Ugričić: «Terrorist» in Serbien, hier Doktorand

«Wie kann man jung sein und keine Veränderung wollen?»

Der serbische Schriftsteller Sreten Ugričić wird für circa zwei Jahre an der Universität Luzern forschen. (Bild: jav)

In Jugoslawien geboren, aus Serbien geflüchtet und in der Schweiz – «im kapitalistischen Utopia» – gestrandet. Der international bekannte Schriftsteller Sreten Ugričić verrät im Interview, woran er in Luzern forscht und was ihn besonders an der Zuger Jugend so geschockt hat.

Der 54-jährige Sreten Ugričić ist Schriftsteller, Philosoph und Bibliothekar. Und während er im deutschsprachigen Raum auch als Experte für nationalistische Strömungen in Ex-Jugoslawien bekannt ist, nennt man ihn in Serbien einen Terroristen.

Seit diesem Mai ist er als Forschungsmitarbeiter und Doktorand beim Literatur- und Kulturwissenschaftsprofessor Boris Previsić an der Universität Luzern angestellt. Nachdem Ugričić Serbien 2012 verlassen musste (siehe Box), kam er zunächst in Zug unter, später in Wien und Zürich – als Writer in Residence. Danach verbrachte Ugričić zwei Jahre an der Universität Stanford, dozierte und forschte im Bereich Kunst und Politik. Darauf folgte ein Stipendium in Washington. Nun ist er zurück in der Schweiz.

Ugričić hat bislang zehn Bücher veröffentlicht. Er beschäftigt sich mit Themen wie dem Nationalismus, identitären Strömungen und alternativen politischen und gesellschaftlichen Denkweisen. Dabei hat er auch schon die Schweizer Bundesverfassung genauer angeschaut. Diese beginnt nämlich mit der gleichen Präambel wie die iranische Verfassung: «Im Namen Gottes des Allmächtigen!»

Das Interview wurde auf Englisch geführt und daher per Du.

zentralplus: Du warst in Stanford und Washington – warum bist du jetzt wieder in der kleinen Schweiz gelandet?

Sreten Ugričić: Im November kam ich zum zweiten Mal ins Atelier der Stiftung Landis&Gyr nach Zug. Ihnen bin ich sehr dankbar. Sie haben mir in Schlüsselmomenten meines Lebens enorm geholfen. Sie waren die Ersten, die mir, nachdem ich Serbien verlassen musste, ein Stipendium gaben. Zudem habe ich einige Freunde hier in der Schweiz. Melinda Nadj Abonji zum Beispiel. Deshalb habe ich mich entschieden, noch zu bleiben.

zentralplus: Du arbeitest ja öfters mit Melinda Nadj Abonji zusammen, sie liest deine Texte bei Veranstaltungen. Kennt ihr euch schon lange?

Ugričić: Wir haben uns im Frühling 2011 an der Leipziger Buchmesse kennengelernt, sassen an denselben Diskussionsrunden. Sie war damals gerade der grosse Star, hatte mit «Tauben fliegen auf» die grössten Preise im deutschsprachigen Raum abgeräumt. Mir war damals gar nicht bewusst, dass sie derart durchstartete. Wir hatten spannende Gespräche und stehen uns seither sehr nahe.

zentralplus: Es verbindet euch beide vor allem die Thematik der Identität?

Ugričić: Das ist eines von vielen Themen, über welche wir beide gerne nachdenken. Wir versuchen aufzuzeigen, wie man Identität und Heimat anders definieren kann als über Nationalität, Kultur oder Sprache. Ein Auslöser dafür ist, dass wir beide in einem Land geboren sind, welches nicht mehr existiert: Jugoslawien.

«Wenn der Polizeiminister dich vor allen Terrorist nennt und droht, dich ins Gefängnis zu werfen, fühlst du dich nicht mehr sicher.»

zentralplus: Wie hast du Jugoslawien erlebt?

Ugričić: Es war Utopia realisiert – so wie die Schweiz heute auch. Doch die jugoslawische Geschichte bezeugt, wie gefährlich identitäre und nationalistische Entwicklungen sein können. Und wie brutal sie enden können. Ich sehe immer mehr Einflüsse in diese Richtung auch hier in Westeuropa. Und ich beobachte sie mit grosser Sorge.

Ich habe diese ganzen Zeiten in Serbien erlebt – Milošević, den Krieg. Ich war dort, kämpfte und schrieb gegen den Nationalismus, den Chauvinismus, den Faschismus. Und schliesslich musste ich das Land verlassen deswegen. Wenn der Polizeiminister dich vor allen Medien einen Terroristen nennt und droht, dich ins Gefängnis zu werfen, fühlst du dich nicht mehr sicher. Und zwei Monate später wurde er Innenminister. Das war der Moment für mich, zu gehen.

