Luzerner Sozialforscherin zur Gleichstellung

Gleichstellung in der Wirtschaft? – «Die Schweiz steht ziemlich alleine da»

Lucia Lanfranconi – Sozialforscherin und dreifache Mutter – befasst sich nicht nur beruflich mit Gleichstellungsfragen. (Bild: jav)

Lucia Lanfranconi forscht in Luzern zum Thema Gleichstellung und hat sich dabei besonders in der Wirtschaft als Expertin etabliert. Im Interview erklärt sie, wo die Schweiz hinterherhinkt, was sie aus der eigenen Erfahrung als Mutter mitgenommen und welche «erschreckenden» Erkenntnisse sie gemacht hat.

Frauen studieren Maschinenbau, werden Bundesrätin, Männer werden Hausmann und arbeiten in der Pflege – Gleichberechtigung pur. Oder?

20 Jahre nach dem Gleichstellungsgesetz gibt es in der Schweiz noch immer grosse Geschlechterunterschiede, gerade in der Wirtschaft.

Die Sozialforscherin Lucia Lanfranconi, angestellt an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit, untersuchte Gleichstellungsprojekte im Rahmen ihrer Dissertation. Die dreifache Mutter ist seit ihrer Dissertation und dem Film «Gleichstellen – eine Momentaufnahme», der daraus entstand, zur Expertin in Gleichstellungsfragen geworden.

zentralplus: Womit beschäftigt sich die Forschung beim Thema Gleichstellung in der Schweiz vor allem?

Lucia Lanfranconi: Es wird aktuell sehr breit geforscht. Rollenmuster und Geschlechtervorurteile haben mit dem Studiengebiet Genderstudies viel Aufmerksamkeit erhalten. Daneben gibt es gerade im Bereich Lohngleichheit viele quantitative Studien. Gleichstellung ist ein Querschnittthema durch die verschiedensten Bereiche, und daher wird auch in diversen Disziplinen dazu geforscht. Beispielsweise werden geschlechterbedingte Unterschiede bei der Migration oder auf dem Sozialamt untersucht. Auch Altersarmut ist hier ein spannendes Thema – es ist so, dass die «Pensionsschere» im Gegensatz zur «Lohnschere» bei Frau und Mann noch viel krasser auseinandergeht.

zentralplus: Inwiefern sind das auch die Themen, welche gerade Bevölkerung und Politik umtreiben?

Lanfranconi: Lohnungleichheit ist immer ein Thema – in der Bevölkerung, der Politik und der Wissenschaft. So auch das Thema Frauenquote oder Vaterschaftsurlaub –allgemein steht die Vereinbarkeit von Familie und Beruf derzeit stark im Fokus.

zentralplus: Nehmen wir bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf das Stichwort Teilzeitarbeit für Männer: Wo bestehen hier die grössten Hürden?

Lanfranconi: Teilzeitarbeit ist für viele Männer noch immer ein Tabu. Sie trauen sich nicht, das Thema anzusprechen. Dabei habe ich oft erlebt, dass Arbeitgeber bei dem Thema offener sind als gedacht. Doch es braucht Mut, sein Recht einzufordern. Sei das bei den Frauen beim Thema Lohn oder bei den Männern in der Teilzeit. In der Schweiz arbeiten 6 von 10 Frauen Teilzeit, aber nicht einmal 2 von 10 Männern. Doch es ist innerhalb von Betrieben zu beobachten, dass es plötzlich zur Normalität werden kann, sobald beispielsweise Männer in höheren Positionen damit anfangen, dass zum Beispiel der Freitag Papatag ist. Gerade in Führungspositionen kann Teilzeit und die damit verbundene Teilung der Funktion ein Vorteil sein. Die Vertretung für Ferien oder Krankheit zum Beispiel ist so schon geregelt, und erwiesenermassen ist in Teilzeitanstellungen auch die Produktivität der Mitarbeitenden höher.

