Rundgang mit Zugs Stadtarchivar Christian Raschle

«Als Zug das Armenhaus der Schweiz war, fehlte es auch nicht an Spott und Häme»

Auch über die Burg Zug wurde einst diskutiert, ob sie abgerissen werden soll oder nicht. (Bild: Flavia Rivola)

Kaum jemand kennt Zug besser als der Historiker Christian Raschle. Über drei Jahrzehnte verwaltete er nebst seiner Tätigkeit als Kantonsschullehrer das Stadtarchiv von Zug. Nun geht der 64-Jährige in Pension. Auf einem Rundgang durch Zug sprachen wir mit ihm über die prägenden Veränderungen der Stadt.

«Als Kind zügelte ich von Cham in die ‹Grossstadt›», erzählt Stadtarchivar Christian Raschle mit einem Augenzwinkern. «Zumindest kam einem das so vor. Das war damals ein Riesensprung.» Seither wohnt er mit seiner Familie in Zug. Ab 1970 arbeitete er als Seminarlehrer in Cham und später an der Kantonsschule Zug. 1982 wurde er als Stadtarchivar angestellt. Die beiden Tätigkeiten übte er je im 50-Prozent-Pensum aus.

Wer mit Christian Raschle in Zug unterwegs ist, dem scheint die Stadt offen und freundlich zu sein. Da ist die Welt noch in Ordnung. Die Leute grüssen auf der Strasse schon von weitem, man schüttelt sich  die Hände. «Der Heimweg gestaltet sich so manchmal recht lang», gibt Christian Raschle schmunzelnd zu. Er freut sich sichtlich über jede Begegnung. Jedes Mal ist seine Pensionierung ein Thema. Reisen wird er nun. Aber nicht einfach nur passiv, das würde auch nicht zu dem rüstigen Neurentner passen, sondern gelegentlich auch als Reiseleiter.  

Wir trafen Christian Raschle zum Interview im Restaurant Im Hof mitten im Herzen seines geliebten Zugs und begleiteten ihn zu seinen Lieblingsplätzen in der Zuger Altstadt.

zentral+: Christian Raschle, wieso treffen wir Sie nicht in Ihrem Büro?

Christian Raschle: Da ich in wenigen Tagen mein Büro räume, stapeln sich darin gerade noch die letzten Schachteln und Boxen, so dass der Raum aktuell nicht für eine Besprechung taugt.

zentral+: Sie waren drei Jahrzehnte lang Stadtarchivar. Was lagert denn so alles im Stadtarchiv?

Raschle: Das Zuger Stadtarchiv ist ein relativ junges Archiv. Darin lagert alles an Grundlagen der Behördenorganisation und der Verwaltungsstruktur. Die ersten Stadtratsprotokolle datieren von 1874. Ab diesem Jahr wurde die Schweiz im Zuge der Revision der Bundesverfassung in Einwohnergemeinden eingeteilt und die Verwaltungsstruktur, wie wir sie heute kennen, nahm ihren Anfang. Damals arbeiteten nur wenige Personen in der Stadtverwaltung, man stelle sich das vor.

zentral+: Ist ein Stadtarchivar so etwas wie ein Bibliothekar?

Raschle: In gewisser Weise schon, doch sind die Archivdokumente einmalig und nur auf Gesuch hin zugänglich. Ich hatte aber das Glück, dass mir auch die Aufgabe übertragen wurde, die Öffentlichkeitsarbeit für das Archiv zu betreiben. Dies beinhaltete beispielsweise auch Stadtführungen, Vorträge an Neuzuzügertreffen und die Beziehungspflege der Partnerstädte. Das entspricht sehr meinem Wesen. Anfänglich umfasste meine Tätigkeit auch die Beratung des Stadtrats, zum Beispiel auf dem Gebiet der Kultur. Das sind nun alles eigene Bereiche in der Verwaltung.

zentral+: Man hört ja immer wieder, der Stadtzuger Verwaltungsapparat sei viel zu gross.

