Junge Luzerner engagieren sich im Asylbereich

Auf Pirsch mit der Pfadi für Flüchtlingskinder

Die Pfasyl-Kinder sind machmal fast nicht zu bändigen, oft braucht es mehrere Anläufe, bis sie im Kreis stehen.

(Bild: zvg)

So geht Integration: Junge Luzerner haben für Kinder aus dem Asylzentrum Hirschpark eine Pfadi gegründet. Jeden zweiten Sonntag gibt’s Programm. Pfasyl ist vor knapp einem Jahr gestartet und hat schweizweit Pioniercharakter. Die Aufmerksamkeit, die sie bekommen, hilft den Engagierten. Wenn da nur die Selbstüberschätzung nicht wäre.

11.30 Uhr. Das Telefon klingelt. «Hallo, hier ist Rosa-Lynn. Es hat Probleme mit der Belegung des Pfarreiheims gegeben – wir mussten den Plan kurzfristig auf den Kopf stellen.» Rosa-Lynn Rihs ist Leiterin bei Pfasyl, der Stadtluzerner Pfadi für Asylkinder. Sie klingt ruhig, erklärt ohne Hast den neuen Plan – es scheint, als wären kurzfristige Planänderungen für sie alles andere als Neuland.

Neuer Treffpunkt ist um 13 Uhr beim Hirschpark, dem Luzerner Asylzentrum gleich neben dem Kantonsspital (zentralplus berichtete). Jeden zweiten Sonntag holen Rosa-Lynn Rihs, Micha Amstad und ihre Kollegen von Pfasyl alle Kinder ab, die mitwollen, und verbringen mit ihnen den Nachmittag. Das Programm ist an Pfadi-Übungen angelehnt, jeder Nachmittag beginnt mit dem Hallo-Kreis und endet mit dem Tschüss-Kreis.

«Es läuft fast immer anders, als wir es geplant haben.»
Rosa-Lynn Rihs, Leiterin Pfasyl 

Dazwischen braucht es nebst einem guten Plan auch immer eine grosse Portion Spontaneität und Toleranz: «Es läuft fast immer anders, als wir es geplant haben», erklärt Rihs und lacht. «Aber das gehört dazu. Wir haben uns daran gewöhnt, dass wir uns konstant überschätzen.» Was sie damit meint, wird wenig später klar.

Kaum fünf Minuten stehen die Leiter im Grüppchen vor dem Hirschpark, da kommen die ersten Kinder angerannt und schreien «Hallo» aus dem Eingangsbereich und sind wieder weg. Wenige Minuten später kommen sie erneut angerannt – dieses Mal winterlich eingepackt und beginnen sogleich die Schneeballschlacht. Mittendrin: Rhis und ihre Kollegen. Es folgt eine kurze Lagebesprechung: Micha bringt Stelzen und Pedalos zum Pfadiheim «Seppel», holt da Fiona. Lukas kommt etwas später, sein Kollege ist heute zum ersten Mal dabei, Alina ebenso.

«Guetzle» mit Sprachbarriere, Spass und Herausforderung zugleich.

«Guetzle» mit Sprachbarriere, Spass und Herausforderung zugleich.

(Bild: zvg)

«Spielen?»

Dann geht es los. Rosa-Lynn Rihs holt die Zimmerliste beim Verantwortlichen des Asylzentrums ab und klopft sich von Familienzimmer zu Familienzimmer durch die Gänge. «Hallo. Heute ist wieder Pfadi. Kommt ihr auch?», fragt sie durch die jeweils nur einen Spalt weit aufgehenden Türen. Obwohl die meisten Kinder und Eltern kaum ausreichend Deutsch sprechen, um Rihs zu verstehen, wird sie von vielen erkannt. Darum sind auch keine grossen Erklärungen nötig: Kinder und Eltern wissen, um was es geht, wenn Rihs anklopft.

«Natürlich, alle können mitkommen.»
Rosa-Lynn Rihs, Leiterin Pfasyl 

Einige Kinder fallen ihr gleich um den Hals, kaum sehen sie Rihs auf dem Gang, andere zeigen aufgeregt auf sie, während sie ihre Mütter mit grossen Augen anschauen. Die Mütter lächeln sie an, nicken, die Väter grüssen freundlich. Eine Mutter zeigt auf ihr kleines Kind, vielleicht zweijährig. «Spielen?», fragt sie und guckt hoffnungsvoll. «Natürlich, alle können mitkommen», sagt Rosa-Lynn Rihs und versucht die Eltern anzuweisen, ihre Kinder warm anzuziehen.

