Migration

Die Alemannen wanderten in Luzern und Zug in Massen ein

Die Alemannen kamen über den Rhein in die Schweiz. (Bild: Adalar-Sippe)

Migration steht in der Schweiz zuoberst auf der politischen Agenda. Dabei ist das Thema nicht neu: In der Vergangenheit hat Einwanderung schon mehrmals dafür gesorgt, dass die Bevölkerungsmehrheit und Kultur in der Zentralschweiz gewechselt haben. 

Menschen aus 127 Ländern leben in der Stadt Zug, in der Stadt Luzern sind gar 143 verschiedene Nationalitäten vertreten. Migration und Multikulti sind Alltag – nicht erst seit Erfindung der Personenfreizügigkeit, des Flugzeugs oder der Eisenbahn. In grauer Vorzeit gab es schon Masseneinwanderung, die das Gesicht der Zentralschweiz grundlegend verändert hat.

Zum Beispiel vor rund 1400 Jahren, als man in unserer Gegend Alemannisch zu sprechen begann. Damals lebte in der dünn besiedelten Schweiz eine romanische Bevölkerung. Nach dem Ende des römischen Reichs geriet im Jahr 536 die heutige Deutschschweiz, wie zuvor Südwestdeutschland, unter fränkische Herrschaft. Von Norden her begannen Alemannen im grossen Massstab über den Rhein zu kommen. Sie überwanderten in den folgenden Jahrhunderten die einheimischen Romanen und drängten ihnen Sprache und Kultur auf.

Knochenjäger weisen den Weg

Im Kanton Luzern finden sich aus dieser Zeit viele Zeugnisse im Raum Sursee, im Kanton Zug hat man in Baar Funde gemacht, die den Wandel dokumentieren. Schriftliche Quellen gibt es zu dieser Migrationsbewegung kaum. Rückschlüsse erlauben Ortsnamen oder Einzelheiten aus den Lebensgeschichten von Heiligen, wie jener des irischen Wandermönchs Columban – ansonsten ist man komplett auf Bodenfunde angewiesen.

Im Dorfkern von Baar, bei der Pfarrkirche St. Martin, vermutet man eine lange Siedlungstradition, die bis auf die Kelten zurückreicht. Hier hatte einst ein römischer Gutshof gestanden. Vor einigen Jahren grub man auch Siedlungsreste aus dem Frühmittelalter aus. Zuvor hatte man bei einer Strassensanierung bereits einen Friedhof freigelegt, der vom 5. bis ins 7. Jahrhundert existierte.

Eigener Friedhof für die Einwanderer

Gross war deshalb die Überraschung, als nördlich des Ortskerns plötzlich ein zweiter Friedhof auftauchte, der im 7. Jahrhundert entstand und parallel zum ersten betrieben wurde. Und dies, obwohl beide nur 700 Meter voneinander entfernt lagen.

«Vielleicht gehörte der Friedhof zu Blickensdorf», sagt Dorothea Hintermann vom Museum für Urgeschichte(n) in Zug, wo derzeit eine Ausstellung über die Alemannen in Baar zu sehen ist (siehe Box). Der Weiler Blickensdorf trägt einen der ältesten alemannischen Ortsnamen im Kanton Zug. Der Friedhof wäre demnach von einer Gruppe von Zuwanderern angelegt worden.

Mit DNA den Ereignissen auf der Spur

Wie sich diese von den Altbaarern unterschieden, lässt sich archäologisch nicht feststellen. Anhand der Vermessung der Knochen, namentlich der Schädel «kann die Frage nicht geklärt werden», schreibt die untersuchende Archäologin Brigitte Lohrke im Grabungsbericht. Vielleicht bringt dereinst die Genetik Licht ins Dunkel. «DNA-Proben von den Skeletten haben wir gesichert», sagt Hintermann, «aber noch nicht ausgewertet.»

Kulturelle Unterschiede zwischen den beiden Gruppen sind nicht greifbar. Die Grabbeigaben – Kleider, Waffen, Schmuck – waren an beiden Orten der Zeit entsprechend alemannisch geprägt.

Vier Religionen zur Auswahl

Ein Unterschied bestand im Glauben: Die romanische Bevölkerung hatte keltische und römische Götter verehrt. «Ausserdem ist es wahrscheinlich, dass das Christentum in Baar bereits praktiziert wurde», sagt Hintermann. Im Römischen Reich war es seit 380 Staatsreligion gewesen. Die Alemannen brachten ihrerseits den Glauben an germanische Götter mit.

Im neuen Friedhof fanden sich sowohl heidnische Amulette wie auch einzelne Kreuzdarstellungen, die durchaus mit germanischen Tiermotiven kombiniert wurden. Noch im 7. Jahrhundert wurde im Ortskern von Baar die erste christliche Kirche errichtet und die verschiedenen Traditionen verschmolzen.