Raschle: Ja, diese Kritik gibt es. Aber man muss auch sehen, dass nicht nur die Aufgaben für das Gemeinwesen ständig zugenommen haben, sondern auch deren Komplexität. Ende des 19. Jahrhunderts diskutierte man noch, ob die Strassenlaternen an der Chamerstrasse von den Anwohnern der Nachbarschaft Lorzen selber bezahlt werden sollten oder von der Stadt. Schliesslich hat man die Kosten je zur Hälfte getragen. So etwas wäre heute undenkbar. Oder nehmen Sie das Rechtswesen: Früher reichte ein einziger Jurist für die ganze Stadtverwaltung. Mittlerweile braucht es für jedes Spezialgebiet einen. Denn wenn sich eine Stadt juristisch nicht absichert, braucht sie im Schadensfall für den Spott nicht zu sorgen.

zentral+: Also nichts mit der «guten alten Zeit»?

Raschle: Natürlich habe ich etwa den grossen Wechsel 1999 in der Stadtverwaltung bedauert. Wir hatten ein gut funktionierendes und eingespieltes Team. Da wurde einem auch bewusst, dass nun die neue Generation nachkommt und man selber älter wird. Aber man kann nicht zurück und das will ich auch gar nicht. War es denn in den Siebzigern etwa besser, als wir noch darüber diskutieren mussten, ob man eine Buslinie nach Neuheim finanzieren könne oder nicht?

zentral+: Die Stadt Zug hat sich seither extrem stark verändert. Wie sehen Sie diese Veränderungen?

Raschle: Nehmen wir als Vergleich ein Kinderzimmer. Das Kind wächst, seine Bedürfnisse und Ansprüche ändern sich mit jedem Jahr und entsprechend verändert sich auch das Zimmer. Mit der Stadt verhält es sich ähnlich: Mit ihren Einwohnern verändert sich das Stadtbild. Die Streitfrage ist immer: Was soll erhalten werden und was soll weg? Kommt dazu, dass sich der Mensch im Gesellschaftsbild ändert. Erst wenn etwas verloren zu gehen droht, wird er aktiv. So sind Heimat- und Denkmalschutz entstanden.

zentral+: Gibt es in Zug ein Beispiel dafür?

Raschle: Die Athene, das alte Gebäude der Kantonsschule, bröckelte vor sich hin. Ich selber bin sogar fast von einem herabstürzenden Gipselement erschlagen worden. Politisch war man sich einig, dass sie abgerissen werden soll. Doch ehemalige Kantischüler lancierten eine Initiative und erreichten schlussendlich in einer Volksabstimmung, dass das Gebäude erhalten bleibt. Heute sind wir froh, dass wir das Gebäude nicht abgerissen haben.

zentral+: Warum?

Raschle: Die ständige Auseinandersetzung, was warum erhalten bleiben soll, führt dazu, dass das Beste vom Besten bestehen bleibt. Von der Materialsubstanz und vom Verwendungszweck her gesehen.

zentral+: Gab es auch falsche Entscheide?

Raschle: Es hilft nichts, Sachen zurückhaben zu wollen. Aber schade ist es um einige Gebäude: Das Haus zum Hirschen etwa, das an der Stelle des heutigen Gebäudes der Stadtverwaltung stand, wäre erhaltenswert gewesen. Andererseits wirkten die alten Häuser an der Zuger Bahnhofstrasse, die man heute nur noch auf Bildern sieht, stabil, aber viele von ihnen waren noch aus dem Bauschutt der Abbruchkatastrophe in der Vorstadt von 1887 gebaut worden und wiesen eine schlechte Substanz auf.

«Die ständige Auseinandersetzung, was warum erhalten bleiben soll, führt dazu, dass das Beste vom Besten bestehen bleibt.»

zentral+: Hätte Zug mehr bewahren sollen?

Raschle: In Österreich und in Deutschland sind viele Gebäude im zweiten Weltkrieg dem Erdboden gleichgemacht worden und mussten neu aufgebaut werden. Die Schweiz hatte glücklicherweise seit 1847 keinen Kriegskonflikt mehr. Aber in gewisser Weise engt dies die Zukunftsplanung ein. Wenn sich die Bedürfnisse ändern, muss Bestehendes abgerissen werden. Da tut man sich natürlich schwer. Schauen wir die Neugasse in Zug an. Sie ist für den Verkehr zu eng. Theoretisch müsste eigentlich eine Häuserzeile abgerissen werden, damit sie verbreitert werden kann. Doch politisch lässt sich so etwas niemals durchsetzen. Also müssen wir auf eine Lösung wie den Stadttunnel zurückgreifen.

zentral+: Woran sieht man die Veränderung in Zug besonders deutlich?

