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Ein Erdrutsch mitten in Luzern

Als der Gütschhang vier Leben ausgelöscht hat

1908 sorgte ein Erdrutsch an der Baselstrasse für eine Tragödie. (Bild: Gemeinfrei)

12’000 Tonnen Gestein bedrohen derzeit mehrere Häuser mitten in der Stadt Luzern. Bereits vor über 100 Jahren kam es hier zu einem Unglück. Damals geriet der Gütschhang ins Rutschen – mit fatalen Folgen. Untergrundgänger Michael Weber zeigt auf, welches tragische Schicksal eine italienische Einwandererfamilie damals ereilt hat.

Dass der steile Gütschhang immer wieder für eine schlimme Überraschung sorgen kann, zeigt sich, wenn die Feuerwehr Anwohnerinnen und Anwohner mal wieder mitten in der Nacht aus dem Bett klingelt, weil der Hang ins Rutschen kommen könnte. So auch vor wenigen Wochen an der Gibraltarstrasse (zentralplus berichtete).

Dass diese Angst nicht unbegründet ist, zeigt ein besonders schlimmer Fall vom 22. Juli 1908. Damals wurden bei der Baselstrasse 51 ein 19-jähriger Geselle und drei Kinder im Schlaf von Erdmassen verschüttet. Sie erstickten und konnten nur noch tot geborgen werden.

Klassische Einwandererfamilie

Das Schuhmacherehepaar Berinotti kam im Jahre 1889 aus dem italienischen Treviso nach Luzern. Hier übten sie ihren Beruf zunächst an der Bireggstrasse aus. Zur Jahrhundertwende eröffneten sie eine kleine Boutique an der Baselstrasse 51. Dazu mietete die junge Familie die dahinter liegenden Wohnräume.

Hier habe Berinotti laut Zeitungsberichten als stiller, arbeitsamer Handwerksmann mit seiner Familie glücklich gelebt. Hinter dem Haus hatte die Familie eine kleine Terrasse, auf der sie auch Kleintiere hielt. Und am Hang betrieb die Familie ein Gärtchen zur Selbstversorgung – ein Lebensstil, der zur damaligen Zeit üblich war.

Schicksalsnacht löscht halbe Familie aus

Um 4.30 Uhr kam es am 22. Juli 1908 zu einem grossen Bergrutsch, bei dem sich die Berglehne auf etwa 20 Meter Höhe ablöste. Die Stützmauer der Terrasse wurde eingedrückt und die Erdmassen verschütteten die hinteren Räume. Die schlammige Erde drückte den Schopf, das hintere Schlafzimmer und einen Teil des vorderen Schlafzimmers nieder – «wohl alles, was Leben hatte, erstickend und zerdrückend», wie das «Luzerner Tagblatt» noch am selben Tag berichtete.

Schaulustige während der Aufräumarbeiten nach dem Erdrutsch an der Baselstrasse 51 vom 22. Juli 1908.
Schaulustige während der Aufräumarbeiten nach dem Erdrutsch an der Baselstrasse 51 vom 22. Juli 1908. Das Bild stammt aus der «Illustrierten Luzerner Chronik» von 1908. (Bild: Gemeinfrei)

Im Schlaf getötet wurden dabei der zwölfjährige Antonio, die achtjährige Maria und der sechsjährige Arthur. Ebenfalls den Tod fand der 19-jährige Geselle Tiberio Liberto. Auch er stammte, wie sein Meister, aus Treviso und lebte zusammen mit der Familie Berinotti an der Baselstrasse 51. Herr und Frau Berinotti konnten gemeinsam mit ihrer vierjährigen Tochter, die bei der schwangeren Mutter schlief, in den Laden und auf die Strasse fliehen.

Verbleib der Familie ist unbekannt

Am Tag darauf schrieb das «Tagblatt»: «Überwältigt von dem Geschehenen stehen Vater und Mutter am Sarge ihrer drei lieben Kinder und des treuen Mitarbeiters, die das Unheil im Schlummer überfiel. Ein viertes Kind wird von der Mutter demnächst erwartet. Und neben dem Verlust der lieben Kinder beklagt der Mann seine Habe; denn alles, was an Möbeln in den Kammern war, ist ruiniert; sein Geschäft wird für längere Zeit geschlossen sein müssen. Bereits hat eine mildtätige Hand für die schwer betroffene Familie Berinotti 50 Franken bei uns niedergelegt.»

Wohl ein eher schwacher Trost für das Ehepaar, über dessen weitere Zukunft leider nichts bekannt ist. Nur für ein einziges Lebewesen gab es bei der Katastrophe doch noch ein Happy End:

«Als im Laufe des Nachmittags die zusammengedrückte Bettstelle, auf der man den neunzehnjährigen Arbeiter und den sechsjährigen Knaben gefunden hatte, aus den Erdmassen entfernt wurde, sprang eine Katze aus dem Schutte hervor. Die hatte unter dem Bett, in der hintersten Kammerecke, Schutz gefunden und die Katastrophe überlebt.»

Verwendete Quellen
  • «Illustrierte Luzerner Chronik» vom 31. Juli 1908
  • «Luzerner Tagblatt» vom 17. Juni 1885, 22. Juli 1908 und 23. Juli 1908.
  • «Zeitensprünge und Grenzgänge», Selbstverlag Untergrundgang, 2019

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