«Man bringt Kinder nicht nur auf die Welt, sondern darf sich auch danach noch um sie kümmern.»

zentralplus: Gibt es bei den Zahlen auch Überraschungen?

Lanfranconi: Aus meiner subjektiven Sicht hat mich sehr überrascht, dass es nicht hauptsächlich die frischgebackenen Väter sind, die Teilzeit arbeiten. Wenn das erste Kind kommt, beginnen die Männer «erschreckenderweise» eher noch mehr zu arbeiten als vorher, weil sie das Gefühl haben, mehr verdienen zu müssen.

zentralplus: Wie beobachten Sie den derzeitigen Diskurs in der Schweiz um den Vaterschaftsurlaub? Und wie schätzen Sie die Chancen bei einer nationalen Volksabstimmung ein?

Lanfranconi: Der Vaterschaftsurlaub ist kein neues Thema. Bereits in den 90er Jahren gab es zahlreiche Vorstösse dazu, meist auch längere und grosszügigere als heute. Die Tendenz besteht, dass man immer mehr Abstriche macht. Man rechnet sich wohl mit einer Light-Version die besseren Chancen bei einer Abstimmung ein. Aber es ist sicher ein erster Schritt. Man kann danach immer noch den Elternurlaub aufs politische Parkett bringen.

zentralplus: Wie sieht es im europäischen Vergleich aus?

Lanfranconi: Die Schweiz steht in Europa nur mit einem Mutterschaftsurlaub ziemlich alleine da. Die meisten europäischen Länder kennen Mutterschafts-, Vaterschafts- und den zusätzlichen aufteilbaren Elternurlaub. Schweden hat drei Jahre, Deutschland ein Jahr Elternurlaub. Wenn das Kind krank wird zum Beispiel, kann man bis im Alter von acht Jahren Tage daraus beziehen. Da zeigt sich ein anderes Verständnis fürs Elternsein – man bringt Kinder nicht nur auf die Welt, sondern darf sich auch danach noch um sie kümmern.

Lucia Lanfranconi beim Dreh des Films «Gleichstellen». (Bild: Screenshot)

Lucia Lanfranconi beim Dreh des Films «Gleichstellen». (Bild: Screenshot)

zentralplus: Sie sind selbst gerade frisch zurück aus dem dritten Mutterschaftsurlaub – was haben Sie aus Ihren eigenen Erfahrungen im Familienalltag mitgenommen? 

Lanfranconi: Ich habe sicher gelernt, wie wichtig und gut es ist, ein System zu haben. Bei uns funktioniert die Aufteilung von Mamatag, Grositag, Papitage und Kitatag ganz selbstverständlich, gerade auch für die Kinder. Ich bin nach dem Mutterschaftsurlaub immer relativ hochprozentig wieder eingestiegen. Ich wollte meine Funktion behalten und mit meiner Karriere weitermachen. Und durch unsere Aufteilung gab es für mich auch kein Hindernis.

zentralplus: Das war also auch bei Ihrem Partner kein Problem?

Lanfranconi: So ist es. Mein Mann hat sein Pensum nach der Geburt des ersten Kindes von 100 auf 70 Prozent reduziert, obwohl damals in seinem Betrieb Teilzeitarbeit bei Männern noch sehr ungewöhnlich war. Wir arbeiten aktuell beide 70 Prozent, was für uns sehr gut funktioniert. Das System in der Schweiz wird aber schnell schwieriger für Mütter, die keine so gute Unterstützung von Familie und Partner erhalten. Besonders auch mit Kitaplätzen ist es nicht einfach – gerade auf dem Land.

zentralplus: Wie können Sie Ihre private Haltung, Ihre eigenen Erfahrungen und die wissenschaftliche Arbeit trennen? Oder verschwimmt das auch?

