Mittelalterliche Kräuter und die Pille danach vom Alchemisten
Der Luzerner Matteo Schaffhauser ist Apotheker mit Leib und Seele. Vor knapp sechs Jahren hat er die Alte Suidtersche Apotheke übernommen und führt seither das alchemistische Erbe seines traditionsreichen Berufsstandes fort. Er kennt sich mit der modernen Forschung ebenso gut aus wie mit der mittelalterlichen Heilkunde – und er weiss, wieso die «Pille danach» bei ihm ein Dauerbrenner ist.
Es ist keine gewöhnliche Apotheke. Die Alte Suidtersche Apotheke, gelegen inmitten der Luzerner Kleinstadt, ist längst zu einem Label geworden. Und Matteo Schaffhauser, Doktor der Pharmazie, der das Geschäft im April 2011 übernommen hat, sorgt dafür, dass das auch in Zukunft so bleiben wird.
«Ich mache Sachen, die andere Apotheken nicht machen», erzählt Schaffhauser, welcher der Kundenberatung vorne im Verkaufslokal ebenso viel abgewinnen könne wie dem Experimentieren und Herstellen im hinteren Bereich des Geschäfts. «Es steckt viel Alchemist in mir. Inzwischen habe ich hier über 300 verschiedene Kräuter, ich mache meinen eigenen Schnupf und stelle viele Hausmittelchen selber her. Das geht weit über eine normale Apotheke hinaus.»
Geheimrezepte und historisches Erbe
Er wolle denn auch kein normaler Apotheker sein, sagt Schaffhauser von sich selbst, während wir den von Kräuterdüften geschwängerten Verkaufsraum durchschreiten. Ein Gemisch aus Baldrian und Minze liegt in der Luft. In den Regalen stehen Hausspezialitäten wie «Marienbader Entfettungstee», «Ottos Nasensalbe» oder «Taucherohrentropfen». Und natürlich die «Mutter- und Kind-Salbe», seit Jahren der Hausbalsam der Suidterschen Apotheke.
«Unser Bestseller», meint Schaffhauser mit Blick auf die Haussalbe, die er ebenfalls selber vor Ort herstellt. «Wer sie einmal probiert hat, kauft sie wieder», sagt er mit einem Schmunzeln. Das Rezept behält er für sich. Betriebsgeheimnis. Die Salbe erlangte mittlerweile schweizweit Bekanntheit. Selbst aus Übersee träfen hie und da Bestellungen ein.
Es liegen indessen nicht nur die Düfte von Kräutern und Essenzen in der Luft, sondern auch ein grosses Stück Geschichte. Die Alte Suidtersche Apotheke ist nämlich die älteste Apotheke der Stadt Luzern, die noch in Betrieb ist. 1833 wurde sie durch Doktor Medicus Leopold Suidter eröffnet, zu einer Zeit, in der das Haus mit angegliedertem Burgerturm noch fester Bestandteil der Stadtbefestigung war. Der Bau des Hauses reicht gar bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts zurück.
Apotheker auf Lebenszeit
Schaffhauser (56) stammt aus einer Luzerner Apotheker-Familie. Sein Vater und sein Onkel waren Apotheker, seine Cousine trifft man in der Neustadt Apotheke, seinen Cousin in der Cysat Apotheke bei der Kantonalbank. Schaffhauser selbst war über 20 Jahre lang in der Pharmaindustrie tätig, bis er sich mit der Übernahme der «Suidterschen» vor knapp sechs Jahren einen Lebenstraum erfüllte.
«Das wird definitiv meine letzte berufliche Station sein.»
«Ich bin nun der zehnte Apotheker hier», rechnet Schaffhauser nach. «Wenn man bedenkt, dass die Geschichte rund 180 Jahre in die Vergangenheit reicht, ist das nicht sonderlich viel.» Dies zeige, dass man diese Apotheke, wenn man sie einmal übernommen hat, so schnell nicht wieder verlasse. «Das wird definitiv meine letzte berufliche Station sein.»
Ob pharmazeutische Forschung, Logistik, Herstellung oder behördlicher Umgang: Schaffhauser kennt sich in allen Bereichen der Pharmabranche aus. «Ich liebe das Metier. Ich möchte hier etwas für unseren Berufsstand bewirken. Und für Luzern.» Deshalb amtet er als Vizepräsident im Quartierverein Kleinstadt, engagiert sich immer wieder für kulturelle Projekte und stellt Interessierten sein Fachwissen zur Verfügung.
Dauerbrenner: «Pille danach»
Apropos Luzern: Wo drückt der Bevölkerung eigentlich mehrheitlich der Schuh? «Für die Luzerner lässt sich diesbezüglich kein Spezifikum ausmachen», erklärt der Apotheker, der in seinem Laden immer auch Sozialstudien betreibt. «Ich würde sagen, es ist recht durchmischt. Es ist halt nicht wie zum Beispiel in Basel, wo man früher viel gesundheitsschädliche Industrie hatte und sich entsprechend Asthma-Erkrankungen häufen.» In Luzern würde keine solche Besonderheit hervorstechen.
«Sicher jeden dritten Tag fragt jemand nach der ‹Pille danach›.»
Dafür gäbe es andere Auffälligkeiten: «Sicher jeden dritten Tag fragt jemand nach der ‹Pille danach›. Durch den Austausch mit Berufskollegen weiss ich, dass das eher häufig ist», erzählt Schaffhauser, der sich sicher ist, dass dies unmittelbar mit der Apotheke zusammenhängt. «Über die Jahre ist eine starke Vertrauensbeziehung zu den Kunden entstanden. Zudem bieten wir hier eine Anonymität, die andernorts vielleicht nicht so gegeben ist.»
