Halbwaise, Armut: Darum kam Italienerin nach Emmen

Auch dank diesen Händen wird der Viscosiplatz neu benannt

Fingerfertig: Diese Hände ermöglichten Mirella Fiabane ein neues Leben.

(Bild: hae)

Der Eingang zur boomenden Viscosistadt in Emmen hat einen neuen Namen: Belluno-Platz. Benannt zu Ehren vieler Italiener aus der gleichnamigen Provinz, die in der einstigen Kunstseidenfabrik arbeiteten. Eine von Tausenden ist Mirella Fiabane. Als sie mit 20 zur Viscosi kam, änderte sich ihr Leben. Für immer.

Die Viscosistadt soll zum neuen Herzen von Emmenbrücke werden. Dabei sind die wirtschaftlich grossen Zeiten längst vorbei, als Kunstgarn von hier in alle Welt ging: Ab Mitte der 1950er-Jahre lief die Grossfabrik vor den Toren Luzerns auf Hochtouren. Derart, dass in der Region zu wenige Arbeitskräfte lebten. Deshalb sandte die weit über die Schweizer Grenzen hinaus bekannte Textilproduktion der Viscosuisse regelmässig Talentscouts nach Oberitalien, um dort die fingerfertigsten Frauen anzuwerben. 

«Ich hatte einst flinke Hände», sagt Mirella Vonwyl-Fiabane, eine 83-jährige Frau aus Belluno. Die Hände sind von viel Arbeit gezeichnet, sie hat sich für den Journalisten geschminkt und sie lacht. Denn sie ist, 600 Kilometer nordwestlich ihrer Heimat, immer noch glücklich hier: Mirella Fiabane, wie sie ledig hiess, lebt heute noch mit ihrem Mann Fridolin Vonwyl (85) in Emmenbrücke. Sie ist eine aus dem Heer Tausender Gastarbeiter, die damals auf der Suche nach ihrem Glück in die Luzerner Vorortgemeinde kam.

Halbwaise, Armut, keine Zukunft

Nachdem ihr Vater in Afrika im Krieg umgekommen war, wollte die 20-Jährige um jeden Preis weg aus Belluno nördlich von Venedig. Mirella Fiabane hatte die drei Jahre obligatorische Schule schon lange hinter sich und machte in ihrer alten Heimat bei einer Familie den Haushalt: «Tag und Nacht für 1’000 Lire, das waren etwa sieben Franken.» 

Seit 60 Jahren ein Paar: Fridolin Vonwyl aus Emmen und Mirella Fiabane aus Belluno.

Seit 60 Jahren ein Paar: Fridolin Vonwyl aus Emmen und Mirella Fiabane aus Belluno.

(Bild: hae)

Das war ihr altes Leben: Halbwaise, schiere Armut, keine Zukunft in Belluno, der Provinzhauptstadt mit damals rund 30’000 Einwohnern. Wieso also nicht auf den Pfarrer hören? «Der hatte gepredigt, dass eine Frau Meier aus der Schweiz hier sei und Arbeitswillige am nächsten Tag mit in den reicheren Norden nähme», erzählt sie mithilfe ihres Mannes, eines ehemaligen Bankers aus Emmen.

«Wir hatten von Zürich und Genf gehört, wussten aber nicht, wohin die Reise gehen sollte.»

Mirella Fiabane als 20-jährige Auswanderungswillige

Also stand sie mit einem Dutzend anderer Frauen am nächsten Tag in Herrgottsfrühe am Bahnhof. «Wir hatten von Zürich und Genf gehört, wussten aber nicht, wohin die Reise gehen sollte.» Hauptsache Schweiz, Hauptsache weg. Und Arbeit – fast egal, welche. «Uhren, Schoggi – das klang nach Paradies. Einfach bitte nur nicht ein Job mit Käse», sagt sie und schmunzelt. Damit die blutjungen Auswanderinnen auf ihrem Weg zur neuen Arbeit und in ein neues Leben nicht auf falsche Gedanken kamen, wurden die männlichen Arbeiter aus Belluno erst tags darauf mit der Dampflok nach Emmen begleitet.

Das war im März 1956, die junge Mirella Fiabane kam in die grosse Kunstgarnfabrik Viscosuisse. Sie arbeitete in der Fadenkontrolle, lernte Fridolin Vonwyl im Dorf kennen, heiratete im Oktober 1959 und zog zwei Söhne gross.

«Der Entscheid für die Viscose hat mein Leben geändert. Es war ein gutes Leben.»

«Der Entscheid für die Viscose hat mein Leben geändert. Es war ein gutes Leben», sagt sie. Und erzählt, wie stolz sie war, als sie ihren ersten Lohn in Händen hielt. Die rund 200 Franken gab es alle zwei Wochen in einem Briefchen. Dafür arbeitete sie gerne Schicht, entweder von 6 bis 14 Uhr oder dann von 14 bis 22 Uhr. «Wir wohnten vorerst zu zweit in kleinen Zimmern, wir assen sparsam – und wir waren glücklich», so Mirella Fiabane.