Von Fremden zu Freunden

Man kennt und schätzt die jungen Leute von Pfasyl im Hirschpark – sie bringen nicht nur willkommene Abwechslung in den Alltag der Kinder, sondern auch eine wohltuende Erholung für die Eltern, welche mit manchmal drei, vier Kindern in einem Zimmer leben und so einen Augenblick für sich selber haben.

Dass die Eltern ihre Kindern nach dem langen und beschwerlichen Weg in die Schweiz einfach in die Hände von quasi Fremden geben, ist nicht selbstverständlich. Das zeigt sich bei neuen Bewohnern. Sie sind meist erst misstrauisch und die Kinder bleiben zu Hause. «Wir setzen bei neuen Bewohnern darauf, dass sie von den bereits dort lebenden aufgeklärt werden, worin unser Angebot besteht», erklärt Rihs. Das funktioniere gut, und es kämen immer wieder neue Kinder dazu.

Der kurze Film, gedreht von Emma-Lou Herrmann und Sara Furrer, gibt einen Einblick in die Arbeit von Pfasyl:

Raus aus der Enge, rein in die Welt der Spiele

Angefangen hat alles mit Micha Amstad, der vor über einem Jahr eine Zeit lang im Hirschpark gearbeitet hatte. Dabei stellte er fest, dass das Asylzentrum so voll war, dass sogar das Aufenthaltszimmer in ein Schlafzimmer verwandelt wurde. Also spielten die Kinder auf den Gängen. «Kinder müssen aber zwischendurch mal raus, sich austoben können», sagt Amstad. Mit diesem Gedanken im Kopf trommelte er schliesslich Pfadi-Kollegen zusammen.

Spiel und Spass geben Flüchtlingskindern ein wenig Struktur und Freiraum zugleich. (Bild: Pfasyl/zvg.)

Spiel und Spass geben Flüchtlingskindern ein wenig Struktur und Freiraum zugleich. (Bild: Pfasyl/zvg.)

Gemeinsam beschlossen Amstad und seine Kollegen, eine Pfadi für Flüchtlinge zu gründen. «Die meisten von uns sind durch Kurse ausgebildet, mit Kindern umzugehen und für eine Zeit lang die Verantwortung über einen Haufen kleiner Wirbelwinde zu tragen», erklärt er. «Das hat das Vertrauen der Zentrumsleitung in das Projekt gestärkt.» Auch dass ihn die Bewohner des Asylzentrums bereits kannten, sei ein grosser Vorteil gewesen. «So war ich kein Fremder, es fiel ihnen leichter, mir und meinen Freunden zu vertrauen.» An einem Infoabend haben sie die Eltern über das neue Angebot informiert und im Eingangsbereich hängt jetzt ein Plakat, welches in Arabisch oder Farsi erklärt, was die Pfadi hier in der Schweiz ist.

Mit Ritualen gegen Verständigungsprobleme

Vor dem Asylzentrum hat sich mittlerweile eine Schar von etwa 15 Kindern eingefunden, die Runde von Rosa-Lynn Rihs hat Wirkung gezeigt. Die Schneeballschlacht hat sich auf den ganzen Platz ausgeweitet. Es ist ein buntes Tohuwabohu von ganz Kleinen und bis zu 14-Jährigen, die schon bald zu cool für die Schneeballschlacht sind und abgeklärt daneben stehen.

Dazwischen kurvt ein Junge im Rollstuhl herum und stellt sich auch mal auf die beiden Stummel, die mal Beine waren, um von weiter oben den Schneeball abschiessen zu können. Die Kinder kreischen und lachen, wenn sie einen Leiter treffen. Sie sind fast nicht zu bändigen in ihrem Spieltrieb und es braucht mehrere Anläufe, bis sie dann Hand in Hand im Kreis stehen und das Begrüssungsritual losgehen kann.