Sreten Ugričić

Sreten Ugričić wurde 1961 in Herceg Novi in Jugoslawien geboren. Er studierte Philosophie an der Belgrader Universität und war danach als Assistent an der Philosophischen Fakultät der Universität Prishtina tätig. Von 2001 bis 2012 war er der Leiter der Serbischen Nationalbibliothek in Belgrad. 2012 wurde er seines Amtes enthoben, da er sich öffentlich für einen Schriftstellerkollegen einsetzte, der sich kritisch der Regierung gegenüber geäussert hatte. Der serbische Innenminister nannte Ugričić daraufhin öffentlich einen Terroristen. Zudem drohte er damit, ihn ins Gefängnis werfen zu lassen. Seither lebte er in der Schweiz, Österreich und den USA. Ugričić hat einen 18-jährigen Sohn und lebt getrennt von seiner Frau.

 

zentralplus: Warst du seither schon zurück in Serbien?

Ugričić: Ja, zwei-, dreimal ganz kurz. Wegen familiärer Ereignisse. Aber ich fühle mich nicht willkommen und nicht wohl. Ich bin gebrandmarkt als Verräter, als Anti-Serb und explizit als Terrorist. Das ist nicht angenehm. Als ich noch in Serbien lebte, schrieb ich oft am Ende meiner Texte als Kurznotiz zum Autor: «He lives in serbia. Life is a foreign land. Only imagination is home.» Heute lebe ich diesen Satz. Ich lebe physisch und politisch im Ausland. Aber zu Hause bin ich sowieso in der Phantasie, in meiner Vorstellungskraft. Und ich bin glücklich damit, auch wenn ich einen hohen Preis bezahlt habe.

zentralplus: Wie bist du nun an die Universität Luzern gekommen?

Ugričić: Ich habe bereits in Stanford ein Projekt gestartet, über das ich hier in der Schweiz mit einigen Leuten gesprochen habe. Darunter war dann auch Boris Previsić und er war sofort sehr interessiert an der Thematik. Er ermutigte mich schliesslich dazu, mich in Luzern zu bewerben, und ja – hier bin ich nun. Ich bin sehr glücklich über die Möglichkeit, hier forschen zu können.

zentralplus: Worum geht es in deiner Forschung?

Ugričić: Es geht um Kunst, die für Publikum nicht zugänglich ist. Nicht aus Gründen der Zensur oder so, sondern weil der Künstler selbst entscheidet, seinen künstlerischen Output nicht mit einem Publikum zu teilen. Ich bin nun dabei, Beispiele zu sammeln, aus allen Zeiten und Orten und Arten der Kunst, Motive dafür und Aussagen davon zu suchen.

zentralplus: Das hört sich aber sehr abstrakt an.

Ugričić: Im Gegenteil. Es ist sogar sehr konkret. Es geht um künstlerische Arbeit, die zwar nicht zugänglich ist, aber trotzdem existiert. Als Hauptvoraussetzung für Kunst gilt, dass sie öffentlich geteilt wird. Das wird als Fakt angenommen. Ist es jedoch nicht. Und diese Erkenntnis öffnet den Diskurs über Kunst ganz von vorne. Es gibt zum Beispiel Kulturen ohne Kunst. Oder etwas wird erst Hunderte Jahre später als Kunst wahrgenommen – oder nur von ganz wenigen. Für andere ist es Politik, Unterhaltung, einfach nur Bullshit – aber nicht Kunst. Wir definieren, was Kunst ist, das basiert auf Annahmen. Genauso wie wir definieren, was normal ist, was recht und unrecht, was gleich ist. Alles Annahmen.

Durch die Beschäftigung mit versteckter Kunst komme ich zu diesen Überlegungen. Wie kann ich etwas erreichen, was nicht erreichbar ist? Ein wunderschönes Paradoxon. Ich muss mir die versteckte Kunst also erstmal vorstellen. Und das ist eine Voraussetzung für jegliche Art von Kunst. Imagine. Nur dann funktioniert es. Darum dreht es sich, mein Doktorat. (Er lacht) Jetzt bin ich etwas abgeschweift.

zentralplus: Wie lange wirst du dafür hier bleiben?

