Ein Städter wagt sich an das Brauchtum

Alpabfahrt: Platzangst im Entlebuch

Geschmückte Kühe laufen in Schüpfheim ein – wären sie gern auf der Alp geblieben?  (Bild: jwy)

Auf ins Luzerner Outback: Wenn die Alpabfahrt ruft, traut sich auch der Städter wieder mal ins tiefe Entlebuch. Eine Reportage aus Schüpfheim zwischen Kuhdreck und Dichtestress. Doch wir gingen tiefzufrieden wieder heim – aber mit einigen offenen Fragen.

Ein Speaker redet unablässig: Er ermahnt Autofahrer umzuparkieren, er stellt die eintreffenden Jodlerchöre und Alpbetriebe vor und vermittelt auch mal einen verlorenen Hausschlüssel. Der Pius Emmenegger redet, als wären da nicht 10’000 Leute, sondern ein paar wenige Vereinskumpels. Er spricht von «20 strammi Manne, ned wenigi vo ehne send no ledig». Ich hab leider nicht mitbekommen, welche Mannen er meint. Es ist mir alles noch etwas zu viel hier.

Es ist Samstagvormittag, halb elf. Und ich suche mir entlang der heute verkehrsfreien Hauptstrasse in Schüpfheim ein Plätzchen, an dem ich die geschmückten Kühe und winkenden Älpler gut erblicken kann, die bald im Dorf eintreffen werden. Aber meine Güte, ist das schon voll.

Alphornbläser marschieren ins Dorf.  (Bild: jwy)

Alphornbläser marschieren ins Dorf.  (Bild: jwy)

Dichtestress im Zug

Zum Bersten voll war auch schon der Zug, 9.57 Uhr ab Luzern. Ab Wolhusen wurde es prekär, Passagiere standen sogar im WC. Verhältnisse wie im Zürcher Nahverkehr. Eine stehende Frau hat sich aufgeregt, weil Eltern ihre Kinder nicht auf den Schoss nehmen. Kinder hätten keinen Sitzplatz verdient, weil sie ja nicht zahlen. Und das folgende Quote ist zu gut, um es nicht wiederzugeben: «Wie soll in Syrien Frieden herrschen, wenn die Rücksicht nicht mal hier im Kleinen klappt?» Ihr Mann nickte nur müde.

«Wissen Sie, wir Entlebucher sind bodenständig und einfach, wir haben’s gern, wenn Städter kommen.»

OK-Präsident Bruno Hafner

Wir sind jetzt aber nicht in Syrien, sondern in Schüpfheim. Und dicht an dicht stehen die Schaulustigen Spalier an der Strasse: Menschen jeden Alters in Edelweiss-Hemden, viele Familien, aber auch auffallend viele Auswärtige: Städter, Touristen.

Zaungäste wie beim Velorennen

Am Dorfeingang gibt’s mehr Platz, da warte ich auf die ersten Kühe. Es findet an diesem Samstag die 13. Entlebucher Alpabfahrt statt. Von sieben Alpbetrieben zogen sie am Samstag in aller Herrgottsfrühe los. Entlang der ganzen Strecke werden sie wie Radfahrer an der Tour de France von tausenden Zaungästen angefeuert. Zieleinlauf ist in Schüpfheim, wo sie unter Applaus und Juchzern einmarschieren. Es ist der Tag, an dem Älpler und Tiere ihre Winterresidenz in Beschlag nehmen.

 

Ich habe nicht viel Ahnung von diesen Sachen: von Brauchtümern, Folklore und bäurischen Gepflogenheiten. Darum habe ich mich zuvor sicherheitshalber mit OK-Präsident Bruno Hafner unterhalten. Ich will schliesslich als Städter nicht negativ auffallen.

Einfach keine weisse Hose

Doch Hafner nahm mir mit einer entwaffnenden Ehrlichkeit und stoischer Ruhe jede Scheu: «Wissen Sie, wir Entlebucher sind bodenständig und einfach, wir haben’s gern, wenn Städter kommen. Von den rund 10’000 Gästen kommt etwa ein Drittel aus der Stadt.»

