005
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1 Kommentar
  • Profilfoto von Müller
    Müller, 14.11.2022, 09:47 Uhr

    Die Guillotine war lange Zeit auf dem Dachboden Gefängnis Löwengraben,

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