Psychiatrie kämpft mit Platzproblemen

Auffangbecken für nicht «der Norm» Entsprechende

Die Luzerner Psychiatrie – im Bild der Standort Luzern – prüft derzeit verschiedene Kooperationen; zum Beispiel mit dem Kantonsspital.

(Bild: zvg lups)

Seit Jahren ist die Luzerner Psychiatrie überbelegt. Im Gespräch äussert sich der Direktor über die Entstigmatisierung von psychisch Erkrankten in der Gesellschaft, darüber wie viel ein Patient kostet und über eine Zusammenarbeit mit dem Kantonsspital.

Die Luzerner Psychiatrie (lups) blickt auf ein erfolgreiches Geschäftsjahr zurück. Mit einem Jahresgewinn von 3,4 Millionen Franken konnte das Budget leicht übertroffen werden. Mehr Pflegetage im stationären Bereich und leicht höhere Tarife führten zu zusätzlichen Erträgen. Die ambulanten Leistungen verzeichnen eine Zunahme um rund 7,5 Prozent gegenüber Vorjahr. Die steigenden Patientenzahlen stellen die lups aber vor grosse Herausforderungen. Im Interview nimmt Direktor Peter Schwegler Stellung.

zentral+: Herr Schwegler, die Luzerner Psychiatrie stösst an ihre Grenzen. Seit drei Jahren liegt die durchschnittliche Bettenbelegung im Erwachsenenbereich bei über 100 Prozent. Wie ist eine Belegung von über 100 Prozent überhaupt möglich?

Peter Schwegler: Diese durchschnittliche Bettenbelegung von über 100 Prozent ergibt sich aus der Tatsache, dass wir bei dringlichen Eintritten oder bei Notfalleintritten zusätzliche Betten betreiben. 

zentral+: Wo sind diese Betten?

Schwegler: Zusätzliche Betten können auf verschiedenen Stationen betrieben werden; je nach Bedarf und der jeweiligen Stationsauslastung. 

Peter Schwegler, Direktor der Luzerner Psychiatrie

Peter Schwegler, Direktor der Luzerner Psychiatrie

(Bild: zvg)

zentral+: Also ist man heute bereits an der Grenze des Möglichen?

Schwegler: Aus betriebswirtschaftlicher Sicht ist eine hohe Auslastung der Kapazitäten natürlich positiv. Wir arbeiten aber konsequent nach dem Grundsatz «ambulant vor stationär» und versuchen, wenn immer möglich, die Patienten ambulant oder zu Hause zu behandeln. Spricht die Indikation, also aus medizinische Sicht bei einer bestimmten Krankheit, jedoch für eine stationäre Behandlung, wird der Patient hospitalisiert.

zentral+: Mussten auch Leute abgewiesen werden?

Schwegler: Notfälle nehmen wir wenn immer möglich selbst auf. Bei einer absoluten Vollbelegung suchen wir eine alternative Hospitalisation.

zentral+: Wie sieht eine solche Alternative für den Patienten aus?

Schwegler: Wir suchen einen Behandlungsplatz in einer anderen psychiatrischen Klinik. Das kann ausserkantonal sein oder ambulant zu Hause, wenn dies die Indikationsstellung zulässt und insbesondere keine akute Selbst- oder Fremdgefährdung angenommen werden muss. 

zentral+: Die Zahl der psychisch Erkrankten nimmt zu. Im Geschäftsbericht ist von einem «Wachstumsmarkt» die Rede. Da reicht das heutige Bettenangebot bald nicht mehr aus. Wird also ausgebaut? 

Schwegler: Die Leistungsdaten bestätigen den schweizweit spürbaren Trend: Laut aktuellen Statistiken ist die Psychiatrie ein Wachstumsmarkt. Dem tragen wir in der Strategie «lups2020» und den damit verbundenen Projekten Rechnung. Unter anderem wurde im März 2015 ein ambulantes Kompetenzzentrum am neuen Standort in Sursee eröffnet.

Mit dem Neubau der Alterspsychiatrie in St. Urban tragen wir der demografischen Entwicklung weiter Rechnung. Aufgrund der aktuellen Planungsvorgaben sind fünf psychiatrische Stationen à 20 Betten in Planung, davon drei alterspsychiatrische Stationen. Der Neubau wird ab 2017/18 bezugsbereit sein. Darüber hinaus werden Kooperationen mit inner- und interkantonalen Leistungserbringern geprüft, um die Grundversorgung zu stärken und Spezialangebote im Verbund sicherzustellen.

«Im Verbund kann man als starker Partner und attraktiver Arbeitgeber auftreten.»

Peter Schwegler, Direktor der Luzerner Psychiatrie

zentral+: Sie sprechen die Zusammenarbeit mit Obwalden und Nidwalden an (zentral+ berichtete)?

Schwegler: Dies ist eine Option, die zurzeit im Rahmen eines gemeinsamen Projektes mit Obwalden und Nidwalden konkret geprüft wird. Durch Kooperationen kann der Versorgungsauftrag auch in Zukunft sowohl in der Grundversorgung, aber insbesondere in der Spezialversorgung für die zu versorgende Region koordiniert und kompetent sichergestellt werden. Im Verbund kann man als starker Partner und attraktiver Arbeitgeber auftreten. Aktuell ist man daran zu prüfen, wie diese Kooperation aussehen könnte. 

zentral+: Reichen diese Massnahmen?