Ein richtiger Boom also, das Fest habe sich in den letzten Jahren zu einem kleinen Jodlerfest entwickelt. Er bekomme sehr viele Anfragen von Städtern, die eine Älplerfamilie auf dem Marsch von der Alp begleiten möchten. «Das nehmen wir ins Angebot auf, das ist sehr gefragt», sagt Hafner.

Nicht mehr ganz so euphorische Zuschauer am Strassenrand.  (Bild: jwy)

Nicht mehr ganz so euphorische Zuschauer am Strassenrand.  (Bild: jwy)

Und was ist mit der Kleidung? Er winkt ab. Ich müsse keinen traditionellen Gurt oder ein Hemd anziehen. «Vielleicht nicht unbedingt eine weisse Hose tragen», gab er mir einzig als Tipp.

Dann endlich: Glockengeläut

Dann, gegen halb zwölf, hört man von Weitem erstmals schallendes Glockengeläut. Kinder sind aus dem Häuschen, Fotografen bringen sich in Stellung – mich eingeschlossen. Und ich merke, dass ich eine völlig falsche, romantisierende Vorstellung vom Eintreffen der Älpler und Sennen hatte. Es ist nicht so, dass diese durchs Dorf flanieren und Hände schütteln. Nein, das ist Arbeit. Im Stechschritt treiben sie die Kühe im forschen Tempo durchs Dorf. Sie lachen und winken hie und da mit roten Backen. Und was sind sie stolz auf ihr Vieh!

Die Kleinen voran: Die Älpler marschieren in Schüpfheim ein.  (Bild: jwy)

Die Kleinen voran: Die Älpler marschieren in Schüpfheim ein.  (Bild: jwy)

Logisch ist das kein Sonntagsspaziergang, die Bauern sind ja gegen 4 Uhr früh losmarschiert und haben schon viele Kilometer in den Beinen. Und wegen den weissen Hosen: Sie sähen nicht nur scheisse aus, sondern wären hier aus ganz praktischen Gründen fehl am Platz: Die Kühe lassen im Vorbeeilen immer mal wieder einen Fladen fallen, da kriegt man leicht den einen oder anderen Spritzer ab. Und ich naiver Städter hätte nie gedacht, dass Kühe bei diesem Schritttempo – pardon – scheissen können.

Es war ein sehr guter Alpsommer

In unregelmässigen Abständen folgen die weiteren sechs Familien, und es bleibt jedes Mal ein Ereignis, wie die stolzen Burschen und Mädels mit ihren Tieren einfahren. Die Kinder voraus mit Ziegen, am Schluss der Besenwagen. Dazwischen vielleicht 20 oder 30 Kühe, ich habe sie nicht gezählt, insgesamt sollen es über 200 Tiere sein.

Schau mir in die Linse, Kleine.  (Bild: jwy)

Schau mir in die Linse, Kleine.  (Bild: jwy)

Im Frühling waren sie auf die Alp gezogen, verbrachten dort 100 Tage, jetzt kommen sie für die kalten Monate in die Talgemeinschaft zurück. Es sei heuer ein sehr guter Alpsommer gewesen, hat mir Bruno Hafner erzählt. Mit einem zwar nassen Juni, «aber danach war der Sommer bombastisch. Die Entlebucher Älpler sind sehr zufrieden.» Schön, und so sehen sie auch aus. Sowieso: Alle sind zufrieden hier. Nur die Kühe, die schauen trotz Kopfschmuck leicht depressiv. Oder ist das jetzt wieder so eine verquere Städtersicht? Aber wer hat schon Freude, wenn er von der saftigen Alp in den Stall zurück muss? Eben.

Nutzen die auch E-Mail?

