Franz Zemp, Seelsorger der Luzerner Gassenküche

«Alle wissen, dass die Sucht sie das Leben kosten kann»

«Es gibt schon viele tragische Geschichten auf der Gasse.»

(Bild: giw)

In der Stadt Luzern sterben jährlich mehr als zehn Menschen an den Folgen ihres Drogenkonsums. Franz Zemp arbeitet als Seelsorger in der Gassenküche und kennt die Ängste und Nöte seiner Klienten. Und immer wieder muss er von ihnen Abschied nehmen, ungewollt.

Als Franz Zemp an diesem Nachmittag den Vorplatz der Gassenküche an der Geissensteinstrasse betritt, herrscht reger Betrieb: Die Menschen gehen ein und aus, ein Sicherheitsmann versucht für Ordnung zu sorgen, damit Zemp sich für ein Bild ungestört hinstellen kann. Eine Suchtbetroffene witzelt sogleich mit dem Seelsorger der Gassenküche, als sie ihn erblickt. «Da kommt ja mein neuer Schwarm», ruft sie ihm entgegen. Die Leute begrüssen ihn freundlich. Zemp hat für alle ein Ohr, einen Klienten umarmt er herzlich: «Ich habe dich schon lange nicht mehr hier gesehen, wie geht es dir?» 

«Viele Drogenopfer sind wahre Überlebenskünstler»

Die Menschen, mit denen Zemp arbeitet, sind ganz unten in der Gesellschaft angekommen und haben oft eine schwierigen Vergangenheit: «Viele Drögeler haben eine problematische Kindheit hinter sich; sie erlebten Gewalt, Vernachlässigung, Missbrauch.» Gleichzeitig seien es Menschen mit einer unglaublichen Geschichte: «Viele Drogenopfer sind wahre Überlebenskünstler, die einen grossen Fundus an Geschichten zu erzählen haben.» Ausserdem schätzt er den Austausch mit den Leuten: «Ich habe immer wieder sehr spannende, intensive Gespräche über Gott und die Welt mit meinen Klienten.»

Der Seelsorger kommt aus einem sehr katholischen Haushalt im Entlebuch, trotzdem arbeitet er täglich mit Menschen, die den kirchlichen Moralvorstellungen nicht entsprechen. Ist das nicht ein Konflikt? «Nein, für mich nicht. Ich habe mich entfernt von einem dogmatischen Katholizismus, das war aber ein schmerzhafter Prozess.»

Gesprächspartner für die Suchtbetroffenen

Andere hätten sich vielleicht vollständig von dieser Kirche abgewandt, nicht so Zemp. «Ich will innerhalb dieser Kirche etwas anderes leben. In vielen Aspekten bin ich ein unorthodoxer Theologe.» Der 52-Jährige sagt von sich, er sei zwar ein religiöser Mensch, halte aber nicht viel von starrer Kirchenlehre: «Religion muss befreiend sein und soll nicht der Aufrechterhaltung von Dogmen dienen.» Zemp ist bekannt dafür, sich mit der katholischen Kirchenobrigkeit anzulegen (zentralplus berichtete).

Neben seinem Teilzeitpensum als Gassenküche-Seelsorger arbeitet er in einem 70-Prozent-Pensum als Gemeindeleiter in der Pfarrei MaiHof. Er ist ein- bis zweimal pro Woche in der Gassenküche, meistens über Mittag oder am Nachmittag. Als Seelsorger ist er in erster Linie Gesprächspartner für die Suchtbetroffenen, es geht um Fragen wie Sinn und Glaube, oder er ist da, wenn jemand in einer Krise steckt, bietet Unterstützung bei einem Trauerprozess oder beim Abschiednehmen. Das unterscheidet ihn von den Sozialarbeitern im Verein Kirchliche Gassenarbeit, die Klienten insbesondere bei Fragen zu Geld und administrativen Themen wie Renten, Mieten und Krankenkassen berät.

Der Tod ist kein Tabu

Im Innern der Gassenküche hängt ein Bild eines Mannes, daneben die Todesanzeige. Zemp ist sichtlich betroffen: «Was ist passiert?», fragt er bei einem essenden Gast nach. «Ich weiss es auch nicht genau, ich habe ihn aber gut gekannt.» Sterben ist in den Räumlichkeiten der Gassenküche immer wieder ein Thema: «Der Tod ist bei den Suchtbetroffenen kein Tabu. Alle wissen, dass ihre Sucht sie das Leben kosten kann.»

