«Manche weinen oder schreien, andere wirken wie erstarrt»
Zwei Mitarbeiterinnen der ökumenische Notfallseelsorge betreuen einen Mann vor Ort. (Bild: Gestellte Szene: Ökumenische Notfallseelsorge)
Die ökumenische Notfallseelsorge Kanton Luzern war 2024 so oft im Einsatz wie kaum zuvor. Im Interview erzählt der Co-Leiter Christoph Beeler-Longobardi von seiner Arbeit als Notfallseelsorger.
Sirenen heulen und Blaulicht durchdringt die Dunkelheit. Die Feuerwehr löscht einen Brand, während ein älteres Ehepaar fassungslos auf die rauchenden Überreste seines Hauses starrt. Die Arbeit der Notfallseelsorger beginnt dann, wenn für andere alles zusammenbricht. Ihre Aufgabe: Menschen in akuten Krisensituationen seelischen Halt geben und sie in den ersten schweren Stunden begleiten.
Die ökumenische Notfallseelsorge im Kanton Luzern stand im Jahr 2024 vor besonders vielen Herausforderungen. Mit insgesamt 98 Einsätzen und 980 geleisteten Stunden verzeichnete das Team einen Höchststand in seiner Einsatzstatistik. Vor allem nach schweren Verkehrsunfällen, Bränden oder plötzlichen Todesfällen werden Notfallseelsorger und Care Givers alarmiert. Christoph Beeler-Longobardi ist Co-Leiter des Teams und seit 20 Jahren im Einsatz. Im Interview mit zentralplus erzählt er von den Herausforderungen seines Alltags.
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zentralplus: Christoph Beeler-Longobardi, wie läuft ein typischer Einsatz ab?
ChristophBeeler-Longobardi: Wir werden bei belastenden Ereignissen wie Suiziden oder schweren Unfällen gerufen. Oft sind Personen involviert, die unterschiedlich reagieren – manche weinen oder schreien, andere wirken wie erstarrt. Die Polizei oder Rettungskräfte fragen die Betroffenen, ob sie unsere Unterstützung möchten. Erst dann treten wir in Aktion.
zentralplus: Was sind Ihre Hauptaufgaben vor Ort?
Beeler-Longobardi: Unser Ziel ist es, Struktur in das Gefühls- und Erinnerungschaos zu bringen. Die Betroffenen erzählen der Reihe nach, was passiert ist – das hilft, das Geschehene zu verarbeiten. Wir klären die nächsten Schritte, aktivieren soziale Netzwerke und vermitteln den Betroffenen, dass ihre Reaktion völlig normal ist. Viele fühlen sich verängstigt oder überwältigt – wir zeigen auf, dass das Teil der Verarbeitung ist.
zentralplus: Welche Techniken setzen Sie ein, um Betroffene zu stabilisieren?
Beeler-Longobardi: Als Erstes frage ich eigentlich immer: «Können Sie mir sagen, was passiert ist?» Dann klären wir: Wen möchten die Betroffenen jetzt bei sich haben? Was würde ihnen guttun? Wir bleiben bei den Fakten, um Spekulationen zu vermeiden. Bei übermässigen Schuldgefühlen versuchen wir, mit einer objektiveren Aussensicht zu entlasten. Es kommt bei plötzlichen Todesfällen häufig vor, dass die Leute sagen: «Ich hätte doch etwas merken sollen.»
zentralplus: Sind Sie dazu verpflichtet, Informationen an die Polizei weiterzugeben, wenn diese für eine allfällige Ermittlung relevant erscheinen?
Beeler-Longobardi: Nein, wir unterliegen der Schweigepflicht. Wir können Betroffenen höchstens raten, dass sie relevante Informationen auch der Polizei erzählen sollen.
zentralplus: Was ist eine der grossen Herausforderungen in Ihrer Aufgabe?
Beeler-Longobardi: Wenn wir an einen Unfallort oder in ein Zuhause kommen, wo jemand verstorben ist, erhalten wir grundsätzlich ein kurzes Briefing durch die Polizei oder den Rettungsdienst. Dann haben wir manchmal Kenntnis von Informationen, die nicht in das Gespräch mit den Betroffenen einfliessen dürfen. Diese Situation ist anspruchsvoll. Bei grösseren Vorfällen wie Unfällen in Firmen oder an Schulen ist es herausfordernd, zu koordinieren, wer wie informiert werden muss.
zentralplus: Sie sind bis zu vier Stunden im Einsatz – ist das nicht enorm anstrengend?
Beeler-Longobardi: Wir arbeiten immer im Zweierteam und können einander entlasten. Es gibt Wartezeiten und wir sind nicht durchgehend im Gespräch. Entscheidend ist, dass wir empathisch sind, aber emotional auf Distanz bleiben – das schützt uns selbst. Wir stehen immer einen Schritt ausserhalb des Geschehens. Es hilft, dass wir einen klaren Auftrag haben.
zentralplus: Die Einsätze haben 2024 zugenommen. Sie waren mit Ihrem Team an insgesamt 98 Einsätzen und leisteten 980 verzeichnete Stunden. Woran liegt das?
Beeler-Longobardi: Die Zahl der Einsätze liegt seit 2018 konstant zwischen 80 und 100. Was gestiegen ist, sind die Einsatzstunden. Allein der Brand in Wiggen machte 65 zusätzliche Stunden aus.
zentralplus: Ihr Team besteht aus 40 Notfallseelsorgenden und Care Givers. Wird Ihr Team nun vergrössert?
Beeler-Longobardi: Die Teamgrösse ist gegeben. Wir können auf 40 Einsatzkräfte zurückgreifen. Jeder hat mindestens 20 Tage Bereitschaft pro Jahr. Wenn in kurzer Zeit mehrere Einsätze nötig sind, dann können wir diese auf mehr Leute verteilen.
zentralplus: Social Media beeinflusst viele Bereiche unseres Lebens – auch die Art und Weise, wie Informationen verbreitet werden. Welchen Einfluss hat Social Media auf Ihre Arbeit?
Beeler-Longobardi: Der Brandfall in Wiggen ist ein gutes Beispiel dafür. Dort war es enorm wichtig, die Informationskaskade einzuhalten. Also zu schauen, dass die Angehörigen als Erste informiert werden. Im Gespräch mit den Betroffenen war es wichtig, sie zu instruieren, dass sie vorerst nichts über Social Media verbreiten. Nichts ist schlimmer, als wenn Angehörige über die Medien vom Tod einer geliebten Person erfahren.
zentralplus: Sie sind kirchlicher Mitarbeiter. Wie viel Religion spielt in Ihre Arbeit hinein?
Beeler-Longobardi: Die Finanzierung kommt von Kirche und Kanton, aber die Arbeit ist schlussendlich vor allem eine notfallpsychologische Intervention. Ich sehe es als christliche Aufgabe, Menschen zu unterstützen. Ich habe in über 20 Jahren erst zweimal bei Einsätzen mit den Menschen gebetet, weil diese das wollten. Die Arbeit kann eine religiöse, aber auch einfach eine humanitäre Motivation haben. Es gibt bei uns im Care Team Mitarbeitende, die mit Kirche nicht viel zu tun haben.
ist seit Oktober 2024 als Praktikantin bei zentralplus tätig. Als echte Lokalpatriotin liebt sie die Stadt Luzern und schreibt gerne über die Menschen, die hier leben. Sie mag es harmonisch, teilt aber auch gerne aus.