Es dauert jeweils etwas zwischen dem Eintreffen der Herden. Und wenn der Städter warten muss, kommen ihm weitere blöde Fragen in den Sinn. Etwa: Wie viele ungelesene Mails werden die Älpler haben, nach 100 Tagen auf dem Berg? Oder haben die Internet dort oben auf der Alp? Nutzen sie überhaupt E-Mail?

Von der «Alp Mittler Farnere» der Familie Hans Felder kaufe ich eine Plaquette für fünf Franken. Die Farnere ist Schüpfheims Hausberg, lerne ich. Andere verkaufen auf Handwagen Kafi Träsch und Bier. Auch Mineralwasser, aber das trinkt fast niemand.

Würste und Käse

Ich spaziere Richtung Dorfzentrum, dort, wo’s eng wird. Man muss auf der Strasse zwischen den Kuhfladen durchbalancieren. Immer mal wieder jodelt eine Gruppe im Kreis. Alphornformationen … ähm, formieren sich. Die Fahnenschwinger … nun, sie schwingen ihre Fahnen. Diese gelebte Tradition ist schön anzuschauen und anzuhören.

 

Aber man kann sich schon fragen, wieso aus den Boxen Ländlermusik schallt, während wenige Meter daneben leise und andächtig gejodelt wird. Wahrscheinlich wieder so eine müssige Städterfrage. Im Zentrum ist auch der regionale Markt, und der ist berauschend: Besten Alpkäse, frischeste Würste und glänzende Glocken kriegt man da zum Erwerb. Und noch vieles andere Schöne und Feine aus dem Biosphären-Gebiet Entlebuch.

Wahre Prachtskerle

Die letzten Älpler und Kühe sind soeben durchs Dorf gezogen – wahre Prachtskerle, das erkennt sogar mein Auge –, es ist bald 13 Uhr. Und ein weiterer Höhepunkt wartet: der Gesamtchor auf der Kirchentreppe. Den Jutz, den sie dort darbieten werden, preist der Speaker als Entlebucher Nationalhymne an. Und dann sagt er auch noch, dass man daran wie auch an der Schweizer Nationalhymne nichts ändern dürfe. Naja, zumindest über die nationale Hymne könnte man sich streiten, aber wir wollen nicht politisch werden, sonst würde es womöglich sehr schnell sehr kompliziert. Also, der Beichle-Jutz des Escholzmatter Jodlers Franz Stadelmann.

Immer mal wieder ist Warten angesagt an diesem Samstag in Schüpfheim.  (Bild: jwy)

Immer mal wieder ist Warten angesagt an diesem Samstag in Schüpfheim.  (Bild: jwy)

Die Mannen und Frauen stehen in den Trachten auf der Treppe, vor ihnen die Alphörner, und tausende Leute hören zu. Oder sie filmen und fotografieren. Der Moment wäre sehr andächtig – würde nicht im selben Moment die «Powerschnecke» ihre Bahnen ziehen. So heisst der Putzlastwagen, der die Strasse mit Hochdruck wieder von den Kuhfladen befreit. Da kommt die Schweizer Präzision der Stimmung arg in die Quere.

Bitte gemütlich bleiben

«Wir gehen jetzt in den gemütlichen, folkloristischen Teil über», sagt der Speaker. Es beginnt die Älplcherchilbi, an Festwirtschaften mangelt es im Dorf heute nicht. Und der Speaker sowie Festleiter Bruno Hafner ermuntern die Leute mehrmals, doch bitte noch zu bleiben. Und es bitteschön gemütlich zu nehmen. «Bei so vielen Leuten muss man halt mal eine Viertelstunde warten auf die Bratwurst.»

Und man muss es ihnen schon lassen: Trotz Enge und Menschenmassen ist die Alpabfahrt immer gemütlich und stressfrei. Und eine Bratwurst hatte ich auch schon – und so beschliesse ich, meinen gemütlichen Teil des Samstags wieder in der Stadt zu verbringen. Aber danke Schüpfheim, du warst gut zu mir.

Mehr Bilder der Alpabfahrt sehen Sie in der Galerie:

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