Raschle: An der Zuger Altstadt und um den Kolinplatz. In den Fünfzigerjahren war hier noch das Zentrum der Stadt. Viele Häuser, von denen die meisten Wohn- und Geschäftshäuser waren, wirkten bescheiden. Ab Mitte der Siebzigerjahre wurde alles renoviert. Mittlerweile sind manche Wohnungen so teuer, dass die ursprünglichen Bewohner sie sich nicht mehr leisten können und umziehen mussten. Der zentrale Raum mit der Einkaufszone hat sich nun zum Bundesplatz und nördlich davon verlagert. Der Altstadt ist immerhin die Kultur geblieben: Die Bibliothek, das Theater Casino, die Burg, die Museen, das Kunsthaus und der Burgbachkeller sowie das mittelalterliche Stadtbild um Zytturm, Rathaus und Kriche St. Oswald.
(überlegt) Bezeichnend sind natürlich auch die Hochhäuser. Es wird nun in die Höhe gebaut. Aber blicken wir nach Zürich, wimmelt es auch da von Hochhäusern.

zentral+: Was hat sich in Zug sonst noch verändert?

Raschle: Durch die Grösse ist die Stadt anonymer geworden. Es gibt mehr Oberflächlichkeit und Unverbindlichkeit. Am Beispiel der Vereine wird das deutlich. Man will sich nicht mehr verpflichten. Aber die Gesellschaft muss mit diesen Veränderungen klarkommen. Die Frage ist: Will man die Veränderungen einfach bedauern oder will man sich engagieren, um etwas zu bewirken?

zentral+: Sind die Zuger in einer Identitätskrise?

Raschle: Was war Zug denn früher? Ein mickriges Städtchen. Identität ist etwas zutiefst Menschliches. Diese Unsicherheit ist nicht allein ein Zuger Problem. Es manifestiert sich hier nur akzentuierter. Bereits in den Fünfziger- und Sechzigerjahren war in der Schweiz die Rede vom «helvetischen Malaise». Wenn man bedenkt, wie klein unser Land im Vergleich zum Rest der Welt ist, aber wie gut es uns trotzdem geht. Und es gibt so viel Goodwill gegenüber der Schweiz, beispielsweise in Deutschland und Österreich.

zentral+: Gehört Zug denn noch den Zugern oder schon den Expats?

Raschle: Parallelgesellschaften gab es schon immer. Im kleinen Zug gab es früher nur wenig Berührungspunkte zwischen den Bewohnern in der Herti und der Gartenstadt einerseits und der Innenstadt andererseits. Besonders ausgeprägt waren Parallelgesellschaften bei uns im Ancien Régime vor 1798. Heutzutage lassen sich Ober- und Unterschicht und der Mittelstand differenzieren. Das Zusammenleben von Menschen verschiedener Herkunft und Kulturen prägt unsere Zeit. Politik und Gesellschaft sind gefordert, um Lösungen zu erarbeiten.

zentral+: Man hört ja in den Medien auch immer negative Bewertungen von Zug. Es sei der «Hohlspiegel der Schweiz» oder Zug sei tot.

Raschle: (heftig) Die wenigsten Autoren, die so negativ über Zug schreiben, haben wirklich eine Ahnung von der Stadt. Und ich frage mich schon, was diejenigen, die sich am meisten beschweren, denn für einen Beitrag leisten, damit es besser wird? Als Zug vor einigen Jahrzehnten noch Armenhaus der Schweiz war, fehlte es auch nicht an Spott und Häme. Von einem Finanzausgleich sprach damals niemand.

zentral+: Haben die Zuger denn das Steuer noch selber in der Hand? Oder haben sie es schon längst der Wirtschaft abgegeben?

Raschle: Wenn sie es nicht mehr in der Hand hätten, dann hätten sie ein echtes Problem. Ausländische Firmen sind schnell wieder weg. Wohnräume werden dann benötigt, wenn es auch Arbeitsplätze in der Nähe gibt. Die Ausgewogenheit von Wohn- und Arbeitsplatzangebot ist ganz klar eine der Herausforderungen, welche die Gesellschaft in den kommenden Jahren zu meistern hat.

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