Schwegler: Als Unternehmen orientieren wir uns laufend an verschiedenen Parametern wie dem Leistungsauftrag oder dem Markt beziehungsweise dem konkreten Bedarf. Die Luzerner Psychiatrie stellt an sich selbst hohe Anforderungen und will als eine führende Klinik mit neuen Angeboten oder Innovationen ihren Versorgungsauftrag für die Bevölkerung qualitativ hochstehend und kostengünstig wahrnehmen. Entsprechend sind weitere Massnahmen in Planung.

Unter anderem sollen noch dieses Jahr die Kapazitäten im Bereich der Alterspsychiatrie – konkret für Demenzabklärungen – ausgebaut werden. So ist für den Herbst 2015, in Kooperation mit dem Luzerner Kantonsspital, eine Erweiterung der Memory Clinic durch einen neuen Standort in Luzern geplant. Bisher besteht lediglich ein Angebot auf der Luzerner Landschaft. Auch im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie planen wir zusätzliche stationäre und teilstationäre Kapazitäten.

zentral+: Wo brennt es derzeit in der Psychiatrie?

Schwegler: In Zukunft werden insbesondere der Fachkräftemangel und die leistungsgerechte Finanzierung der ambulanten Psychiatrie die psychiatrischen Institutionen in der Schweiz herausfordern. Die Medizinalisierung gesellschaftlicher Probleme ist zudem ein Phänomen, das wir zunehmend wahrnehmen.

zentral+: Was heisst Medizinalisierung gesellschaftlicher Probleme?

Schwegler: Das heisst, dass wir feststellen, dass man die Psychiatrie zunehmend auch als Auffangbecken für gesellschaftlich nicht «der Norm» entsprechende Menschen betrachtet. Jedoch hat längst nicht jeder Mensch, der sich gesellschaftlich auffällig benimmt oder jeder Jugendliche der schwierig im Umgang ist, ein psychiatrisches Problem. Es gilt die Eigenverantwortung, auch das vermitteln von Werten, und die Mitverantwortung für die Entwicklung unserer Gesellschaft wieder vermehrt ins Bewusstsein zu rücken.

zentral+: Warum diese Entwicklung? Was läuft bei unserer Gesellschaft schief, dass immer mehr Personen das Angebot nutzen müssen?

Schwegler: Das hat mehrere Gründe. Einerseits ist die demografische Entwicklung verantwortlich. Die Bevölkerung wächst und wird immer älter. Andererseits – und das ist doch erfreulich – konnte die Stigmatisierung der Psychiatrie abgebaut werden. Menschen sind heute eher bereit, sich frühzeitig in eine psychiatrische Abklärung oder Behandlung zu begeben. 

zentral+: Wann kommen Menschen zu Ihnen, um das Angebot zu nutzen?

Schwegler: Das sind Menschen in den unterschiedlichsten Lebenslagen. Hier ein Beispiel aus der gemeindeintegrierten Akutpsychiatrie: Diese behandelt die Patienten, wenn immer möglich, in ihrem häuslichen Umfeld. Das bietet viele Vorteile. So können die Patienten auch während ihrer Behandlung in ihrer vertrauten Umgebung bleiben. Familienmitglieder und andere nahestehende Personen werden in die Behandlung einbezogen. Sie haben die Möglichkeit, direkt vor Ort mit Fachpersonen zu sprechen. Eine psychisch kranke Mutter mit einer Schwangerschaftsdepression kann so in ihrem Familienkreis behandelt und begleitet werden.

zentral+: Aber nicht alle Depressionen werden ambulant behandelt.

Schwegler: Eine ambulante Behandlung ist nicht immer möglich. Dann kommen unsere stationären Angebote zum Tragen. Das kann beispielsweise auch bei einer affektiven Störung sein.

«Die Depression ist die weitaus häufigste Form affektiver Störungen.»

Peter Schwegler, Direktor der Luzerner Psychiatrie

zentral+: Was heisst affektive Störung?

Schwegler: Die Depression ist die weitaus häufigste Form von affektiven Störungen. Betroffene – darunter Personen jeden Alters – sehen sich durch die Erkrankung in vielen Lebensbereichen beeinträchtigt und sind oftmals auf professionelle Unterstützung angewiesen. Unsere Spezialstation in der Klinik St. Urban bietet Betroffenen ein umfassendes Behandlungsangebot. Dieses steht Menschen zwischen 18 und 65 Jahren offen, die unter affektiven Störungen als Hauptdiagnose leiden. 

zentral+: Wie lange bleiben die Menschen im Durchschnitt bei Ihnen?

Schwegler: In der Akutpsychiatrie bleiben die Menschen in der Regel zwei bis drei Wochen.

zentral+: Was kostet ein Tag in einer geschlossenen Psychiatrie?

Schwegler: Der Tagesansatz in der Grundversorgung ist schweizweit und nach Klinik bei gleicher Leistung immer noch sehr verschieden. Man muss in Zukunft aber vermehrt von Preisen und nicht mehr ausschliesslich von Kosten sprechen, will man Qualität, Kompetenz und Wirtschaftlichkeit fördern. Zurück zu Ihrer Frage. Der Tarif für die Akutversorgung im Grundversorgungsbereich liegt bei der Luzerner Psychiatrie für das Jahr 2015 bei 650 Franken pro Tag. Im Benchmarkvergleich gehört die Luzerner Psychiatrie nach wie vor zu den kostengünstigsten Kliniken. Um jedoch die Infrastruktur auch in Zukunft modern und attraktiv zu halten braucht es eine bessere und leistungsgerechte Abgeltung, welche sich am vielzitierten Markt und nicht nur an den Kosten orientiert.

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