Zuger arbeitete bis zur Erschöpfung

Die traurige Geschichte eines Perfektionisten

Die Krux mit Perfektionisten: Sie können nicht nein sagen – und keine fünf gerade sein lassen. (Bild: Symbolbild Adobe Stock)

Ein Zuger will alles richtig machen – und macht genau deswegen alles falsch. Ein Fall am Luzerner Kantonsgericht gibt Einblick in den Geist eines Mannes, der ein Gefangener seines Perfektionismus geworden ist.

Was würdest du tun, wenn du die Zeit anhalten könntest? Du bräuchtest nur die Türen deines Schranks zu öffnen und du wärst in einem zeitlosen Raum. Die Welt ausserhalb des Schrankes stünde still. Du kannst alle Bücher lesen, die du dir vorgenommen hast. Du kannst jedes Game durchspielen und jede Serie bingewatchen – und wenn du den Schrank wieder verlässt, ist nur eine Sekunde vergangen.

Klingt wunderbar? Nur vordergründig. Skizziert wird diese Idee nämlich in der amerikanischen Horror-TV-Serie «Creepshow». Der Protagonist nutzt den Schrank, um stundenlang für seine Uniabschlussprüfungen zu lernen. Später verbringt er Tage in dem Schrank, um ein exorbitantes Arbeitspensum zu schaffen und so in der Anwaltskanzlei immer höher aufzusteigen.

Die Geschichte nimmt – so viel sei verraten – kein gutes Ende. Es ist schliesslich eine Horrorgeschichte. Aber für den Zuger, mit dem sich kürzlich das Kantonsgericht Luzern auseinandersetzte, muss ein solcher Schrank eine paradiesische Vorstellung sein. Denn er hat ein Problem: Er will – und muss – alles perfekt machen.

Persönlichkeitsstörung als Stärke

Der Mann arbeitete in Luzern für ein Pharmaunternehmen. Schon vor seiner Festanstellung war seinem Chef bekannt, dass er an einer sogenannten anankastischen Persönlichkeitsstörung leidet. Betroffene haben einen ausgesprochenen Hang zu Perfektionismus, übertriebener Gewissenhaftigkeit und ständigen Kontrollen.

Die Halsstarrigkeit kann im menschlichen Zusammenleben äusserst schwierig sein. Sein Chef aber betrachtete diese Eigenschaft seines Mitarbeiters als grosse Stärke. Denn Genauigkeit und exaktes Arbeiten waren genau das, was es in dieser Position brauchte.

Perfektionismus treibt den Mann an, die Nächte durchzuarbeiten

Das Problem: Irgendwann wechselte der Chef den Job. Es kam zu Veränderungen im Team, mit denen der Zuger nicht gut klarkam. Er hatte keinen Stellvertreter mehr und plötzlich deutlich mehr zu tun. Aber anstatt die Aufgaben zu priorisieren und die eigenen Ansprüche zu senken, arbeitete der Mann wie ein Besessener. Nächtelang, tagelang. Das Wochenende durch.

Ferien nahm er nie. Höchstens einzelne Tage konnte er sich von der Arbeit trennen. Zwei Wochen am Stück in den Urlaub fahren? Für den Zuger war das undenkbar.

Ein Traummitarbeiter, könnte man meinen. So war es aber nicht. Denn Unternehmen haben eine Fürsorgepflicht gegenüber ihren Angestellten. Ausserdem müssen sie sicherstellen, dass die Arbeitsgesetze eingehalten werden. Doch was das angeht, biss die neue Chefin bei dem Zuger auf Granit.

Ferien zu machen, lehnt der Zuger rundheraus ab

Als sie ihm schriftlich mitteilte, er müsse sich künftig an die vorgeschriebenen Arbeitszeiten halten und ausserdem zwei Wochen Ferien nehmen, lehnte der Zuger rundheraus ab. Er meinte, es sei für ihn unzumutbar, einmal im Jahr zwei Wochen Ferien am Stück zu beziehen. Dies verursache bei ihm mehr Stress als der Bezug einzelner Ferientage.

Was also tun? Ein halbes Jahr finanzierte die IV Zug ein Jobcoaching, welches dem Mann helfen sollte, seine Aufgaben zu priorisieren. Danach gab der Mann an, mit seinem Job 120 Prozent zufrieden zu sein. Doch wenige Wochen später beklagte er sich, dass er erschöpft sei und ständig Nachtschichten einlegen müsse.

