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Gerold Kunz in Chicago

Spuren gelöscht

Kerry James Marshall, Better Homes, Better Gardens, 1994. (Bild: Gerold Kunz, Chicago)

In Luzern wurden 2016 im Himmelrich die ehrwürdigen Genossenschaftsbauten nach einer grossen Party abgerissen. Ähnlich wurden auch in Chicago alle Sozialwohnbauten der Nachkriegsjahre aus dem Stadtbild entfernt. Die Unterschiede zwischen den beiden Schwesterstädten sind beim sozialen Wohnungsbau jedoch markant.

In Luzern wurden 2016 im Himmelrich die ehrwürdigen Genossenschaftsbauten nach einer grossen Party abgerissen. Sie werden durch eine moderne, heutigen Ansprüchen dienende Blockrandbebauung ersetzt. In Chicago wurden um 2000 alle Sozialwohnbauten der Nachkriegsjahre aus dem Stadtbild entfernt, weil ihre unhaltbaren Zustände für die Stadt zur Hypothek wurden. Und ihre moderne Gestaltung wurde damit zum Zeichen einer sozialpolitischen Fehlentwicklung. Die Unterschiede zwischen den beiden Schwesterstädten sind beim sozialen Wohnungsbau markant.

Kunstgeschichte aus anderer Perspektive

Der Maler Kerry James Marshall zeigt gegenwärtig im Museum of Contemporary Art in Chicago MAC in einer Einzelausstellung eine Werkübersicht. Der Maler ist angetreten, in seinen Bildern die Kunstgeschichte aus der Perspektive der Afrika-Amerikaner nachzuerzählen. Dabei richtet sich sein Blick auch auf den sozialen Wohnungsbau, der in Chicago wenig ruhmreiche Spuren hinterlassen hat. Diese wurden getilgt, noch bevor sich die Bewohner von den Siedlungen emanzipierten.

Dem modernen Bauen haftet in den USA ein Makel an. Spätestens mit der Sprengung der Wohnsiedlung Pruitt-Igoe in St. Louis 1972, wenige hundert Kilometer von Chicago entfernt, sehen sich die Städte bemüht, dem gemeinnützigen Wohnen, hier «affordable housing» genannt, ein anders Gesicht zu geben.

Denn viele der in den 1960er-Jahren errichteten Wohnsiedlungen sind in den 1980er- und 1990er-Jahren zu Sanierungsfällen geworden. In Chicago wurden deshalb um 2000 mehrere Siedlungen abgebrochen und damit ein Wendepunkt im modernen Bauen eingeläutet.
 
Modelle wie in der Schweiz
 
Um sich aus der Sackgasse zu befreien, wird in Chicago nun die Strategie des «mixed income» verfolgt. Damit soll eine Nachbarschaft aus gemischten Einkommensschichten entstehen, die sich gegenseitig unterstützen. Ein Modell, das in der Schweiz jede Agglomerationsgemeinde seit den 1950er-Jahren verfolgt.

Doch hinter der Idee steht in Chicago auch der Wunsch, dem sozialen Wohnungsbau ein anderes Gesicht zu geben. Wer sich heute hier auf die Suche nach Wohnsiedlungen macht, muss genau hinschauen. Die Bauten sind wegen ihrer biederen und wenig augenfälligen Architektur kaum zu erkennen.

Nachkriegsära

Aus der Nachkriegsära sind als prägnanteste Anlage die Raymond Hilliard Homes erhalten geblieben. Die 1966 fertig gestellten Bauten nach Plänen des Marina-City-Architekten Bertrand Goldberg wurden von diesem schon bei der Erstellung als Modell für den sozialen Wohnungsbau angepriesen. Im Unterschied zu Projekten wie den Robert Taylor Homes, einer in der South Side angrenzend an das IIT realisierten Wohnanlage mit siebentausend Wohneinheiten (auch diese wurde abgebrochen), gelang es Goldberg, mit seiner Überbauung verschiedene Bewohnergruppen anzusprechen.

