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Frag nicht, wie es mit der Anwaltsprüfung läuft

Nach dem Studium folgt die Willkür

Lernphase vor der Anwaltsprüfung: Sich verstecken vor Ablenkung und gut gemeinten Ratschlägen. (Bild: Pexels (Symbolbild))

Kennst du jemanden, der gerade für die Anwaltsprüfung lernt? Dann geht es dir wie mir mit meiner guten Freundin Emilie. Für diesen Blog wollte ich es genauer wissen: Was macht die Anwaltsprüfung zu solch einer Lotterie und wie kann ich Emilie als Freundin unterstützen? Deshalb erzähle ich heute aus der Sicht von Emilie, wie es ihr drei Wochen vor der schriftlichen Prüfung geht.

Wenn ich samstags irgendwo bis 1 Uhr morgens bleibe, bin ich die Aussenseiterin meiner Lerngruppe. Auf Alkohol verzichte ich seit Wochen, aber auf meine sozialen Kontakte verzichten kann ich nicht. Dafür ist meine Lernzeit zu lange. Sie dauert in Zürich durchschnittlich 4.5 Monate. Das gesamte Verfahren ist von Kanton zu Kanton unterschiedlich, was ein absoluter Witz ist. Am Schluss darf ich als Anwältin trotzdem überall praktizieren. Wegen der Differenzen gibt es sogar solche, die für die Prüfung extra in eine andere Stadt ziehen. Anwaltsprüfungs-Tourismus sozusagen.

Doch egal, wo du die Prüfung ablegst, eines haben alle gemeinsam: Der Druck ist riesig und der Stoffumfang gigantisch. Nichts scheint mir so unberechenbar wie das Verfahren für das Anwaltspatent. Es gleicht einem Glücksspiel. Mit Lernen kannst du deine Glückskomponente verkleinern, aber du bringst sie nicht weg.

Lernen, vergleichen, verzweifeln

Da es nicht möglich ist, alles zu lernen, beginnt man zu pokern: Ich kenne die Spezialgebiete meines Prüfers. Aber er ist jetzt pensioniert. Vielleicht hat er nun plötzlich Lust, mal etwas anderes abzufragen … Natürlich kann auch kurzfristig dein Prüfer wechseln – also setzt du da besser nicht zu viel auf eine Karte.

Zur Vorbereitung konnte ich offiziell alte Prüfungen bestellen. Aber ohne offizielle Musterlösungen. In den meisten Fällen gibt es kein eindeutiges Richtig oder Falsch, da man auf beide Seiten argumentieren kann. In der Lerngruppe gleichen wir jeweils unsere Lösungen ab, was den Leistungsvergleich untereinander verstärkt. Unter der Hand werden gelöste Prüfungen mit Kommentar des Prüfers weitergegeben – wenn du Glück hast, erhältst du eine.

Auslegeordnungen, Holzwege und andere Unsicherheiten

Meine Karriere hängt von einem einzigen Prüfer ab. Natürlich könnten die weiteren vier Gutachterinnen ein Veto einlegen – das ist aber eher unwahrscheinlich. Als wäre dies nicht genug, gilt es zuerst mal den Prüfungsstil zu verstehen. Die Aufgabenstellung meines Prüfers lautet manchmal: «Anwalt XY möchte Rat» oder noch besser: «Machen Sie eine Auslegeordnung.» Da weisst du weder, was er hören will, noch, ob du dich während der zehnstündigen Prüfung nicht völlig auf dem Holzweg befindest.

Was die meisten nicht verstehen: Das Risiko, die Prüfung nicht zu bestehen, ist RIESIG. Beim letzten Mal sind bei meinem Prüfer acht von zehn Kandidaten durchgefallen. Und sogar das Prüfungsresultat ist, zumindest am Anfang, unsicher: Ich bekomme ein provisorisches Resultat, nachdem mein Prüfer meine Leistung bewertet hat. Seine Entscheidung könnte aber von den restlichen Gutachtern widerrufen werden. Anschliessend erhalte ich den definitiven Entscheid. Dieses zweiphasige Verfahren ist meiner Meinung nach ziemlich sinnlos und verwirrend. Frag mich bitte nicht, wieso man dies so handhabt …

Planungssicherheit = Null

Etwa 70 Prozent der Anwärterinnen müssen den schriftlichen oder mündlichen Teil mindestens einmal wiederholen. Da wären wir dann bei der nächsten Unsicherheit: Wartezeiten zum Wiederholen. Je nachdem kannst du in zwei, drei, vielleicht aber auch erst in sieben Monaten nochmals antreten. Natürlich wird der psychische Druck bei jeder Wiederholung grösser. Und finanziell wird’s enger: Mit jeder Wiederholungsprüfung erhöhen sich die finanziellen Sorgen.