Die Chefin zog eine externe Beratungsfirma hinzu, die auf die Förderung von Wohlbefinden am Arbeitsplatz spezialisiert war. Doch auch das half nicht.

Er fordert, mehr arbeiten zu dürfen – an sieben Tagen die Woche

Das Problem war, dass der Mann auch in seiner Freizeit den gewohnten Perfektionismus an den Tag legte. Also auch im Umgang mit seiner Familie und seinen Nebenbeschäftigungen. Die Bitte der Chefin, die Freizeit zur Erholung und nicht für Nebeneinkünfte zu nutzen, schlug er ebenfalls aus.

Stattdessen forderte er eine Beförderung und die Entlassung zweier anderer Mitarbeiter. Zudem verlangte er, an sieben Tagen die Woche arbeiten und zusätzlich 20 Stunden die Woche in seinen Nebenjob investieren zu dürfen.

Es kam, wie es kommen musste, wenn man die Anweisungen von Vorgesetzten ignoriert. Der Zuger wurde fristlos entlassen.

Hat die Firma den Perfektionisten ausgenutzt?

Die Kündigung war offensichtlich ein Schock. Der Mann ging schnurstracks zur Polizei, nachdem er sie erhalten hatte. Er zeigte seine Chefin und deren Vorgesetzte an. Wegen Nötigung und Körperverletzung.

Gegenüber der Staatsanwaltschaft Zug sagte er aus, die Firma habe seine Zwangsstörung ausgenutzt. Nachdem der Fall aufgrund der Zuständigkeiten an die Kolleginnen in Luzern überwiesen wurde, beschlossen diese jedoch, diesen gar nicht erst an die Hand zu nehmen.

Er wollte der perfekte Arbeiter sein – jetzt ist er arbeitslos

Aus Sicht der Staatsanwaltschaft besteht kein Anfangsverdacht. Ohne einen solchen darf sie nicht ermitteln (zentralplus berichtete). Für sie ist offensichtlich, dass sich sowohl die Arbeitgeberin als auch die IV Zug intensiv bemühten, dem Mann zu helfen. Das sieht auch das Kantonsgericht Luzern so.

Die Firma habe kein Interesse daran gehabt, den Mitarbeiter «zu überfordern, zu entwürdigen oder respektlos zu behandeln», heisst es im Urteil. Seine Wahrnehmung scheine aufgrund der diagnostizierten Zwangsstörung verzerrt zu sein. Das Gericht stärkt der Staatsanwaltschaft damit den Rücken. Aus seiner Sicht war es richtig, die Vorwürfe nicht weiter zu verfolgen.

Der Mann wollte alles richtig machen. Und nun steht er ohne Job da. Damit endet die Geschichte zwar nicht ganz so grausam wie die «Creepshow»-Folge. Tragisch ist sie aber allemal.

Hinweis: Der Entscheid des Kantonsgerichts ist noch nicht rechtskräftig, der Betroffene hat sie mit Beschwerde beim Bundesgericht angefochten.

Wie ist dieser Artikel entstanden?

In der Schweiz gilt die Justizöffentlichkeit. Das heisst: Urteile sind grundsätzlich öffentlich und können von interessierten Personen und Journalistinnen eingesehen werden.

zentralplus sieht regelmässig Urteile des Luzerner Kantonsgerichts ein, um über dessen Arbeit zu berichten und so Transparenz zu schaffen, wie die Justiz funktioniert. Als Medium sind wir dabei verpflichtet, die Personen so weit zu anonymisieren, dass die breite Öffentlichkeit keine Rückschlüsse ziehen kann, um wen es sich handelt. Weitere Artikel auf dieser Reihe findest du hier.

Verwendete Quellen
  • Urteil 2N 22 79 des Kantonsgerichts Luzern
  • «Creepshow» Season 3 Episode 5: «Time Out»
  • Definition einer anankastischen Persönlichkeitsstörung nach ICD-10: 60.5
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1 Kommentar
  • Profilfoto von Celine M
    Celine M, 11.10.2022, 11:38 Uhr

    Schaurig-schöne Geschichte!

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