«Die Menschen auf der Gasse sind oft einsam.»

Franz Zemp, Seelsorger der Gassenküche

Die Suchtbetroffenen seien sich des Risikos ihres Missbrauchs sehr wohl bewusst: «Ein falscher Mix, eine Überdosis oder schlechter Stoff: Der Drogenkonsum kann schnell tödlich enden.» Letztes Jahr waren es neun Klienten der Gassenküche, die direkt oder indirekt an den Folgen ihrer Sucht gestorben sind. Zemp beschönigt nichts und erklärt mit ruhiger, aber belegter Stimme: «Einer ist in einer Wohnung nach einer Party an den Folgen einer Überdosis gestorben, zwei haben Suizid begangen, andere sterben, weil die Lunge oder die Leber versagt. Das ist sehr unterschiedlich.»

Viele Gespräche ergeben sich zufällig

In seiner Arbeit gehe es oft darum, einfach zuzuhören. Denn: «Die Menschen auf der Gasse sind oft einsam.» Viele Familien haben sich von ihren drogensüchtigen Verwandten abgewandt und sie verstossen, sie wollen keinen Kontakt mehr. Immer wieder sterben Klienten und die Angehörigen möchten weder mit dem Verstorbenen noch mit der Beerdigung etwas zu tun haben. Dann ist es an Zemp, die notwendigen Schritte einzuleiten: «Ich organisiere einen würdevollen Abschied.»

Gemeinsam mit dem Beistand, den die meisten in der Gassenküche haben, organisiert er die Bestattung. Später hält er zusammen mit seinen Klienten und den Mitarbeitern der Gassenarbeit, die mit dem Toten zu tun hatten, eine Abdankung in der Gassenküche. Dann werden Kerzen für den Verstorbenen angezündet, und dieses Ritual bietet die Möglichkeit zur Trauer. «Ich spüre jeweils eine riesen Betroffenheit während dieses Rituals», sagt Zemp.

Franz Zemp im Gespräch mit einem Klienten.

Franz Zemp im Gespräch mit einem Klienten.

(Bild: giw)

Die Todesanzeige steht wie ein Mahnmal im Raum. Der Mann in der Gassenküche ist sichtlich getroffen vom Schicksal seines verstorbenen Kollegen: «Da kommt man schon ins Zweifeln», sagt er zu Zemp. «Komm doch zur Abdankungsfeier nächste Woche, es ist gut, über das Thema zu sprechen und Abschied zu nehmen», antwortet der Seelsorger. Viele Gespräche mit den Suchtkranken würden sich zufällig ergeben. «Beispielsweise, wenn ich in der Gassenküche bin, aber auch wenn ich die Menschen im Gefängnis oder im Spital besuche.»

Manchmal würden die Leute aber auch auf ihn zukommen, etwa weil sie in einer Krise sind oder mit ihm über den Tod sprechen möchten. «Ein wichtiger Aspekt meiner seelsorgerischen Tätigkeit ist Beziehungsarbeit. Die Menschen vertrauen mir und wissen, dass ich der Schweigepflicht unterliege.»

«Ich möchte mich für Gerechtigkeit und den Schutz einzelner Menschen einsetzen.»

Franz Zemp, Seelsorger der Gassenküche

Die Menschen fragten ihn immer wieder, weshalb er diese schwierige Arbeit mache. «Das Christentum hat damit zu tun, wie es den Menschen rechts und links von mir geht.» Zemp sagt, Mitleid sei das falsche Wort, um sein Engagement zu beschreiben, aber «man braucht die Fähigkeit den Schmerz und die Ängste dieser Menschen nachfühlen zu können, Empathie ist entscheidend für meine Aufgabe.» Sein Glaube motiviere ihn: «Ich möchte mich für die Gerechtigkeit und den Schutz einzelner Menschen einsetzen, das ist als Christ meine Aufgabe.»

Anzahl Drogentote nimmt ab

Obwohl er in seiner Arbeit mit traurigen und schwierigen Momenten konfrontiert wird, gebe es auch heitere Momente. «Wir lachen oft zusammen und geniessen den Moment.» Und auch der Abschied sei nicht immer nur traurig, es gibt immer wieder positive Beispiele: «Ein Mann wurde von seinen Brüdern eng begleitet, bis zu seinem Lebensende. Seine Familie ist den Weg mit ihm bis zum letzten Atemzug gegangen.» Das hat Zemp sehr berührt.