Am Tag X kann alles passieren. Das Bestehen ist von meiner Tagesform abhängig, ob ich per Zufall gerade den richtigen Artikel im Gesetz entdecke und ob ich schon mal einen ähnlichen Fall behandelt habe. Es geht nicht ums Auswendiglernen, so viel kann sich sowieso kein Mensch merken. Meine absolute Hassfrage lautet: «Bist du schon weit mit Lernen?» Nein, denn es ist eine never ending story, Mann! Es ist ja nett, wenn man sich um mich sorgt. Aber nur Personen, die es selbst durchgemacht haben, können mich verstehen – sorry.

Sei still und stell das Bier kühl

Dass man alles lernen muss, aber nie weiss, was kommt. Das ist für mich das Schlimmste. Dass so viel vom Zufall abhängt, drückt auf meine Motivation. Und dann noch der Druck von aussen: «Bei dir mache ich mir keine Sorgen, du warst immer gut im Studium», ist ein Satz, den ich nicht mehr hören kann. Die besten Juristinnen fallen durch! Ich habe Angst vor dem Versagen.

Nach all dem monatelangen Büffeln musste ich vor allem eins lernen: Dass nicht nur das Anwaltspatent mich ausmacht, auch wenn es gerade mein Leben bestimmt. Diese Abgrenzung ist wichtig. Gleichzeitig ist es ja offensichtlich, dass ich das ganze Spiel möglichst schnell hinter mich bringen möchte. Erwarte also nichts von mir in der nächsten Zeit. Es gibt tatsächlich Leute, die sauer sind, wenn ich mich nicht oft genug melde oder spontan absage …

Und sei bitte vorsichtig mit deinen Ratschlägen. Ich kann sie gerade sowieso nicht annehmen. Erzähl mir doch, was in deinem Leben gerade nicht so gut läuft und wie du dich motivierst, nicht aufzugeben. Und dann sag ich dir, was auch mir zurzeit helfen würde: «Ich verstehe, dass es schwierig ist für dich. Es gibt Dinge, die man nicht beeinflussen kann. Aber he, probier’s einfach mal, vielleicht hast du ja Glück?! Ich bin sicher, du wirst dein Bestes geben. Und wenn alles vorbei ist, dann stossen wir gemeinsam auf das Leben an!»

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Kommilitonen, Nebenjob, Credits, Wohngemeinschaften, Prüfungszeit, Ausgang, Semesterferien, Essays – Begriffe, die den Alltag von Studierenden prägen. Im Campus-Blog schreiben Studierende aus unterschiedlichen Semestern über ihr Leben in Luzern, ihre Freizeit sowie die Hürden und Freuden an der Uni oder Hochschule.
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2 Kommentare
  • Profilfoto von irene.maria.koller
    irene.maria.koller, 12.10.2021, 15:49 Uhr

    Ich wünschte mir Anwälte, denen der Beruf Berufung ist und Rechtsstaatlichkeit oberstes Gebot. Wenn Professoren an sich und ihre Schützlinge ebensolche Ansprüche stellten, anstatt sie mit irrigen Prüfungsfragen ins Abseits zu stellen, sähe die Welt wohl anders aus.

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  • Profilfoto von Kasimir Pfyffer
    Kasimir Pfyffer, 10.06.2021, 16:34 Uhr

    Jaja, ein schweres Los. Ich kenne auch solche Fälle. Die einen schaffen es, die anderen nicht. Das ist von Anfang an bekannt (Durchfallquote 50 Prozent oder so). Dafür winkt den Erfolgreichen ja auch $$$$$$$. Was viel mehr interessieren würde als die ausführliche Klage: Warum will «Emilie» die Anwaltsprüfung machen? Was motiviert sie? Geht es um Gerechtigkeit? Um eine Karriere in der Juristerei? Um richtig viel Stutz bis ans Ende ihrer Karriere? Oder doch eher «ich mach das mal, weil man das halt so macht»?

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