Eine subjektive Gerichtsreportage

Baby in die Schublade gesperrt? Luzerner steht vor Gericht

Ein Luzerner soll sein Kind in eine Schublade gesteckt haben, bis es keine Luft mehr bekam. (Bild: Adobe Stock)

Die Staatsanwaltschaft wirft einem Luzerner vor, sein zwei Monate altes Kind geschüttelt, geschlagen, gebissen und so lange in eine Schublade gesteckt zu haben, bis es keine Luft mehr bekam. Die Verhandlung vor dem Kriminalgericht Luzern war für unsere Autorin nur schwer zu ertragen.

Einmal musste es passieren. Ich sitze im Saal des Kriminalgerichts – und der Mann vorne auf der Anklagebank ist für mich kein Unbekannter. Luzern ist klein. Ich mache seit 15 Jahren Gerichtsberichterstattung. Einmal musste es passieren.

Die Vorwürfe gegen den Luzerner sind massiv. Die Anklageschrift zu lesen, fühlte sich an, als würde ich zehn Meter in die Tiefe springen. Dieses flaue Gefühl im Magen. Es lässt mich nicht los.

Er hat sein Kind in eine Schublade gesteckt, wenn es geschrien hat. So lange, bis das zwei Monate alte Baby keine Luft mehr bekam. Er hat das Mädchen geschlagen. Geschüttelt. Ins Gesicht gebissen. Im Streit seiner Freundin gedroht, er würde es zerquetschen. Das jedenfalls behauptet die Staatsanwaltschaft. Weil die Mutter des Kindes es so gegenüber der Polizei ausgesagt hat.

Vage Erinnerungen an eine alte Bekanntschaft

Ich habe den Beschuldigten zehn Jahre lang nicht gesehen. Damals machten wir zusammen eine Weiterbildung. Ich erinnere mich, dass ich nicht recht wusste, ob ich ihn mag. Er war zurückhaltend. Fügte sich nicht so recht in die Gruppe. Aber wenn es ums Arbeiten ging, dann packte er mit an. Und ich erinnere mich, dass er mir voller Stolz Bilder von seinem Kind gezeigt hat. Ich glaube, es war eine Tochter. Er war damals knapp 20 Jahre alt und verheiratet. Ich hatte mich noch gewundert, dass das einer tut in so jungen Jahren.

Später habe ich nur noch hin und wieder auf Facebook was von ihm gesehen. War irritiert über Bilder, die ihn beim Schiessen zeigen. Merkte, dass wir politisch wohl nicht gleich ticken. Aber nachgedacht habe ich kaum noch über den Mann, der nun vor dem Gericht steht.

Ein Mann mit zwei Frauen und sechs Kindern

Er grüsst mich freundlich, als er mich erkennt. Es fühlt sich seltsam an. Als würde ich hier in eine Privatsphäre eindringen. Mich in etwas einmischen, das mich nichts angeht. Dabei ist hier etwas passiert, das die ganze Gesellschaft angeht. Es ist meine Aufgabe, darüber zu berichten. Aber es fällt mir schwerer als sonst. Hätte er doch wenigstens nicht gegrüsst.

Ich erfahre in der Verhandlung, dass er noch immer mit der gleichen Frau verheiratet ist und mit ihr drei Kinder hat. Das jüngste ist knapp 1,5 Jahre alt. Schön, denke ich. Aber so harmonisch ist sein Liebesleben nicht. Seine Ehefrau ist nicht die Einzige in seinem Leben. Er hat noch eine andere. Er hat sie kennengelernt, als ich schon Jahre keinen Kontakt mehr mit ihm hatte.

Auch mit dieser Freundin hat er drei Kinder. Sechs sind es insgesamt. Die beiden Frauen wissen voneinander. Er verbringt ein halbes Jahr bei der einen, das andere bei der anderen. Ich verstehe nicht, wie das geht.

