Zuger Gerichtsmediziner war vor Ort

9/11 und Attentat in Zug: Diese Erinnerungen wird Rudolf Hauri nicht los

Vor 20 Jahren hier als Gerichtsmediziner im Einsatz: Rudolf Hauri vor dem Regierungsgebäude in Zug. (Bild: Beat Holdener)

Der September 2001 ist als «schwarzer Herbst» in die Geschichtsbücher eingegangen. Zuerst schockte der Anschlag auf das World Trade Center in New York die Welt, später das Attentat im Zuger Kantonsrat. Als Gerichtsmediziner hat der heutige Zuger Kantonsarzt Dr. Rudolf Hauri beide Ereignisse an vorderster Front miterlebt.

Vor 20 Jahren war Rudolf Hauri am Rechtsmedizinischen Institut der Universität Zürich Leiter der forensischen Medizin, einer Spezialabteilung, die er selber aufgebaut hatte. An den 11. September 2001 kann sich der Zuger genau erinnern: Am Morgen informierte er in Luzern an einer Medienkonferenz über die Untersuchungsergebnisse in einem grossen Kriminaldelikt.

Bei diesem Fall ging es um den sogenannten «Todespfleger», der für Tötungen in Altersheimen verantwortlich gemacht wurde. Am Nachmittag prüfte Hauri Studentinnen beim Staatsexamen, als er in der Pause von den Anschlägen in New York erfährt. «Wir hatten sofort den Eindruck, dass diese Wahnsinnstat mit tausenden von Opfern nur der Anfang sein könnte und weitere terroristische Ereignisse folgen würden», sagt er gegenüber zentralplus.

Im Auftrag der Bundesbehörden unterwegs

In der Zürcher Forensikabteilung wurde damals auch eine Gruppe gebildet, die sich auf die rasche Identifikation von Katastrophenopfern spezialisierte – ein sogenanntes Desaster Victim Identification Team. Dies als Reaktion auf das Massaker in Luxor im Jahr 1997 mit 36 Schweizer Todesopfern. Kurz nach dem Attentat auf die Türme des World Trade Centers bekam Rudolf Hauri eine Anfrage des damaligen Bundesamtes für Polizeiwesen, ob er als Experte in einer Delegation mit nach New York fliegen könnte. «Zuerst gingen die Behörden davon aus, dass mehrere Hundert Schweizer Staatsangehörige ums Leben gekommen waren», erzählt der Zuger Gerichtsmediziner. «Ziel war es, die Amerikaner bei der Identifikation zu unterstützen.»

Bern gab dem Auftrag für den Einsatz in den USA rasch grünes Licht. Der Start der Swissair-Maschine in Zürich verzögerte sich allerdings stundenlang, weil lange nicht klar war, ob überhaupt geflogen werden durfte. «In New York konnten wir allerdings ohne Passkontrolle einreisen», schildert Rudolf Hauri die chaotische Situation. «Alle waren wie gelähmt, und an der Stimmung merkte man, dass etwas passiert sein muss, was hier niemand für denkbar gehalten hatte.» Die Polizeipräsenz in der Stadt war zwar sehr hoch – «man hätte offen mit Goldbarren rumlaufen können» – aber wirklich kontrolliert wurde niemand.

Privataufnahme von Rudolf Hauri nach dem Anschlag New York im Herbst 2001: Noch tagelang lag eine Staub- und Rauchwolke in der Luft.

Chaotische Verhältnisse am Ground Zero

Mit einem Schreiben des Schweizer Generalkonsulats gelangte die Delegation schon am zweiten Tag zum Ground Zero und versuchte mit den US-Behörden Kontakt aufzunehmen. Ein schwieriges Unterfangen, denn es stellte sich heraus, dass rund 300 verschiedene Organisationen beim World Trade Center im Einsatz waren, so Rudolf Hauri. «Bis wir herausgefunden haben, welche Organisation die Federführung hat und ob wir überhaupt in Kontakt treten können, haben wir viel Zeit verbraucht. Zudem waren die Informationen unzuverlässig, teils widersprüchlich.» Angesichts des Riesenereignisses war die schwierige Koordination jedoch durchaus verständlich.