«Es war schon schwierig, den Kindern zu erklären, wie dieses oder jenes Fangspiel geht.»
Rosa-Lynn Rhis, Leiterin Pfasyl 

Rituale und die immer wieder gleichen Spiele geben dem Pfadi-Sonntag Struktur. «Es war schon schwierig, den Kindern zu erklären, wie dieses oder jenes Fangspiel geht. Darum setzen wir immer wieder auf Bewährtes», erklärt Rihs. Dass die Gruppe so heterogen sei, verkompliziere die Treffen. «Deshalb können wir nie genug Leiter sein», sagt sie. Meist seien es gegen zehn, alle mit Pfadi-Leiterausbildung oder zumindest -Vergangenheit. Im Leiterchat auf WhatsApp wird das Personal organisiert, kurz vorher findet ein Höck statt, an dem der Nachmittag geplant wird.

Projekt hat sich etabliert

Seit knapp einem Jahr sind die Leute von Pfasyl jetzt aktiv. Immer mehr Kinder nähmen am Sonntagsprogramm teil – zwischen 15 und 30 sind es jeweils – und immer besser funktioniere die Verständigung und Planung. Langsam beginnt sich das Projekt zu etablieren.

«Weil wir nun etwas Bekanntheit erlangt haben, müssen wir auch nicht mehr alles aus dem eigenen Sack bezahlen», sagt Rihs. Amstad fügt lachend an: «Seit einem Bericht im ‹Tages-Anzeiger› sind wir reich», und er korrigiert gleich: «Nein, natürlich nicht reich. Aber wir können uns jetzt einen kleinen Fundus anlegen. Beispielsweise müssen wir nicht mehr die Scheren von zu Hause mitnehmen, wenn wir basteln, sondern haben einige, die Pfasyl gehören.»

Basteln mit Asylkindern, auch das ist Pfasyl.

Basteln mit Asylkindern, auch das ist Pfasyl.

(Bild: zvg)

Allzeit bereit

Noch verläuft nicht alles glatt: Da sind die Kinder, die etwas schwierig sind, kleine Rowdys und solche mit einer unvorstellbaren Vergangenheit. «In Syrien viel …», sagt Abraham, der 14-jährige Junge, und formt mit den Fingern eine Pistole. «Meine Schwester Syrien», hängt er an. Da sind die Sprachbarrieren oder die Kinder, die man liebgewonnen hat und dann umplatziert werden.

«Die Sitzungen sind Treffen mit Freunden, die Nachmittage bringen leuchtende Kinderaugen zutage.»
Micha Amstad, Leiter Pfasyl 

Und da ist eben die angesprochene Selbstüberschätzung: «Wir nehmen uns immer so viel vor mit den Kindern. Doch dann dauert schon der eigentlich kurze Weg vom Asylzentrum zum Pfadiheim eine halbe Stunde», sagt Rosa-Lynn Rihs. Viele Gründe, sich demotivieren zu lassen. Nicht so die Truppe von Rihs, Amstad und Co.: «Wir kennen uns alle.» So bekomme der Sonntagnachmittag einen besonderen Groove. «Die Sitzungen sind Treffen mit Freunden, die Nachmittage bringen leuchtende Kinderaugen zutage. Das motiviert», sagt Amstad.

Diese Motivation ist spürbar: Die Pfasyl-Leiter scherzen mit den Kindern, rennen ihnen nach, lassen sich absichtlich von Schneebällen treffen, bringen ihnen spielerisch die Namen der Farben bei. Zurück bleiben müde und für den Moment sicher glückliche Kinder. Das ist nicht nur eine Entlastung für die Eltern und die Betreuer im Asylzentrum Hirschpark, sondern auch der Grundstein für eine integrierte Gesellschaft.

Gruppenfoto der wilden Pfasyl-Bande. (Bild: Pfasyl/zvg.)

Gruppenfoto der wilden Pfasyl-Bande. (Bild: Pfasyl/zvg.)

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1 Kommentar
  • Profilfoto von Anna Lustenberger
    Anna Lustenberger, 22.01.2017, 12:25 Uhr

    ein toller, lebendiger Bericht, der ein wichtiges Thema aufzeigt- welche Möglichkeiten wir haben- um einen Beitrag zu leisten. Ein Super-Angebot dieser Pfadi, vielleicht regt der Bericht zum Nachahmen an…..

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