Experte spricht von «Missständen»

Prämienverbilligung: Luzerner Urteil hat landesweite Signalwirkung

Der Entscheid über die Prämienverbilligung in Luzern hat bereits erste Auswirkungen auf andere Kantone.

(Bild: AdobeStock)

Das Urteil des Bundesgerichts zu den Prämienverbilligungen im Kanton Luzern wird Signalwirkung haben. Denn nun werden diverse Kantone über die Bücher gehen müssen. Davon sind die Experten überzeugt. Die SP hat jedenfalls schon mehreren Kantonen gedroht, sollten diese die Verbilligungen nicht überprüfen.

Das Urteil des Bundesgerichts zur Kürzung der individuellen Prämienverbilligungen (IPV) im Kanton Luzern hat bereits hohe Wellen geworfen. Am Montag hat die SP ihren Sieg an einer nationalen Medienkonferenz nochmals so richtig genossen. Und der Luzerner Gesundheits- und Sozialdirektor Guido Graf kroch bereits am Samstag zu Kreuze, als der Entscheid offiziell verkündet wurde (zentralplus berichtete).

«Der Entscheid des Bundesgerichts zeigt, dass die Mittel für die individuelle Prämienverbilligung nur bis zu einer gewissen Grenze als Manövriermasse in Sparbemühungen einbezogen werden dürfen», räumte Graf das Vergehen des Regierungsrates ein. 

Problem ist überall zu beobachten

Thomas Gächter, Professor für Sozialversicherungsrecht an der Universität Zürich, ist deshalb überzeugt, dass das Urteil landesweite Signalwirkung haben wird: «Es ist selten, dass das Bundesgericht bei Angelegenheiten, die in der Kompetenz der Kantone liegen, so deutlich wird», sagt Gächter. 

«Es ist aber eine Tendenz zu beobachten, dass die Kantone versucht sind, den grossen Ausgabeposten IPV zu verkleinern.» Diese Entwicklung habe nach der Umsetzung der Unternehmenssteuerreform II per 2011 eingesetzt, welche zu Mindereinnahmen bei den Kantonen führte, schildert er die Situation. «Mit einem einzigen, relativ einfachen Handstreich lassen sich Millionen sparen», beschreibt Gächter die politische Beliebtheit von Massnahmen wie der Kürzung der IPV. 

«Kantone gehen innovativ mit Bundesgeldern um»

Die Kantone würden so aber den Goodwill des nationalen Parlaments missbrauchen. Denn der Artikel zur IPV im Bundesgesetz sei bewusst sehr offen formuliert. «Dort steht eigentlich fast nichts», sagt Gächter. Dies sei der föderalen Vielfalt und den unterschiedlichen wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten geschuldet. «Bern nahm die Kantone daher nur an die sehr lange Leine.»

«Es war klar, dass es zu Missständen kommen würde.»

Thomas Gächter, Professor für Sozialversicherungsrecht

Die Kantone hätten sich in der Folge indes als sehr innovativ erwiesen, was die Verwendung der Bundesgelder für die IPV angeht, kritisiert Gächter. Nicht wenige hätten das Geld zum Beispiel in die Sozialhilfe gesteckt, was nicht die Idee sei.

Und er zieht ein ernüchterndes Fazit: «Es war klar, dass es zu Missständen kommen würde, als das Parlament die Regelung so locker formuliert hat», so Gächter. «Mit dem Entscheid ist nun aber eine klare Untergrenze gezogen worden. Alle Kantone müssen jetzt über die Bücher», sagt Gächter. Und insbesondere die finanzschwachen Stände, die ebenfalls an der IPV geschraubt hätten, würden nun wohl ins Grübeln kommen, ist er überzeugt.

«Urteil nicht überraschend»

Auch der Luzerner Anwalt Bruno Häfliger, der im Auftrag von drei Privatpersonen in Lausanne Klage eingereicht hatte, ist über das Urteil nicht sonderlich überrascht: «Wir haben natürlich gehofft, dass das Bundesgericht so entscheiden wird. Im Grundsatz war es aus rechtlicher Sicht aber eigentlich klar, dass es nicht anders rauskommen konnte», so seine Analyse.

Das Bundesgericht sei dabei jedoch noch ziemlich sanft mit dem Luzerner Regierungsrat umgegangen. Denn die in Luzern festgelegte Untergrenze von 54’000 Franken für einen Bezug der IPV sei weit unter dem Betrag, wie ihn das Parlament in Bern ziemlich einhellig vorgesehen hatte.

«Der Bund stellt ja entsprechend Geld zur Verfügung, damit die Kantone auch Familien mit mittlerem Einkommen unterstützen, auch wenn die Stände das Geld immer mehr für andere Zwecke verwenden», erklärt Häfliger. Hätte es einen heftigeren Rüffel aus Lausanne gegeben, hätte sich der Regierungsrat daher nicht beklagen können, ist er überzeugt.

Zurückhaltung beim Bund

So habe sich auch das Bundesamt für Gesundheit (BAG) wiederholt darüber beklagt, dass die Mittel zweckentfremdet werden. «Das BAG findet es unter jedem Hund, dass sein Geld von den Kantonen anderweitig eingesetzt wird», sagt Häfliger. Deshalb habe der Bundesrat dem Treiben mit einer entsprechenden Vorlage einen Riegel schieben wollen, sei im bürgerlichen Parlament aber gescheitert.