«Wir haben erlebt, wie Überreste von Opfern gefunden wurden. Aber das waren nur winzige Gewebestücke.»

Der Augenschein in den Trümmern der eingestürzten Hochhäuser war für die Schweizer Delegation erdrückend. «Es herrschte eine gespannte Atmosphäre, als ob man befürchtete, dass es jederzeit nochmals knallen könnte.» Der Schutt wurde gemäss Rudolf Hauri wenig systematisch mit Baggern beseitigt, nicht schichtweise, wie er es erwartet hätte, um vielleicht sogar noch Überlebende zu finden.

Menschliche Überreste im Gebäudestaub

«Wir haben zwar erlebt, wie Überreste von Opfern gefunden wurden. Aber das waren nur winzige Gewebestücke, die man nur mit geübtem Blick oder anhand von Kleiderresten als Teile eines menschlichen Körpers erkennen konnte.» Die ganze Szenerie war zudem mit Staub eingedeckt. «Die Luft roch nach pulverisiertem Beton, staubig, feucht und abstossend», erinnert sich Rudolf Hauri. Speziell war für ihn, wie Zuschauer applaudiert haben, wenn ein zerstörtes Polizei- oder Feuerwehrauto geborgen wurde. Mit dieser Geste feierten die New Yorker diejenigen Helden, die beim Einsatz ihr Leben verloren hatten.

Erst mit der Zeit erkannten die Delegationsmitglieder die ganze Dimension des Desasters. Die Fläche, wo die World-Trade-Türme eingestürzt sind, erwies sich als recht klein, aber darum herum waren viele weitere Gebäude ebenfalls zerstört. In einem unglaublichen Ausmass, das sich für den Augenzeugen nur schwer in Worte fassen lässt. Eindrücklich sei auch die grosse Halle gewesen, in der Angehörige von Anschlagsopfern oder Vermissten Kontakt aufnehmen konnten und wo die geborgenen Effekten aufgereiht waren.

Wenige Schweizer Opfer

Der Schweizer Gerichtsmediziner und seine Begleiter mussten allerdings erkennen, dass sie vor Ort handwerklich wenig beitragen konnten, weder Unterstützung bei der Identifikation bieten, noch Proben für DNA-Abgleiche beschaffen. Mit der Zeit wurde auch klar, dass weniger Schweizer betroffen waren als befürchtet. Die meisten konnten sich rechtzeitig aus den Gebäuden retten oder waren zum Zeitpunkt des Anschlags gar nicht anwesend.

Vor 20 Jahren war Rudolf Hauri als Gerichtsmediziner in New York im Einsatz. (Bild: Pixabay/Archiv)

Nach zehn anstrengenden Tagen in New York kehrte Rudolf Hauri mit den Co-Delegierten wieder in die Schweiz zurück. Ohne wirklich einen Beitrag geleistet zu haben, aber mit wichtigen Erkenntnissen: «Wir haben eindrücklich gemerkt, dass es für die Identifikation von so vielen Opfern eine starke Organisation und Koordination aus einer Hand braucht, das hat eindeutig gefehlt», so Hauri, «die Organisationen in New York haben oft gegeneinander gearbeitet.» Viele der Opfer konnten lange oder gar nicht identifiziert werden.

Nächster Grosseinsatz folgt auf dem Fuss

Am 27. September 2001 wollte sich Rudolf Hauri gerade aufmachen, um in Bern am Debriefing für seinen Einsatz in New York teilzunehmen. Doch dann erreichte ihn die Nachricht vom Attentat im Zuger Kantonsrat und dass er sofort dort gebraucht werde. Im Internet waren zu diesem Zeitpunkt nur wenige Informationen verfügbar: «Auf der Seite von Radio Sunshine war einzig das Symbol einer Bombe abgebildet.» Nur etwa eine Stunde nach den tödlichen Schüssen im Regierungsgebäude fuhr der Gerichtsmediziner mit einem Assistenten nach Zug, ab Sihlbrugg von der Polizei eskortiert. Nach einem kurzen Briefing durch den Polizeikommandanten musste sofort in Zusammenarbeit mit dem kriminaltechnischen Dienst mit der Arbeit am Tatort begonnen werden.

