Ein Plan von 1836, der bis heute zu reden gibt
Eine Ausstellungsinstallation am Europaplatz befragt bis am 30. August 2017 die Stadt nach Alternativen zum Schweizerhofquai und dem KKL Luzern. Was wäre, wenn Melchior Berri sein Projekt von 1836 der Quaibebauung hätte realisieren können? Luzern hätte ein frühes und überzeugendes Beispiel einer städtebaulichen Grossform im Anschluss an die Altstadt bekommen. Obwohl es nie erbaut wurde, findet bis heute regelmässig eine Auseinandersetzung mit dem Projekt statt.
In meiner Funktion als Redaktionsleiter der Architekturzeitschrift «Karton», die seit 2004 über Architektur im Alltag der Zentralschweiz berichtet, aber auch als Präsident der Stiftung Architekturgalerie Luzern, die seit 1983 in Ausstellungen Fragen der Architektur und des Städtebaus thematisiert, wurde ich als Redner zur Eröffnung der Ausstellung «Was wäre, wenn …» der Architektinnen Natalia Wespi und Sarah Barth eingeladen.
Sie haben aus Anlass des 50-jährigen Bestehens des ETH-Instituts für Geschichte und Theorie der Architektur gta in Luzern am Europaplatz eine Ausstellungsinstallation eingerichtet. Ich konzentrierte mich in meiner Rede auf das 1836 entworfene Quaiprojekt vom Melchior Berri, das in der Ausstellung einen zentralen Platz einnimmt.
Ein grossstädtisches Konzept
Ich bin erstmals 1988 im Ausstellungskatalog «Zeitzeichen – Signes du temps» von Irma Noseda und Martin Steinmann auf den Berri-Plan aufmerksam geworden. Der Katalog entstand aus Anlass des 150-Jahr-Jubiläums des SIA und blickte auf 150 Jahre Baukultur zurück. In der Zusammenstellung durfte der Berri-Plan von 1836, obwohl aus dem Jahr vor der Gründung des SIA, nicht fehlen. Die beiden Autoren ergänzten den Plan mit einer Ansicht des Schweizerhofquais von 1850, die den Ausblick in die Alpen zeigt.
Die pädagogische Botschaft ist unschwer zu erkennen: Die Baumreihe am Quai erinnert an Berris Arkaden, die Anlage des Quais folgt den städtebaulichen Ambitionen Berris: «Bei der Quaibebauung in Luzern sucht Melchior Berri mit einem grossstädtischen Konzept die Verbindung zum See und macht die selbstbewusste Naturbeziehung dieser Epoche deutlich», schreiben die Autoren unter dem Obertitel «Ein neues Lebensgefühl» dazu.
1991 nimmt der Kunsthistoriker Beat Wyss im Band Luzern des INSA, des Inventars der neueren Schweizer Architektur 1850–1920, die Reaktionen auf den Berri-Plan zum Anlass, um der damaligen Luzerner Gesellschaft den Puls zu fühlen. «Bei diesem Bauvorhaben stand bei den Luzernern weniger der Verlust der Brücke im Vordergrund als das Misstrauen über die entstehende Zusammenballung von Hotels am Seeufer (… und) der Furcht der Behörden vor dem «sittlichen und ökonomischen Verfall, der sich an allen mit Wirtshäusern überfüllten Orten klar herausstellt».
«Hofbrückengefühl»
Er ergänzt den Berri-Fassadenplan mit einer Karikatur von Louis Pfiffer (von Wyher), der «Berris Quaiplan zur biedermeierlichen Science Fiction» steigere. Wyss’ Fazit: «Im Grunde fügte sich Berris Vorschlag für eine rechtsufrige Quaianlage rücksichtsvoller in die bestehende Stadt als der später verwirklichte Schweizerhofquai. Das Projekt des Basler Architekten versuchte, ein gewisses ‹Hofbrückengefühl› zu wahren: Eine Zeile von fünf Häusern wäre direkt dem Seeufer entlang aufgebaut und mit einer Arkade im Erdgeschoss verbunden worden; die gedeckte und verglaste Promenade hätte die Brücke ersetzt, über die einst die Kirchgänger trockenen Fusses von der Stadt zum Stiftsbezirk gelangten.
Das Motiv der Lauben zitiert die Marktlauben unter der Egg, die Gräberhallen im Hof und die Loggien des Ritterschen Palasts. Durch solche Anrufung des Genius loci hätte der Berri-Plan den Eingriff in die Stadtgestalt wiedergutmachen wollen. Allerdings hätte der Laubengang die Fremdenströme nicht aufnehmen können, die noch kommen sollten zum Promenieren bei freier Sicht auf das Alpenpanorama und auf einander.»