Schaffhauser findet es gut, dass Frauen diese niedrigschwellige Möglichkeit geboten wird. Auch wenn die «nachträgliche Verhütung» gar nicht immer nötig sei: «Ich führe ja stets ein Gespräch, wenn das Produkt verlangt wird. Da gibt es immer wieder die Situation, in der ich den Frauen erkläre, dass es ausgeschlossen ist, in diesem Zustand ihres Zyklus überhaupt schwanger werden zu können.» Meistens werde die Sicherheit aber dennoch höher gewichtet und die Frauen würden sich trotzdem dafür entscheiden, die Pille einzunehmen.
Mittelchen gegen ein krankes Gesundheitssystem
Gespräche, Beratung, Vertrauensaufbau – Schaffhauser versteht sich als Bindeglied zwischen Arzt und Patient. Er weiss, wie er mit den Kunden umgehen muss, hat ein feines Gespür für die richtigen Fragen. Oft gehe es nicht bloss darum, dass jemand ins Geschäft käme, ein Präparat abhole und wieder verschwinde. «Anhand der beschriebenen Symptome ordnen wir ein, ob es etwas Harmloses ist, das wir mit unseren Mitteln behandeln können, oder ob man es genauer abklären muss. Ich finde es gut, dass es diese Vorstufe zum Arzt gibt. Stellen Sie sich vor, jeder würde gleich zum Arzt rennen, wenn er doch lediglich ein Alka-Seltzer braucht.»
«Bezogen auf unser Gesundheitssystem verhalten wir uns wie in einem grossen Selbstbedienungsladen.»
Wichtig sei dies auch, weil es eine Erleichterung für das Gesundheitswesen darstelle, sagt Schaffhauser, der bei diesem Thema einen etwas konsternierten Eindruck macht. «Bezogen auf unser Gesundheitssystem verhalten wir uns wie in einem grossen Selbstbedienungsladen. Eine Never-ending-Story. Zu viele Interessensgruppen stehen dahinter.»
Das gelte auch für Generika. «Ich als Apotheker verdiene an teuren Medikamenten nicht viel mehr. Es sind die Hersteller, die damit das grosse Geld machen.» Generika gäbe es nicht, wenn die Industrie die Preise nach Ablauf der Patente von sich aus senken würden. «Heute habe ich vom selben Produkt teilweise zehn verschiedene Anbieter. Ich kann nicht darauf verzichten, weil ich den Kundenbedürfnissen gerecht werden möchte. Hier spielt der Markt. Letztlich bläst dies allerdings bloss mein Lager auf.»
Die Apotheke, die Touristen anzieht
Schaffhausers Apotheke umfasst gut 5500 Artikel – und ein entsprechend breites Wissen. Das betrifft nicht nur neuste wissenschaftliche Errungenschaften, sondern auch altbewährte Rezepturen. «Die Geschichte der Pharmazie interessiert mich sehr», betont Schaffhauser. «Mein Herz schlägt für die Heilkunde, die jahrhundertealte Erfahrung meines Berufsstandes und das überlieferte Wissen über probate Hausmittel.»
Die Faszination für die Ursprünge seines Metiers teilen Luzerner wie Touristen. Kaum jemand läuft an dem Schaufenster gegenüber dem Hotel Wilden Mann vorüber, ohne einen Blick hineinzuwerfen. Die alte Schauapotheke, das hauseigene Museum der «Suidterschen», werde gar in einem chinesischen Reiseführer aufgeführt, erzählt Schaffhauser.
Die Vergangenheit im Schaufenster
«Das war die Idee von Leopold Suidter, um zu zeigen, wie Pharmazie in früheren Zeiten stattgefunden hat.» Nachts, wenn das Licht angeht, erblickt man darin verschiedenste Apothekergefässe, darunter solche, die in der Luzerner Manufaktur in Flühli hergestellt wurden. Weiter hat es Holzgefässe mit sonderbaren Schriftzeichen, einen Mörser, ein Mikroskop aus dem 18. Jahrhundert und ein Apothekerbuch aus dem Jahre 1582.
Und natürlich die Tiere: «Damit wollte man sich früher den Respekt der Leute sichern», erklärt Schaffhauser. «Man wollte zeigen, dass man ein weit gereister Mensch war und mit anderen Ländern Handel betrieben hatte.» Das steigerte das Ansehen des Apothekers, liess diesen aber auch etwas kurios erscheinen.
Ein Exot auf der Suche nach Nischen
Vor Jahrhunderten sei die Apotheke ein abgeschotteter Raum gewesen, in welchen sich der Apotheker zurückzog und sein Wissen konservierte. In dieser Hinsicht hätten sich die heutigen Apotheken stark gewandelt. «Das Wissen ist heute frei zugänglich, weil es zunehmend nach aussen getragen wurde», so Schaffhauser.
«Früher wurden Mischungen produziert, deren Rezepte nur der Apotheker kannte und niemand sonst. Der Kreis war sehr eng. Heute muss man nur schon von Gesetzes wegen alles deklarieren», konstatiert Schaffhauser. Indem er mit seinem Wissen im hauseigenen Labor experimentiert, knüpft er an das Erbe seines alten Berufsstandes an.
Schaffhauser versucht die Vergangenheit mit der Gegenwart zu verknüpfen. Alte Heilkunde und modernste Forschung. Bewandert ist er auf beiden Gebieten, sodass es ihm immer wieder gelingt, Nischen zu entdecken. In dieser Hinsicht sei er ein Exot. «Das gefällt mir», sagt er. Früher hätte man ihn einen Alchemisten genannt.
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