Walchwiler Wahrzeichen – gebaut von einem «Nobody»
Vor exakt 60 Jahren realisierte Architekt Hans Peter Ammann in Walchwil eine Kirche, die bemerkenswert klein und trotzdem ein Blickfang ist. Der damals noch unbekannte Zuger schuf einen ebenso kühnen wie einzigartigen Begegnungsort und legte den Grundstein für seine Karriere.
Nicht immer erfolgt der Kirchenbesuch aus religiösen oder spirituellen Gründen. In einigen Fällen kann er auch im Gotteshaus selber begründet liegen, etwa wegen dessen baukulturellen Bedeutung. Das bekannteste Beispiel ist wohl der Petersdom in Rom.
Aber auch die reformierte Kirche Walchwil ist so ein Objekt. Die sakrale Ikone begeistert die Architekturszene und erfüllt Standort- sowie Kirchgemeinde gleichermassen mit Stolz. In der Schweizerischen Architekturbibliothek wird der 1964 von Hans Peter Amman realisierte Bau in den höchsten Tönen gelobt, als «beispielloser, formal einprägsamer Pionierbau». Ein Blickfang ist diese Kirche für jede, ein Wahrzeichen für Walchwil, das jeder kennt, der auf der Gotthardlinie zwischen Zug und Arth im richtigen Moment zum Fenster rausschaut.
Kluger Umgang mit ausgesprochen kleiner Baufläche
Wie ein kantiges Zelt erhebt sich der eigenwillige Betonbau mit dem kecken Glockenturm über einem Felsvorsprung am Zugersee. Konzeption und Konstruktion waren den speziellen, nicht einfachen Rahmenbedingungen geschuldet. Die für die Kirche auf dem Geländevorsprung reservierte Parzelle umfasste nur rund 1000 Quadratmeter. In Respektierung aller Strassen- und Wegrechte verblieb am Ende noch ein 676 Quadratmeter grosser Baugrund.
Aufgedrängt hat sich ein zweigeschossiges Volumen, in welchem das gesamte Raumprogramm Platz hatte: Vorplatz, Foyer, Sitzungszimmer mit Nebenräumen und als Herzstück ein Kirchenraum mit 120 Sitzplätzen. Letzterer ist – für Sakralräume unüblich – im Obergeschoss angeordnet und scheint auf einer auskragenden Plattform zu schweben.
Den First bilden zwei Diagonalen, die den Fassaden und Dachflächen die Form der charakteristischen rechtwinkligen Dreiecke geben. Wahrnehmbar ist eine Art kristalliner Körper, der in seiner Schlichtheit kompromisslos dem Modernen zugewandt ist. Das Grundrissquadrat ist über Eck gestellt.
Diffuses Licht durch industrielle Kunststoffplatten
Bemerkenswert ist, dass der Kirchenraum selber, obwohl an aussichtsreicher Lage gebaut, über keine Fenster verfügt. Stattdessen ist die mit vertikalen Stahlprofilen strukturierte Fassade mit transluzenten Kunststoffplatten versehen. Transluzent? Gemeint ist eine partielle Lichtdurchlässigkeit. Ammann verwendete ein gestaltbares, zeittypisches Industrieprodukt: leichte, wärmedämmende Platten aus glasfaserverstärktem, graublau eingefärbtem Kunstharz, die nach seinen Plänen bis zur gewünschten Maximallänge von sieben Metern in einem Stück gefertigt wurden.
Durch die grossflächigen, bis zur Decke reichenden hellen Rasterbahnen dringt zwar reichlich gefiltertes Tageslicht von draussen rein, doch eine Durchsicht gibt es nicht. In protestantischer Tradition richtete Ammann die Aufmerksamkeit des Sakralbaus somit ganz nach innen und sorgt dafür, dass Kirchgänger nicht von der schönen Aussicht «abgelenkt» werden.