«Wir standen unter dem Eindruck: Jetzt geht etwas los. Es wird noch mehr Anschläge geben.»

Der Einsatz löste bei Rudolf Hauri spezielle Gefühle aus – vor allem im Zusammenhang mit dem Anschlag auf das World Trade Center. «Am Anfang ging man von einem Zusammenhang mit einem terroristischen Akt aus und auch wir standen unter dem Eindruck: Jetzt geht etwas los. Es wird noch mehr Anschläge geben.» Zudem war er sich bewusst, dass er im Saal höchstwahrscheinlich Tote untersuchen muss, die ihm bekannt waren. Bei einer engeren persönlichen Beziehung hätte er jedoch in den Ausstand treten müssen.

Untersuchung im «Sachverständigenmodus»

 «Als Forensiker ist man nicht gefühllos, aber ich habe den Auftrag, eine Tat aufzuklären», erklärt Rudolf Hauri, «dann komme  ich in den ‹Sachverständigenmodus› und muss einfach funktionieren.»  In einer solchen Situation gilt es, nüchtern, objektiv, sachlich, nachvollziehbare Sachverhalte festzustellen und zu erheben: «Das ist nicht nur für die Untersuchungsbehörden entscheidend, sondern auch für die Angehörigen von Opfern enorm wichtig.» Neben einer amtlichen Legalinspektion mussten vor Ort auch Spuren gesichert werden. Die Angehörigen der verstorbenen Kantons- und Regierungsräte konnten sich dann kurz verabschieden, bevor die Untersuchungen im Institut weitergeführt wurden.

«Mit nachvollziehbaren Untersuchungen können wir auch klar und unmissverständlich allfälligen Verschwörungstheorien entgegentreten.»

Auch die Obduktion des Täters gehörte zu den Aufgaben des Gerichtsmediziners. Dabei ging es darum, anhand von Schmauchspuren, charakteristischen Verletzungen und anderen Befunden festzustellen, wie dieser zu Tode gekommen ist. Rudolf Hauri war in solchen Fragen auch schon international als Mit-Experte beigezogen worden, beispielsweise beim Tod des RAF-Terroristen Wolfgang Grams. «Mit nachvollziehbaren Untersuchungen klären wir den Sachverhalt objektiv», stellt Rudolf Hauri fest. «Damit können wir auch klar und unmissverständlich allfälligen Verschwörungstheorien entgegentreten.»

Einen solchen Anschlag nicht für möglich gehalten

Im Nachhinein können solch belastende Grenzerfahrungen auch bei einem Gerichtsmediziner emotionale Reaktionen auslösen. Erst nach und nach realisiert er, was für eine unerhörte Tat hier geschehen ist. «Trotz vielen Grossereignissen wie Flugzeugabstürzen und schlimmen Verbrechen, die ich untersuchen musste, hätte ich einen Anschlag in einer so gezielten Form wie in Zug nicht für möglich gehalten», sagt Rudolf Hauri, der seit 2002 als Zuger Kantonsarzt amtiert. «Ich bin mir deshalb heute bewusst, dass Drohungen nicht immer Drohungen bleiben, sondern auch umgesetzt werden können.»

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2 Kommentare
  • Profilfoto von Marco Meier
    Marco Meier, 27.09.2021, 15:45 Uhr

    Das Politische und Behördliche- Totalversagen, dass zu dieser Tat geführt hat, wurde bis heute nicht aufgearbeitet. Totales Versagen von Justiz und Politik.
    DAS ist wirklich bedenklich.

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  • Profilfoto von mebinger
    mebinger, 09.09.2021, 10:59 Uhr

    Danke für diesen informativen Bericht. Er hat mir neue Einblicke gewährt, was in den meisten Medienberichten seitdem ich aus dem Koma geholt worden war nicht der Fall war. Eine ganz anderer Blickwinkel. Gratuliere

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