Ugričić: Sicher zwei Jahre, hoffe ich. Ich möchte gerne noch etwas in der schönen Schweiz und dem schönen Luzern bleiben. Ich mag auch das Pendeln zwischen Zürich und Luzern. Bisher ist diese Strecke alles, was ich hier kennengelernt habe: meine kleine Schweiz.

zentralplus: Von Luzern selbst hast du noch nicht viel gesehen?

Ugričić: Leider nicht wirklich. Ich bewege mich meist nur zwischen Bahnhof und Uni. Und in der Loge bin ich schon mehrmals aufgetreten. Aber bald werde ich mehr Zeit dafür haben, die Stadt kennenzulernen. Zug und Zürich kenne ich mittlerweile schon ziemlich gut. Besonders Zug.

«Ich war geschockt, zu erfahren, dass diese jungen Menschen keine Vorstellungen von Veränderungen haben.»

zentralplus: In Zug hast du schon ein paar Monate gelebt und auch einen Text darüber geschrieben. «Alles glänzt in Zug und alles ist pünktlich und alles ist voller Respekt und alles ist zum Greifen nahe. Alles ist da, ausser Minarette.» Besonders spannend fand ich, was du über die Zuger Jugendlichen geschrieben hast: «Wie kann man jung sein und nicht gegen etwas sein? Wie kann man jung sein und keine Veränderung wollen? Wie kann man jung sein und sich nicht die Freiheit vorstellen können?»

Ugričić: Der Text entstand am Ende meines ersten Aufenthaltes in Zug. Ich wurde angefragt und freute mich sehr, mich etwas näher mit Zug zu beschäftigen. Der Text dreht sich vor allem darum, dass ich mit jungen Leuten gesprochen habe. Ich wollte wissen: Welche grossen Veränderungen im Vergleich zum Leben eurer Eltern und Grosseltern könnt ihr euch vorstellen? Und ich war geschockt, zu erfahren, dass diese jungen Menschen keine Vorstellungen von Veränderungen haben. Sie wollen das auch nicht. Sie wollen wiederholen, was schon ihre Eltern und Grosseltern erlebt und gelebt haben. Meine Vorstellung ist jedoch, dass man, gerade als junger Mensch, etwas verändern will. Man will doch eigene Wege gehen, sich von den Eltern abgrenzen, Dinge in der Gesellschaft verändern.

«Zug ist kleines kapitialistisches Utopia. So wie die ganze Schweiz.»

zentralplus: Und weshalb glaubst du, sind die Jungen in Zug nicht so?

Ugričić: Zug ist kleines kapitalistisches Utopia. So wie die ganze Schweiz. Doch es gibt immer zwei Seiten einer Münze. Hinter jedem Utopia ist ein Distopia und umgekehrt. Nordkorea ist zum Beispiel Distopia auf einer utopischen Idee aufgebaut. Hier haben wir das Gegenteil. Wir leben in einer utopischen Gesellschaft  – haben viele Symptome dafür. Aber dahinter steht die dunkle Seite. In Zug fühle ich diese dunkle Seite in der Einstellung der jungen Leute. Alles ist für uns so designt, dass wir nicht denken müssen. Die Arbeit, die Unterhaltungsindustrie verbraucht all unsere Zeit und Energie. Das grosse Geld kreiert dieses Umfeld.

zentralplus: Was würdest du den Jungen wünschen?

Ugričić: Mehr Phantasie. Dass sie sich Alternativen ausdenken. Dass sie sich «points of no return» vorstellen – Punkte ohne Wiederkehr in ihrem Leben. Solche Überlegungen tun viel auf. Denn es ist gefährlich, einfach zu wiederholen, was die Generation vorher gemacht hat. Da fehlen doch entscheidende Fragen: Wo bist du denn darin? Bist du genau gleich wie deine Eltern? Willst du genau dasselbe?

zentralplus: Aber es ist halt bequemer, nichts verändern zu müssen.

Ugričić: Wieder eine Annahme. Ist es wirklich bequem? Deshalb ist Kunst so wichtig – Kunst attackiert, negiert, fordert heraus.

zentralplus: Du hattest diesen Juni wieder einen Auftritt in der Loge. Wie hast du das Publikum wahrgenommen?

Ugričić: Es sind immer sehr gute Leute da. Die Atmosphäre ist sehr intim und stimmig, die Leute aufmerksam. Aber sie reagieren nicht wirklich. Einen Dialog zu provozieren ist schwierig. Das ist mir auch an anderen Orten in der Schweiz aufgefallen. Die Schweizer sind als Publikum für meinen Geschmack zu schüchtern. Das heisst nicht, dass sie ignorant sind, unaufmerksam oder blasiert. Nein. Aber sie brauchen wohl mehr Zeit, um sich auszudrücken. Ich weiss, dass ich sehr provokant sein kann und an vielen Orten auf der Welt hat das sehr gut funktioniert. Aber hier nicht. Und wenn es in der Loge, wo die Stimmung sehr lebendig und intim ist, nicht möglich ist, dann ist es vielleicht in der Schweiz überhaupt nicht möglich.