Stattdessen finden sie ideale Verhältnisse für Andacht und Besinnung vor. Für Behaglichkeit sorgt der mit hellbraunen Keramikplatten belegte Boden und die mit Kiefernholz verkleidete Decke. Die reduzierte Materialwahl verhilft dem ohne jeglichen Schmuck ausgestatteten Kirchenraum zu einem stilvollen Ort der Kontemplation. Der Zugang erfolgt über eine zentral angeordnete Wendeltreppe.
Schnelle Rückkehr von Brasilien nach Walchwil
Spannend sind die Umstände, die zum Bauwerk führten. Ammann war damals nämlich noch ein «Nobody». 1933 geboren, schloss er mit 24 Jahren sein ETH-Studium ab und beteiligte sich anschliessend am Wettbewerb, den die Evangelisch-reformierte Kirche 1960 ausschrieb. Sein Entwurf – einer von insgesamt elf eingereichten – überzeugte die Jury auf Anhieb.
Als er am 24. Dezember des gleichen Jahres per Telegramm Bescheid erhielt, dass er den Wettbewerb gewonnen hatte, weilte Ammann allerdings in der brasilianischen Metropole São Paulo. Den auf zwei Jahre anberaumten Auslandaufenthalt musste er unverhofft abbrechen. Die Auftraggeberin drängte und wollte Ammann für Detailplanung und Ausführung so schnell wie möglich vor Ort wissen. Im Mai 1961 kehrte Ammann nach Zug zurück, eröffnete sein eigenes Architekturbüro und trieb das Projekt Walchwil bis zur feierlichen Einweihung im August 1964 voran.
Schweizweit bekannt wurde Ammann übrigens durch seine Arbeit am Bahnhof Luzern. Zusammen mit Santiago Calatrava realisierte er das markante Stirn- und Aufnahmegebäude des Neubaus, der 1991 fertiggestellt worden ist.
«Zahlreiche Menschen aus aller Welt haben in den vergangenen 60 Jahren Gefallen an dieser einst nicht unumstrittenen Kirche gefunden und fühlen sich auch heute wohl darin», betonte Pfarrerin Antje Gehrig-Hofius, als die Kirchgemeinde am Sonntag, 25. August 2024, den Jubiläumsgottesdienst feierte. Speziell begrüsst wurde ein Ehepaar, das sich vor 60 Jahren hier trauen liess.
Viel Lob für Ammann von Architektur-Koryphäe
Eine umfangreiche Sanierung erlebte die Kirche um 1999. Trotz vieler Massnahmen und Anpassungen konnte eine «Kinderkrankheit» nicht behoben werden: Der schwach isolierte Kirchenraum vermag im Winter die Kälte nicht im gewünschten Mass abzuhalten. Und im Sommer wird es darin wegen der stark exponierten Lage gegen Südwesten ziemlich heiss.
Die Kirchgemeinde und ihre Mitglieder scheinen diesen Makel mit Fassung zu tragen. Entspannt griffen sie während des Festgottesdienstes zu den Fächern, die parat lagen und wedelten sich durch eifrige Handbewegungen etwas kühlere Luft zu. Anschliessend dislozierten sie auf die einladende Terrasse und genossen bei einem Apéro riche den atemberaubenden Blick auf den Zugersee, die Rigi, das Mittelland und die Berner Alpen.
In diesem Moment trat das ikonische Bauwerk vornehm in den Hintergrund, stand nur noch im Dienst der kirchlichen Gemeinschaft und machte deutlich, was der Luzerner Architekt und Publizist Otti Gmür in Bezug auf die Qualität von Ammanns Schaffen in einer umfassenden Monografie so treffend formulierte:
«Wenn das Absichtsvolle zu Gunsten selbstverständlich geordneter Brauchbarkeit zurücktritt, kann ein Gebäude über Aufgabe, Ort und Gestalt hinaus bedeutsam werden. Ammann hat Formen von Richtigkeit und Stimmigkeit für seine Aufgabenstellungen gefunden und diese in sorgfältiger baumeisterlicher Art in Baukultur umgesetzt.»
Ein Besuch vor Ort kann – ob gläubig oder nicht – vorbehaltlos empfohlen werden.