«Luzern war im Bereich IPV einfach das extremste Beispiel.»

Bruno Häfliger, Anwalt Luzern

Beim BAG wollte man sich dazu auf Anfrage nicht äussern. «Das BAG ‹beurteilt› Gerichtsentscheide grundsätzlich nicht», sagt Mediensprecher Jonas Montani. Es liege in der Kompetenz der Kantone zu bestimmen, wer IPV erhält. «Es ist nun folglich an ihnen zu überlegen, ob das Gerichtsurteil für sie Konsequenzen hat», so Montani. Damit lässt er aber zumindest durchblicken, dass der Fall Luzern allenfalls auch andernorts Konsequenzen haben könnte.

«Luzern ist Extrembeispiel»

Bruno Häfliger ist denn auch überzeugt, dass einige Kantone nach dem Verdikt des Bundesgerichts über die Bücher gehen werden, wie er sagt. «Eine juristische Schlappe wie ihre Luzerner Kollegen möchte wohl keine zweite Kantonsregierung einfahren.» Denn Luzern habe aufgezeigt, dass ein Richtspruch aus Lausanne in der Sache überfällig war.

«Luzern war im Bereich IPV einfach das extremste Beispiel, weshalb es nun diesen Kanton zuerst getroffen hat», erklärt Häfliger. Dass Luzern einen Extremfall darstelle, zeige sich auch daran, dass es sehr viel brauche, bis das Bundesgericht einen Gliedstaat zurückpfeift.

Will heissen: Der Luzerner Regierungsrat habe eindeutig rote Linien überschritten. Föderalismus hin oder her. «Auch die weitgehend autonomen Kantone können nicht gegen Bundesgesetz verstossen», sagt Häfliger.

Andere Bereiche nicht betroffen

Könnte das Urteil zu den IPV auch Auswirkungen auf andere Politikbereiche wie zum Beispiel die Bildung haben? Denn aus Spargründen hatte der Kanton Luzern 2016 den Gymnasien und Berufsschulen eine Woche Zwangsferien verordnet.

Experte Thomas Gächter verneint: «Im Bildungsbereich sind die Zielvorgaben, das heisst der so genannte Bildungsauftrag, weitgehend auf Verfassungsstufe angesiedelt und sehr unspezifisch.» Fragen der Ferienregelung in Schulen lägen offensichtlich in der Kompetenz der Kantone, so Gächter. Der Bund könne hier ohne eigene Kompetenz keine direkten Vorgaben machen.

«Nach meiner Einschätzung wäre deshalb ein Vorstoss, der sich beispielsweise durch die aus Spargründen vorgesehenen Zwangsferien wendet, vor Bundesgericht nicht erfolgversprechend», so der Rechtsprofessor.

Im Krankenversicherungsrecht sei hingegen im Grundsatz der Bund zuständig. «Er hat den ganz überwiegenden Teil im Krankenversicherungsgesetz geregelt, für die Prämienverbilligung aber einen Vorbehalt für kantonale Regelungen gemacht, obwohl er auch diese hätte regeln können», erklärt Gächter. 

SP Aargau hat den Braten gerochen

Erste politische Konsequenzen hat der Fall Luzern jedenfalls schon nach sich gezogen, wie ein Blick über die Kantonsgrenze zeigt. So hat die SP des Kantons Aargau, gestützt auf das Urteil, eine Petition gestartet, die vom Regierungsrat eine Korrektur bei den IPV verlangt.

«Die SP Aargau fordert den Regierungsrat auf, die Limite für den Bezug von Prämienverbilligungen zu überprüfen und unverzüglich Anpassungen in die Wege zu leiten. Sonst wird sie gegen den Kanton Klage einreichen», heisst es auf der Website der Sozialdemokraten.

Aber auch weitere Kantone stehen im Fokus. Bern, das Wallis, Glarus, die beiden Appenzell und Neuenburg sollen wie Luzern den Mittelstand nicht angemessen unterstützen. Die Regierungen dürften also davor gewarnt sein, was passieren könnte, sollten sie dieser Aufforderung nicht nachkommen. 

Erleichterung bei Concordia

Erfreut nimmt man das Urteil auch beim Luzerner Krankenversicherer Concordia zur Kenntnis. Er hatte die Rückzahlung für gut 2’400 Versicherte übernommen. Rund 2,2 Millionen Franken aus einem Fonds wurden dafür aufgebracht (zentralplus berichtete). «Wir freuen uns für die Familien, die einen Anspruch auf die Prämienverbilligung haben und denen diese Unterstützung durch die Sparmassnahmen des Kantons entzogen worden war», sagt Mediensprecherin Astrid Brändlin. Wie es genau weitergeht, kann sie aber noch nicht sagen. «Am Donnerstag wird die Luzerner Regierung nach eigenen Angaben kommunizieren, wie sie vorgehen will. Wir werden diese Kommunikation abwarten und werden uns dann um die technische Abwicklung in diesem speziellen Fall kümmern», so Brändlin.

Themen
Deine Ideefür das Community-Voting

Die Redaktion sichtet die Ideen regelmässig und erstellt daraus monatliche Votings. Mehr zu unseren Regeln, wenn du dich an unseren Redaktionstisch setzt.

Deine Meinung ist gefragt
Deine E-Mailadresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert. Bitte beachte unsere Netiquette.
Zeichenanzahl: 0 / 1500.


0 Kommentare
    Apple Store IconGoogle Play Store Icon