Die Verletzungen passen zu den Vorwürfen – aber nicht ganz

Vor Gericht steht er, weil seine Freundin sich vor drei Jahren eines Nachts aus der Wohnung geschlichen hat und zur Polizei gegangen ist, – zusammen mit ihrem Baby. Er habe sie und das Kind geschlagen, sagte sie. Ein medizinisches Gutachten stellte blaue Flecken im Gesicht und am Kopf des Säuglings fest. Sie stammen von einer «stumpfen Gewalteinwirkung», wie es im Bericht heisst.

«Diese Frau nimmt es offensichtlich nicht sehr genau mit der Wahrheit.»

Verteidiger

Das passt zu der Schilderung der Freundin, der Beschuldigte habe das Kind mehrfach mit der flachen Hand geschlagen und ihm die Hand aufs Gesicht gedrückt. Es passt aber nicht zu der Aussage, der Mann habe das Baby massiv geschüttelt. Auch das hätte Spuren hinterlassen müssen. Gefunden wurde aber nichts.

Der Luzerner streitet die Vorwürfe ab. Wiederholt in der Befragung immer und immer wieder, er habe seiner Tochter nichts angetan. Aber warum sollte seine Freundin ihn derart schwer belasten? «Das müssten Sie sie fragen», meint er zum Richter. Er habe es einmal versucht und sie gefragt. Aber das habe nur Stress gegeben. Jetzt lasse er es auf sich beruhen.

Der Beschuldigte und seine Freundin: Eine Geschichte voller Widersprüche

Die beiden leben bis heute zusammen. Haben nach dem Vorfall noch zwei weitere Kinder bekommen. Keines der drei lebt bei ihnen. Die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) hat sie in einer Pflegefamilie untergebracht. Einen Monat nach der Geburt hat man den beiden den jüngsten Sohn «aus den Armen gerissen», wie er es schildert. In Anbetracht der Vorwürfe wundert das nicht.

Nur: Warum lebt die Frau noch immer mit ihm zusammen? Warum setzt sie weiter Kinder mit ihm in die Welt, wenn er ihre erste Tochter derart misshandelt hat? Das ist einer der zahlreichen Widersprüche in diesem Fall.

«Diese Frau nimmt es offensichtlich nicht sehr genau mit der Wahrheit», sagt der Verteidiger. So hat sie gegenüber der Staatsanwaltschaft behauptet, sie habe ihr erstes Kind – das nicht vom Beschuldigten ist – auf Druck des Beschuldigten bei ihren Eltern in Pflege gegeben. Der Bub hat eine autistische Störung, ihr Freund habe es als «behindert» bezeichnet und nicht in seiner Nähe haben wollen. Nur: Das kann gemäss dem Verteidiger gar nicht sein. Denn als sein Mandant die Frau kennenlernte, lebte der Bub bereits bei deren Eltern.

Kind in Schublade gesteckt? Ja oder nein?

Es gibt weitere Details, die Fragen aufwerfen. So machte die Frau widersprüchliche Angaben dazu, ob der Beschuldigte einen Schlüssel zu ihrer Wohnung hatte oder nicht. Mal sagte sie aus, sie habe das Schloss ausgewechselt, mal hatte er einen eigenen Schlüssel, mal soll er ihn verloren haben.

«Der Körper der Kleinen bildet die Vorfälle ab.»

Staatsanwältin

Kommt hinzu: In den ersten Befragungen erzählte sie der Polizei, der Mann habe das Kind mehrmals in eine Schublade gesteckt, um es ruhig zu stellen. Später widerrief sie alles und behauptete, weder sie noch das Kind seien je misshandelt worden. Nur um einige Monate später den Rückzug zurückzuziehen – und zu behaupten, er habe sie unter Druck gesetzt, ihn nicht weiter zu belasten. In der letzten Befragung widerrief sie erneut. Es sei doch nichts dran an den Vorwürfen.