Lanfranconi: Natürlich. Ich bin Soziologin: Ich bin Fan von gegenseitigem Beeinflussen von Struktur und Handlung. (Sie lacht.) Sicher beeinflussen sich meine privaten Erfahrungen und meine Forschungsergebnisse gegenseitig. Doch am Anfang meiner Forschung standen das Gleichstellungsgesetz, also die Norm, die sich die Schweiz gegeben hat, und der Blick ins Ausland. Kinder hatte ich damals selbst noch keine. Die Basis waren Zahlen. Mein Leben passt nun glücklicherweise in die Vision. Aber ich halte mein Modell nicht für das Modell. Es gibt immer positive und negative Aspekte.

«Mein Leben passt glücklicherweise in die Vision.»

zentralplus: Welche unbewussten Mechanismen und Tabus sind beim Thema Teilzeit für Männer und Vaterschaftsurlaub vorhanden? Was muss sich hier verändern?

Lanfranconi: Es braucht Paare, die sich damit auseinandersetzen, wenn sie Eltern werden, und auch die Betriebe, denn die Leute sind stark dadurch beeinflusst, was die Chefetage scheinbar verlangt. Und es braucht aber auch die Politik. Ich habe das Gefühl, dass wir in der Schweiz gerade im Bereich Gleichstellung die Tendenz haben, zu sagen, eine Veränderung müsse stets von unten kommen. Ich bin jedoch skeptisch, ob es tatsächlich so ist. Denn es gibt effektiv Dinge, die von oben herab verordnet werden können und dann schnell eine Umstellung in den Köpfen auslösen.

zentralplus: Können Sie uns dazu ein Beispiel liefern?

Lanfranconi: Das Rauchverbot ist mein Lieblingsbeispiel. Vor wenigen Jahren war es noch völlig normal, in Zügen zu rauchen. Heute kann man sich das kaum noch vorstellen und selbst die Raucher trauern dem nicht hinterher. Das zeigt, wie schnell sich in den Köpfen etwas anpasst, wenn die Strukturen sich verändern. Ich glaube, so wäre es auch bei einer Frauenquote oder einem Vaterschaftsurlaub.

zentralplus: Eine Überlegung: Erhielten Männer ebenfalls Vaterschaftsurlaub, würden sie durch die jährlichen WKs und die zusätzlichen Vaterschaftsurlaube zu den unattraktiveren Arbeitnehmern als die Frauen?

Sie wollen mehr?

Die nächste Gelegenheit, den Film an einer öffentlichen Veranstaltung zu sehen: Montag, 3. April 2017, im Hotel Palace in Luzern.

Mehr Informationen zum Thema Gleichstellung gibt es auf der Webseite gleichstellen.ch.

Lanfranconi: Es würde also die umgekehrte statistische Diskriminierung geben, als sie heute bei jungen Frauen stattfindet. Das wäre doch schön. (Sie lacht.) Aber im Ernst glaube ich, eine solche Situation wäre langfristig auch nicht vereinbar mit dem Gleichstellungsartikel. Das Ziel ist ja ein Minimieren der Unterschiede und nicht neue zu schaffen. Vielleicht müsste dann eine Art Soziales Jahr oder Zivildienst für alle angedacht werden. So würden schliesslich Männer und Frauen ungefähr ähnlich lange ausfallen.

zentralplus: Würden Sie sich als Feministin bezeichnen?

Lanfranconi: Jein. Erstmal würde ich mich als Wissenschaftlerin und weniger als Feministin im Sinne von Aktivistin bezeichnen – ich sehe mich eher als jemand, der Fakten zum Thema bereitstellt und in Beratung oder Lehre vermittelt. Ich habe die Vision einer egalitären Gesellschaft, aber behandle das Thema aus einer wissenschaftlichen Perspektive und nicht aus einer persönlichen, emotionalen.

zentralplus: Wann ist Gleichstellung erreicht?

Lanfranconi: Wenn Kinder ihre Karriere nur Aufgrund der eigenen Fähigkeiten und Wünsche wählen können. Wenn es in allen Jobs für beide Geschlechter Rollenmodelle und Möglichkeiten gibt, Teilzeit zu arbeiten und den eigenen Lebensentwurf damit zu vereinbaren.

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