Premiere von «Ödipus Stadt» im Luzerner Theater

«Endlich wieder richtiges Theater»

Ödipus (Yves Wüthrich) mit seiner Frau und Mutter (Wiebke Kayser). (Bild: Ingo Hoehn)

Am Freitagabend eröffnete die Sparte Schauspiel im Luzerner Theater die Spielzeit unter der neuen Intendanz. In der Box zeigte das frische Ensemble, was es kann. Und es kann was.

Der Abend der antiken Tragödien beginnt schon im Eingangsbereich des Luzerner Theaters. Die Einführung von Dramaturg Hannes Oppermann ist unverkrampft und frischt die Geschichte von Ödipus und seinem «Schandgeschlecht» wieder auf. Auch die Tragödie und die Tragik erklärt Oppermann auf witzige und einfache Weise. Seine leichte Premieren-Nervosität verzeiht man ihm gerne, bekommt die Einführung doch dadurch eine sympathische Leichtigkeit und Unabgeklärtheit.

Rost, Staub und viel Zurückhaltung

Die Box ist für «Ödipus Stadt» so eingerichtet, dass das sehr gemischte Publikum auf den Stufen seitens der Jesuitenkirche Platz nimmt. Mehr als ein Dutzend verschiedengrosse, rostige Blöcke stehen auf der Bühne. Als das Stück beginnt, lösen sich die Schauspieler aus den Blöcken heraus, steigen über sie hinweg, ein starkes erstes Bild, welches den Zuschauern auch die Möglichkeit gibt, die Spieler des neuen Ensembles ein erstes Mal kennenzulernen.

Kostüme und Maske sind in Erdfarben gehalten – rostig, beige. Die Kleidung und die Körper der Schauspieler sind staubig und matt. Das Stück kommt mit wenigen Requisiten aus. Doch wenn, dann sind sie mit viel Wirkung verbunden, die Krone, die Melone, die Eimer und Lappen für die Totenwäsche. Eine Jacke bei Antigone, welche ihr, in Kombination mit dem kurzen, glattgegelten Haar die nötige Härte verleiht. Ein kleiner Hut beim Boten/Hirten/Wächter, die Hosenlänge – minimale Punkte sind es nur, welche den Charakter jeder Figur verraten.

Alle neuen Ensemblemitglieder stehen bei «Ödipus Stadt» auf der Bühne. (Bild: Ingo Hoehn)

Alle neuen Ensemblemitglieder stehen bei «Ödipus Stadt» auf der Bühne. (Bild: Ingo Hoehn)

Der Stoff steht im Fokus

Die Regisseurin Anja Behrens hat ganze Arbeit geleistet. Die Inszenierung überzeugt auf ganzer Linie. Sie konfrontiert mit menschlichen Zügen, mit Hoffnungen und Abgründen – sie erschreckt, bringt zum Lachen und zum Schlucken.

Ich habe Sophokles noch nie in dieser Dringlichkeit und nah an den eigenen Gefühlen, Stärken und Schwächen erlebt. Der grossartige Text, die Geschichte und die schicksalhaften Verknüpfungen, welche die antiken Tragödien zu Klassikern gemacht haben, wurden endlich wieder einmal in den Vordergrund gestellt. Nicht grossartige Regie-Einfälle, sondern der Stoff steht im Vordergrund – das Versprechen wird gehalten (zentralplus berichtete).

Direkte Konfrontation – «Du bist gemeint»

Die Darsteller spielen während des ganzen Stücks vornehmlich zum Publikum gerichtet. Nur selten schauen sie sich gegenseitig an, nur selten gibt es Berührungen, welche dann jedoch umso stärker und wirkungsvoller sind. Und während die frontale Spielweise zu Beginn noch als Stilmittel wahrgenommen wird, kommt sie während des Stücks immer näher an die Zuschauer heran. So braucht es auch keine Überzeichnungen – die ehrliche und echte, feine Spielweise der Darsteller geht nahe. Man ist direkt mit allen Emotionen konfrontiert, fühlt sich angesprochen und einbezogen.

Beeindruckend sind die Bilder, welche im Teil «Sieben gegen Theben» den Streit um die Macht der Brüder Eteokles (Jakob Leo Stark) und Polyneikes (Lukas Darnstädt) zeigen. Es sind archaische Bilder. Urmenschlich, an einen Affen, an Wikinger zwischen den Kämpfen erinnert Stark als Eteokles. Eine Melone wird provokativ gefressen und der Kampf wird von einer verkrampften, berührungslosen Umarmung zu einem verkeilten Leichenberg.

Jakob Leo Stark als Eteokles verwehrt seinem Bruder Polyneikes (Lukas Darnstädt) die Krone. (Bild: Ingo Hoehn)

Jakob Leo Stark als Eteokles verwehrt seinem Bruder Polyneikes (Lukas Darnstädt) die Krone. (Bild: Ingo Hoehn)

Vielversprechendes Ensemble

Im Streit der beiden Schwestern Antigone (Verena Lercher) und Ismene (Sofia Elena Borsani) zeigt die Geschichte einmal mehr ihre grosse Dringlichkeit. Grossartig gespielt von den beiden neuen Ensemblemitgliedern. Allgemein zeigt dieser Abend, wie vielversprechend das junge Ensemble ist: Schön auch, sind uns Christian Baus und Wiebke Kayser vom alten Schauspiel-Ensemble geblieben.

Gegen Ende, als Kreon (Adrian Furrer) sich krönt und auch er mit der Macht seine Bedachtheit und Weisheit verliert, setzt die Szene zwischen Kreon und seinem Sohn Haimon dem Stück die Krone auf. Der gebürtige Schwyzer Mirza Šakić bringt Sophokles ins Hier und Jetzt und wenn er in ein klagendes Volkslied in einer unbekannten Sprache einstimmt, fällt auf: Das ist die erste und einzige Melodie im Stück. Denn sonst bleibt die Musik eher Geräusche – wie Maschinen, Helikopter, Lärm der Industrie.

Ein lebendiges Totenhaus

Die Spieler bleiben während der 90 Minuten stets auf der Bühne. Es gibt lediglich ein Abdrehen oder ein Zurückziehen zwischen die rostigen Blöcke. Und eine beeindruckend gehaltene Pose von Yves Wüthrich als gebrochener Ödipus.

So stehen zum Ende rund um den neuen König Kreon überall die Toten. Ein lebendiges Totenhaus. «Ich kann dir nichts mehr raten», spricht Theiresias (Alina Vimbai Strähler), und so endet die Tragödie.

Als das Licht ausgeht, zeigt das Publikum nach einem tiefen Atemzug seine Begeisterung. Es wird gejubelt und «Bravo» gerufen, die Schauspieler haben glasige Augen und der ältere Herr neben mir auf dem Sitz wendet sich plötzlich zu mir und sagt mit lachendem Gesicht: «Endlich wieder richtiges Theater.»

Während alle Leichen gewaschen und bestattet werden, soll Polyneikes diese Ehre nicht zukommen. (Bild: Ingo Hoehn)

Während alle Leichen gewaschen und bestattet werden, soll Polyneikes diese Ehre nicht zukommen. (Bild: Ingo Hoehn)

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