Das Militär als Kulturvermittler

Damit war bereits nach wenigen Jahrhunderten die römische Epoche zu Ende gegangen. So richtig begonnen hatte diese, nachdem Kaiser Augustus zwischen 25 und 16 v. Chr. die Alpenvölker unterjochen liess und zusätzliche Truppen auf die Alpennordseite verlegte. Die einsetzende Romanisierung der Bevölkerung wird durch einen Münzfund im Kanton Luzern angezeigt. «Wir haben in Reiden Münzen aus der Zeit von Kaiser Augustus gefunden, die in Südfrankreich geprägt wurden und mit dem römischen Militär in Verbindung standen», sagt Ebbe Nielsen, stellvertretender Luzerner Kantonsarchäologe.

Damit wird deutlich, wer den frühen Kulturimport bei den Römern vor allem besorgt hat: die Armee. Parallel zu den Militärkolonien und Militärlagern lebte die keltische Bevölkerung in selbstverwalteten Strukturen. Auch wenn sie von den Römern allmählich Bräuche, Sprache und Religion übernahmen, so dauerte es über 200 Jahre, bis die keltischen Helvetier den römischen Kolonisten rechtlich gleichgestellt wurden.

Archäologen wollen Wissenslücke schliessen

Wann die Helvetier und die andern keltischen Stämme in die Schweiz gekommen waren, ist unsicher. Viele Archäologen und Sprachwissenschaftler glauben, dass die keltische oder generell die indoeuropäische Einwanderung irgendwann zwischen Jungsteinzeit und Bronzezeit, vor gegen 5000 Jahren, stattgefunden hat und mit der Verbreitung der Schnurkeramik-Kultur (2750-2350 v. Chr.) einhergeht. Und zwar aus dem einfachen Grund, weil Archäologen keine krassen Brüche zu den Nachfolgekulturen feststellen konnten. Das lässt auf eine kontinuierliche Weiterentwicklung schliessen.

Die Anfänge der Helvetier zu ergründen – damit argumentierte auch die Zuger Kantonsarchäologie in der Öffentlichkeit, als es 2008 darum ging vom Kantonsrat einen Kredit von 4,3 Millionen Franken für eine Rettungsgrabung am Bachgraben in Cham zu erhalten. Dort, bei der Überbauung Alpenblick am Zugerseeufer, hatten sowohl die Schnurkeramiker wie auch ihre Vorgänger von der Horgener Kultur (3500-2750 v Chr.) ihre Pfahlbauten errichtet. Die Fundstelle wurde in den letzten Jahren genau erforscht, bevor die Baukräne auffuhren.

«Es gibt im Kanton Luzern ebenfalls Funde der Horgener und der Schnurkeramik-Kultur –­ unter anderem in Egolzwil», sagt Ebbe Nielsen. Der entscheidende Unterschied sei jedoch, dass die Stätten nicht gleich detailliert untersucht wurden und die Befunde nur bedingt aussagekräftig seien. «Persönlich glaube ich eher nicht, dass grössere Wanderungen im frühen 3. Jahrtausend stattgefunden haben», sagt Nielsen. Deshalb seien die gut dokumentierten Zuger Ergebnisse «kulturhistorisch ausserordentlich wichtig», findet der Luzerner Archäologe. «Sie werden uns massgeblich helfen, die Problematik, und damit auch die Luzerner Funde, zu verstehen.»

Die Grenzen der Erkenntnis

Warum und wieviele Menschen jeweils kamen, lässt sich bei den frühgeschichtlichen Kulturwechseln und Einwanderungswellen nicht genau feststellen. Die klassische Migrationsforschung hat zwar vor langer Zeit Grundsätze für Wanderungsbewegungen aufgestellt. Der Demograf Ernst Ravenstein beobachtete im 19. Jahrhundert, dass Migration meistens aus wirtschaftlichen Gründen erfolgt. Dass die Landbevölkerung eher als die Stadtbevölkerung wandert. Dass Männer weiter als Frauen migrieren. Dass Migranten meistens Alleinstehende sind. Dass Wanderungen häufiger über kürzere Distanzen erfolgen und dass längere Wanderungen in Etappen geschehen.

Und für die Migration der Moderne gibt es mittlerweile soziologische und wahrscheinlichkeitstheoretische Modelle, es gibt mathematische Formeln zur Berechnung der Sogwirkung oder des Humankapitals der Migranten.

Bei den Schnurkeramikern oder den alten Alemannen hilft indes keine Theorie und keine Politik. Hier ist man auf die Archäologie angewiesen und auf die Instrumente der Gerichtsmedizin.

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