1997 kommentieren die Architekten Max Bossard und Christoph Luchsinger den Berri-Plan so: «Die Neuorientierung zum See verweist auf die völlig veränderte Rolle der Landschaft, die jetzt als bewegtes (und bewegendes) Bild – das es kalkuliert zu inszenieren gilt – wahrgenommen wird.» Erstmals werden die Ansichten ergänzt mit dem «Situations-Plan mit Correction und der Anlage des neu projectierten Quartiers aussern Weggis & Hoof bei der Hoofbrücke in Luzern», wie die originale Planbezeichnung heisst.
Verrücktes Luzern
Sie stellen den Berri-Plan in einen neuen Kontext. Jetzt heisst es: «Verrücktes Luzern – Stadt und Landschaft als Ereignis». Ausstellung und Katalog berichten, wie Landschaft und Lage in Luzern zum Sprechen gebracht werden. Im Berri-Plan erkennen sie das Programm des modernen Luzern: «Eine sozusagen haptische Vereinnahmung des Ortes mithilfe von allerlei mehr oder weniger wundersamen Bauten und Apparaten. Alles beginnt mit der Aufrüstung der Seefront, das heisst mit den Hotelpalästen, die sich in beste Position zur Aussicht bringen und Flaniermeilen am See zur Verfügung stellen.»
2003 findet der Berri-Plan eine Heimat auch in Otti Gmürs «Spaziergänge durch Raum und Zeit – Architekturführer Luzern». Obwohl der Umfang knapp gehalten ist und sich der Führer auf realisierte Projekte konzentriert, wird dem Berri-Plan eine ganze Seite gewidmet. Auch Gmür erkennt in der durchgehenden Arkade eine Reminiszenz zur abzubrechenden Hofbrücke. Indem er sich auf den städtebaulichen Wert des Plans beruft, kommt er zum nüchternen Schluss: «Es blieb beim Idealprojekt, das zwar bewundert, aber aus finanziellen Gründen nicht realisiert wurde.»
Einfache Formen
2010 schliesslich arbeitet der Denkmalpfleger und Architekturhistoriker Peter Omachen in seiner Dissertation «Luzern – eine Touristenstadt» den Sachverhalt detailliert auf. Noch bevor Berri seinen Plan präsentierte, nahm die Karikatur von Louis Pfiffer von Wyher unter dem Titel «Eine lustige Skizze über neue Gebäude am Seegestad» die Bebauung des Seeufers mit einer von einer Arkade gesäumten Hauszeile vorweg. Berri, der von einer stadträtlichen Kommission nach Luzern berufen wird, hatte zuvor den Grossratssaal gebaut und war somit kein Unbekannter.
«Kennzeichnend für Berris Entwurf ist die Einfachheit der Formen, deren ausgewogene Proportionen er allein durch die feine Gliederung der Baukörper und die rhythmischen Bögen der toskanischen Arkaden bewältigt.» Doch der «Adler»-Wirt, für den die Planung in Auftrag gegeben wurde, wünschte sich die Strasse vor dem Haus. Der Stadtrat pflichtet ihm bei. Nach Vorgaben des berrischen Projekts werden neue Pläne ausgearbeitet.
Nun also stellen die Architektinnen Natalia Wespi und Sarah Barth die nicht realisierte Quaibebauung und die zahlreichen Projekte für das Kunst- und Kongresshaus der realen Stadt gegenüber. Es geht um den Dialog über den See hinweg, aber auch um die Stadt in der Möglichkeitsform. Aus den aufgespannten Plänen ergeben sich weitere Fragen. Hätte sich der «Adler»-Wirt für eine rückwärtige Strassenführung erwärmen lassen, wäre dann das Berri-Projekt realisiert worden? – Wir wissen es nicht.
Luzern – das Studienobjekt
Was wir wissen, ist, dass Luzern vor allem wegen seiner Lage am Wasser in Fachkreisen als städtebauliches Studienobjekt wahrgenommen wird. «Was macht den Reiz einer Stadt am Wasser aus, sei es Luzern, Genf, Hamburg oder Manhattan?», fragten schon Max Frisch und seine Mitstreiter 1954 in der Streitschrift «achtung: die Schweiz».
Sie beantworteten die Frage gleich selbst: «Dass die Stadt am Wasser eine definitive Grenze hat, die nicht überbaut werden kann, einen Anfang und eine überblickbare Linie ihres Profils … Darum denken auch wir gerne unsere Stadt am Wasser. (…) Sie soll das Beispiel einer Stadt geben, die Kraft ihres Planes nicht die umgebende Stadt auffrisst. Wir bauen eine Stadt, keine Verstädterung.» In dieser Ausstellung geht es um Stadt, nicht um Verstädterung. Deshalb meine Frage: Was wäre, wenn Luzern eine Insel wäre?