«Vielleicht haben die Schweizer zu viel Respekt vor der Bühne.»

zentralplus: Woran glaubst du, dass das liegt?

Ugričić: Vielleicht haben die Schweizer zu viel Respekt vor der Bühne, vor der Person, die vorne steht. Ich würde empfehlen, diese Art zu überdenken. Eine schönere Art, Respekt zu zeigen, als in Stille zu lauschen, ist, sich auszutauschen.

zentralplus: In der Loge sprachen du und Melinda Nadj Abonji über Identität, Gemeinsamkeit und Unterschiede.

Ugričić: Es geht darum, dass wir eine alternative Vorstellung anbieten wollen. In unserer Welt definieren sich alle durch Identität. Doch diese Vorstellung überträgt sich auf alles. So sehr, dass Leute sich kaum mehr etwas anderes vorstellen können. Die Repression ist so gross. In anderen Kulturen können sich die Menschen wenigstens noch Alternativen vorstellen. Hier nicht. Anstelle von Identität (identity) wollen wir etwas anderes stellen. Ich nenne es Ähnlichkeit (similarity). Jetzt provoziere ich mal. Ich will von dir wissen, was das Gegenstück zu identisch ist.

zentralplus: Unterschiedlich.

Ugričić: Damit liegst du falsch. Alle sagen erstmal das. Aber das liegt an diesem Identitätsgedanken, dem Gleichheitsgedanken, welcher unsere Köpfe geformt hat. Doch anstelle von «unterschiedlich» sollten wir «ähnlich» setzen. Wir sind hier beim Hauptargument: Nur was unterschiedlich ist, kann ähnlich sein. Etwas, das identisch ist, kann nicht ähnlich sein. Wenn du dir eine Welt vorstellst, in welcher die Gesellschaft, unserer Kultur und Politik so denken würden – es wäre eine schöne Alternative. Man würde das Identische nicht dem anderen gegenüberstellen, sondern dem Ähnlichen.

In Europa und der Schweiz gibt es das Problem, dass andere nicht gleich akzeptiert sind. Fremde, wie man es nennt. Europa baut Mauern und Zäune an den Grenzen. Das passiert wegen dieser Identitätspolitik, diesen Ideen und Vorstellungen. Die sind anders als wir, die wollen wir nicht. Wenn wir die Welt aber mit der Idee von Ähnlichkeit vorstellen würden. Wenn wir also den Fokus statt auf die Unterschiede auf die Gemeinsamkeiten legen würden, hätten wir plötzlich Inklusion statt Exklusion. Wir würden Verbindungen sehen, Beziehung herstellen. Wir könnten darauf bauen und sehen, wie nahe wir uns eigentlich sind.

zentralplus: Wo beobachtest du das konkret in der Schweiz?

Ugričić: Zum Beispiel die Durchsetzungsinitiative wollte genau diese Gleichheit untergraben. Der Geist dieser Initiative schliesst von Grund auf aus – und gründet auf der Idee von Identität. Un das in einer Gesellschaft, in welcher 25 Prozent sogenannte Fremde sind. Hätten wir die Gemeinsamkeit als Grundgedanken, dann wäre eine solche Initiative völlig absurd. Ich bin sehr froh darüber, dass die Initiative abgelehnt wurde. Man hätte die direkte Demokratie, welche wir so sehr schätzen und hochhalten, genutzt, um antidemokratischer zu werden.

zentralplus: Du bist sehr politisch in deiner Arbeit.

Ugričić: Alles was wir tun, ist politisch. Ein ganz banaler Akt, wie etwas in einem Laden zu kaufen, ist politisch. Wir glauben, wir hätten die Freiheit uns im Geschäft zwischen Produkten zu entscheiden. Dabei ist es nur die Illusion einer Wahl. Egal ob wir wissen oder nicht wissen – es ist ein politischer Akt. Auch Kunst ist politisch. Und ich bin leidenschaftlich dazu motiviert, Alternativen aufzuzeigen. Mein Leben zeigt es ja. Und meine Arbeit. Alternativen sind immer möglich. Sich etwas anderes vorzustellen sollte immer möglich sein.

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