Fakt ist: Das Kind hatte blaue Flecken im Gesicht und am Kopf

Obwohl sich in jener Nacht drei Menschen in der Wohnung des Paares aufhielten, handelt es sich um ein Zwei-Augen-Delikt. Nur der Beschuldigte und seine Freundin wissen, wie es wirklich gewesen ist. Das Mädchen kann nichts dazu sagen und wird sich hoffentlich nie daran erinnern. Aber: «Der Körper der Kleinen bildet die Vorfälle ab», wie die Staatsanwältin sagt. Solche Verletzungen treten nicht aus heiterem Himmel auf. «Es ist etwas vorgefallen.»

Ein forensisch-psychiatrisches Gutachten hat bei dem Luzerner eine dissoziale Persönlichkeitsstörung festgestellt. Solche Menschen geraten relativ häufig mit dem Gesetz in Konflikt. Es ist Teil des Krankheitsbildes, dass sie sich aggressiv, impulsiv und verantwortungslos verhalten.

Die Frage ist nur: War es wirklich der Beschuldigte? Und hat er einige Zeit zuvor sein Kind in eine Schublade gelegt? Der Verteidiger meint, es könnte auch die Mutter gewesen sein, die das Kind misshandelt hat. Sie war in einer schwierigen Situation. Hielt es nicht mehr aus, die zweite Frau im Leben ihres Freundes zu sein. War rasend eifersüchtig, besonders an jenem Abend, als er zu einer Geburtstagsparty ging und sie mit dem Kind alleine liess. War sie überfordert? Hat sie deshalb selber dem Kind die Hand aufs Gesicht gedrückt, um es ruhig zu stellen?

Die Anträge gehen weit auseinander

«Es könnte sein, wir wissen es nicht», meint dazu der Verteidiger. Und fordert einen Freispruch, weil Zweifel immer zugunsten des Beschuldigten gehen.

Die Staatsanwältin verlangt eine Verurteilung wegen versuchter schwerer Körperverletzung. Der Mann ist bereits x-fach mit dem Gesetz in Konflikt gekommen. Sieben Straftaten sind im Strafregister, es gab noch weitere in seiner Jugend. Mitangeklagt ist seine Beteiligung an einer Schlägerei vor zwei Jahren. Da hat er einen Passanten, der einen Streit schlichten wollte, mit einem Tischbein verprügelt. Die Staatsanwaltschaft fordert deswegen eine Freiheitsstrafe von insgesamt 40 Monaten. Für die Verteidigung ist das nicht mehr als eine Tätlichkeit.

Das Urteil wird den Parteien schriftlich zugestellt. Ich frage mich, ob es an der Situation der Familien etwas ändern wird. Der Beschuldigte wird mit seiner Ehefrau verheiratet bleiben. Und seine Freundin wird seine Freundin bleiben, da bin ich mir ziemlich sicher. Warum?

Nachdem sie 2018 die massiven Vorwürfe gegen ihren Freund erhoben hatte, verging keine Woche, bis sie wieder mit ihm zusammenkam. Was auch immer damals geschah – ob er das Kind in die Schublade steckte oder sie ihn falsch beschuldigte –, dass diese beiden weiterhin ein Paar sind, ist für mich nach dieser Geschichte subjektiv schlicht nicht nachvollziehbar. Ob die ihre Kinder zurückbekommen, die derzeit in Pflegefamilien leben, ist offen. Entsprechende Verfahren bei der Kesb laufen.

Du brauchst Hilfe?

Wenn du Opfer von häuslicher Gewalt wirst, bekommst du hier Hilfe und Beratung

Verwendete Quellen
  • Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Luzern vom 11. November 2020
  • Teilnahme an der Verhandlung vor dem Kriminalgericht am 21. Januar 2022

Deine Ideefür das Community-Voting

Die Redaktion sichtet die Ideen regelmässig und erstellt daraus monatliche Votings. Mehr zu unseren Regeln, wenn du dich an unseren Redaktionstisch setzt.

Deine Meinung ist gefragt
Deine E-Mailadresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert. Bitte beachte unsere Netiquette.
Zeichenanzahl: 0 / 1500.


0 Kommentare
    Apple Store IconGoogle Play Store Icon