Die Garnproduktion in der Viscose beschäftige viele Arbeiterinnen aus Italien.

Die Garnproduktion in der Viscose beschäftigte viele Arbeiterinnen aus Italien.

(Bild: zvg)

Sie hatte Familie, eine eigene Wohnung und Arbeit. «Was wollte man mehr?» Mirella Fiabane lacht bescheiden. Dieser bürgerliche Traum war es vielen aus der norditalienischen Belluno-Provinz wert, auszuwandern. Gleichzeitig hat diese Migration Tausende entwurzelt und in die weite Welt getrieben. Sie tauschen sich noch heute im Verband «Bellunesi nel Mondo» mit einem Magazin und bei Treffen aus.

Grosszügige Frühpensionierungen

Das Paar hat stets Kontakt zu einigen wenigen Gastarbeiterfamilien aus Belluno. Doch viele sind schon verstorben oder kehrten nach der Fabrikschliessung irgendwann in die Heimat zurück, als es der Viscosuisse immer schlechter ging, das Unternehmen mehrmals den Namen wechselte und schliesslich 2009 vor dem Konkurs stand.

Fridolin Vonwyl weiss: «Diese Gastarbeiter kamen nicht schlecht weg: Es gab grosszügige Frühpensionierungen oder Abfindungen, viele kauften sich davon in Italien ein kleines Häuschen.» Der ehemalige Bankdirektor, der durch seinen Beruf viel von der Welt sah, spricht von Dankbarkeit.

Fadenstrasse der Emmer Viscosistadt: Reminiszenz an alte Traditionen.

Fadenstrasse der Emmer Viscosistadt: Reminiszenz an alte Traditionen.

(Bild: hae)

Einweihung Belluno-Platz am Donnerstag

Lokalprominenz wird am Donnerstagabend dabei sein, wenn nach 17 Uhr der Belluno-Platz offiziell eingeweiht wird. Nebst den Rednern Alain Homberger, dem Geschäftsführer der Viscosistadt AG, und Historiker Kurt Messmer ist auch der Emmer Gemeindepräsident Rolf Born vor Ort.

Die Dankbarkeit der neuen Besitzer des Areals findet dieser Tage mit der Neubenennung des Platzes beim Eingangstor Ausdruck. Für Elmar Ernst, den stellvertretenden Geschäftsführer der Viscosistadt AG, ist die neue Namensgebung des Platzes ein Zeichen für den respektvollen Umgang mit der Geschichte der Gastarbeiter in Emmen. Und wichtig für die Weiterentwicklung der Viscosistadt: «Der Belluno-Platz ist eine sichtbare Hommage an die ehemaligen Arbeiterinnen und Arbeiter aus Norditalien. Er steht stellvertretend für alle Gastarbeiter.»

1973 arbeiteten 5’500 Menschen hier

Und deren gab es viele: 1973 verarbeiteten 5’500 Menschen in der Viscose fast 55’000 Tonnen, und noch 1987 machte das feine Kunstgarn weltweit Schlagzeilen: als das Schweizer Skinationalteam an der WM weit obenaus schwang und allein acht Goldmedaillen holte. Das Skidress aus dem «schnellen Viscose-Garn» war dasjenige mit dem geringsten Luftwiderstand und befeuerte die Siegläufe von Erika Hess, Peter Müller, Vreni Schneider, Maria Walliser und Pirmin Zurbriggen.  

Das schnellste Skidress dank Viscosuisse: Die Schweizer gewannen an der WM 1987 achtmal Gold.

Das schnellste Skidress dank Viscosuisse: Die Schweizer gewannen an der WM 1987 achtmal Gold.

(Bild: zvg)

Da hatten bereits die Moderne und Polyester Einzug gehalten, Industrialisierung und Industriegarn hatten zur Folge, dass Anfang der 1990er-Jahre nur noch 150 Menschen in der Viscosuisse arbeiteten. Heute ist das Gebiet der ehemaligen Grossfabrik wieder belebt, die Region boomt: Künstlerinnen und Designer der Hochschule Luzern haben sich hier eingemietet (zentralplus berichtete). 

Langfristig sollen auf dem Viscosuisse-Areal 1’500 Personen arbeiten und 1’000 Wohnungen entstehen. 2019 wird dort auch der zweite Teil der «Kunsti» einziehen, sodass dann zusätzlich 850 Studierende und 150 Mitarbeitende in der Viscosistadt lernen, lehren und forschen. Von wegen «Emmenbronx».

Kunst wuchert auf dem alten Fabrikgelände der Emmer Viscosistadt.

Kunst wuchert auf dem alten Fabrikgelände der Emmer Viscosistadt.

(Bild: hae)

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