Seit 2011 steht die Anlage unter Schutz. Einzelne Gebäude sind im Stadtbild erhalten geblieben, so zum Beispiel ein 1970 von den kaum bekannten Architekten Dubin, Dubin, Black & Moutoussamy an der Ogden Avenue errichteter Wohnturm, ein grossartiger Skelettbau mit schönen Proportionen. Als ich diesen fotografierte, wurde ich von der Hausverwaltung nach meinen Absichten angesprochen – das Misstrauen gegenüber den Medien sitzt offenbar tief.

Fragmente von Gabrini Green sind ebenfalls erhalten geblieben. Während die Wohntürme abgebrochen wurden, blieben die zweigeschossigen Zeilenbauten erhalten. Sie wurden als Arbeiterwohnungen im Zweiten Weltkrieg erstellt. Die Siedlung, die an Downtown angrenzt, wird mit Neubauten entwickelt.
 
Erinnerungskultur fördert Umdenken
 
In Chicago setzt ein Umdenken ein. In der Erinnerungskultur erfährt die verdrängte Wohnbaugeschichte eine Aufwertung. Ehemalige Bewohnerinnen und Bewohner erzählen über ihre Sicht der Dinge, die oft im Kontrast zur öffentlichen Meinung stehen. Auch ein National Public Housing Museum befindet sich in Chicago im Aufbau.

Gegen den Abbruch der Julia Lathrop Homes, einer Siedlung in der West Side mit Baujahr 1938 des Architekten Hubert Burnham und des Landschaftsarchitekten Jens Jensen, hatte sich Widerstand gebildet. Mit Erfolg: Die Siedlung wurde 2012 ins nationale Register der historischen Stätten aufgenommen. Zahlreiche Bauten der Siedlung bleiben bestehen und werden mit Neubauten ergänzt.

«Racial composition 93% African American»

Die Bilder Kerry James Marshall tragen zu dieser Auseinandersatzung bei. Seine Botschaften sind deutlich. Er richtet den Blick weg von den kolossalen Bauten hin zu den Menschen. Er rückt in seinen Bildern die Menschen in den Vordergrund, nur im Hintergrund scheinen die Sozialwohnbauten auf.

Im Bild «C.H.I.A» von 1994 sind die dreizehngeschossigen Siedlungsbauten von Rockwell Gardens sichtbar, deren tatsächliche Grösse wird hingegen mit Fakten im Bild deutlich gemacht:
«Total 13 Bldgs. 1313 units. Year built 1958-1969. Average household size 3.3. Total residents 4033. Gender population age 20-24 male 94 female 298. Racial composition 93% African American, 7% others.»
Hinter diesen Zahlen lassen sich die Dimensionen der Anlage erkennen, die 2003 abgebrochen wurde.

«Seit dem Abbruch der markanten Wohngebäude fehlen tausende Sozialwohnungen.»

Unruhen provoziert

Der Niedergang der Grosssiedlungsprojekte wird heute weniger den sozialen Konstellationen als dem vernachlässigten Gebäudeunterhalt zugeschrieben. Seit dem Abbruch der markanten Wohngebäude fehlen tausende Sozialwohnungen in Chicago.

Durch einen Systemwechsel werden ehemalige Bewohnerinnen und Bewohner mit Wohnungsgutschriften in die ärmeren und unstabilen Stadtgebiete in der South Side abgeschoben. Gegen die Aufnahme von Sozialhilfeempfängern in der begüterten und behüteten North Side wehrte sich das Parlament.

Mit diesem Sachverhalt verschärft Chicago die Notlage und provoziert neue soziale Unruhen, deren Ausbrechen, auch angesichts der hohen Gewaltbereitschaft in den ärmeren Stadtteilen, von vielen hier in Chicago vorhergesagt wird.

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