«Immer mehr Menschen genügen heute nicht mehr den Ansprüchen unserer Leistungsgesellschaft.»

Franz Zemp, Seelsorger der Gassenküche

Die Anzahl der Drogentoten in der Stadt Luzern nimmt leicht ab. Waren es vor zwei Jahren noch 12 Personen, die an den Folgen ihres Konsums starben, waren es 2016 noch neun. Die Situation habe sich verbessert, unter anderem deshalb, weil die Kontakt- und Anlaufstelle für bessere, sicherere Umstände zum Konsumieren sorgt, die Konsumierenden nicht so gestresst sind, sondern geschützt. «Zudem gibt es den Nadeltausch nicht mehr. Ausserdem hat man den HIV-Virus heute besser im Griff», erklärt Zemp den Rückgang der Todesfälle.

Arbeit schenkt Halt

Auch die Zahl der Drogensüchtigen, jedenfalls was den Konsum von Heroin und Kokain betrifft, nehme leicht ab, sagt Zemp. Trotzdem bereitet ihm eine Entwicklung Sorge: «Immer mehr Menschen genügen heute den Ansprüchen unserer Leistungsgesellschaft nicht mehr. Sie sehen keine Perspektive in ihrem Leben und fühlen sich aus der Gesellschaft ausgeschlossen.» Das seien oft nicht Drogensüchtige, aber ihre Lebenssituation sei dennoch sehr prekär. «Da sehe ich schon eine Gefahr, dass sich diese Menschen als Aussenseiter fühlen und abstürzen.» Davon seien auch immer jüngere Menschen betroffen.

Die Politik und die Wirtschaft müssten deshalb mehr Möglichkeiten schaffen, damit auch diese Menschen in den ersten Arbeitsmarkt integriert werden, meint Zemp: «Arbeit tut sehr gut, es gibt den Betroffenen das Gefühl, gebraucht zu werden, und schenkt Halt.»

«Wir lachen auch sehr oft zusammen», sagt Franz Zemp über seine Besuche in der Gassenküche.

«Wir lachen auch sehr oft zusammen», sagt Franz Zemp über seine Besuche in der Gassenküche.

(Bild: giw)

Der Ausstieg ist sehr schwierig

Obwohl Drogenopfer meistens in ihrer Sucht gefangen sind, gibt es ihn, den Blick in die Zukunft: «Oft erzählen meine Klienten von einem Wunsch oder einer Vision, die sie für ihre persönliche Zukunft haben, besonders dann, wenn sie für eine gewisse Zeit aus ihrem Alltag herauskommen. Beispielsweise im Spital oder im Gefängnis, wo sie keine Drogen beschaffen können.» Einige möchten noch einmal in ihrem Leben an einen bestimmten Ort reisen oder eine wichtige Sache erledigen. Diese Zukunftspläne verflüchtigten sich oft schnell wieder, sobald sie zurück in ihrem Alltag seien. Obwohl der Ausstieg sehr schwierig ist, komme es immer wieder vor, dass jemand den Absprung schafft.

«In Luzern läuft das sehr gut.»

Zemp ist mit der Drogenpolitik der letzten Jahre in der Schweiz zufrieden: «Vor rund 25 Jahren wurde der Platzspitz geschlossen.» Von 1986 bis 1992 tummelten sich damals bis zu 3000 Fixer auf der Parkanlage mitten im Herzen der Stadt Zürich. Die Räumung war ein Misserfolg, weil die Szene sich einfach verlagerte. Später setzte sich eine liberalere Drogenpolitik durch. «Die Akeptanz für unsere Arbeit, auch die Wertschätzung und die finanziellen Zuwendungen haben seither zugenommen.» Das gelte besonders für den Kanton Luzern, meint er: «In Luzern läuft das sehr gut.»

Obwohl sich die Situation für Drogensüchtige verbessert, bleiben die tragischen Einzelschicksale. Ein paar Tage nach dem gemeinsamen Besuch in der Gassenküche die Gewissheit: Der Verstorbene, dessen Bild in den Räumlichkeiten der Gassenküche hing, hatte einige Tage tot in der Wohnung gelegen, wie Zemp uns mitteilt. Er starb an Organversagen. Die Abdankungsfeier hält Franz Zemp fünf Tage später, gemeinsam mit seinen Klienten und Mitarbeitern.

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