Interview zu Baars städtebaulicher Entwicklung

Für Baar ist noch nichts verloren

Rosmarie Müller-Hotz ist der Ansicht, dass für Baar städteplanerisch noch nichts verloren ist. (Bild: wia)

Die Gemeinde Baar ist im Wandel. Mit über 23’000 Einwohnern wird sie faktisch zur Stadt: Dennoch fühlen sich viele Baarer als Dorfbewohner. zentral+ hat mit Rosmarie Müller-Hotz gesprochen. Die Baarer Architektin und emeritierte Professorin für Städtebau redet über den Status Quo und verpasste Gelegenheiten, aber auch über die Chancen der Baarer Identitätskrise.

zentral+: Die architektonischen Veränderungen in der Gemeinde Baar wurden in den letzten Jahren viel diskutiert. Der Abriss erinnerungsträchtiger Häuser und die neue Überbauung an der Marktgasse schürten Missmut bei vielen Baarern. Wie schätzen Sie die Lage des Städtebaus in der Gemeinde Baar ein?

Rosmarie Müller-Hotz: Es  wurde im Dorfkern sehr viel Neues umgesetzt in den letzten Jahren. Dazu gehören beispielhafte Projekte wie der Bahnhof mit der sehr gut funktionierenden Begegnungszone, der attraktiv gestaltete öffentliche Raum ums Rathaus und Schulanlage Marktgasse, sowie auch die kürzlich eingeführte 30er Zone in der Dorf- und Rathausstrasse. Das ist fortschrittlich, dafür darf man der Gemeinde auch ein Kränzchen winden. Was der Gemeinde jedoch fehlt, ist eine städtebauliche Vision für den Dorfkern; eine Idee, wie das Zentrum künftig aussehen und erlebt werden soll. Wo sind die übriggebliebenen wertvollen Bauten und Räume; wie sollen sie miteinander vernetzt werden und welche neuen ortsspezifischen Qualitäten (Baar spezifischen) ergeben sich aus Alt und Neu zusammen?

zentral+: Ist es denn legitim, dass eine Gemeinde, die über 23’000 Einwohner hat, dörflich bleiben will?

Müller-Hotz: Um das zu beurteilen, bräuchte es eigentlich eine Leitbilddiskussion. Auch müsste das Volk dazu befragt werden, was es überhaupt will. Sicher ist es ratsam, die identitätsreichen Ecken zu schützen. Trotzdem wird beispielsweise das Thema Verdichtung immer wichtiger. Diesem Bundesauftrag muss Rechnung getragen werden. Daher gilt es, abzuwägen zwischen dem Erhalt von Geschichtsträchtigem und Neubauten, die zu einem Identitätsverlust führen könnten. Bei diesen Entscheiden stützt sich Baar meiner Ansicht nach oft zu sehr auf externe Fachleute und langwierige, zeit- und kostenintensive Planungsverfahren. Das endet dann beispielsweise mit einer Überbauung, wie sie an der Marktgasse entstanden ist.

 

«Der Begriff ‹Dorf› müsste neu definiert werden.»

Rosmarie Müller-Hotz

 

zentral+: Es wirkt, als wenn Baar derzeit mitten in einer Identitätskrise steckte. Vielen scheint unklar zu sein, ob es sich nun um ein Dorf oder eine Stadt handelt.

Müller-Hotz: Es ist doch eine tolle Aufgabe, genau diese Identitätskrise – sofern sie wirklich vorhanden ist – zu beheben. Das kann eine Chance sein. Dafür muss man allenfalls die Bedeutung des Wortes «Dorf» für den Ort Baar neu erfinden. Unser heutiges Verständnis davon gründet noch im letzten Jahrhundert; doch ein heutiges «Dorf» in der so zentral gelegenen Region Zug ist einer grossen Dynamik verpflichtet. Vielleicht bräuchte es auch eine neue Bezeichnung für diese Mischung aus Dorf und Stadt, wie sie in Baar zu finden ist.

zentral+: Also ist für Baar noch nichts verloren?

Müller-Hotz: Überhaupt nicht. Es gibt immer Möglichkeiten. Man muss sie einfach suchen. Es gibt verschiedene Ecken, die wurden bis jetzt stiefmütterlich behandelt. So beispielsweise der kleine rückwärtige Park zwischen Migros, Parkplatzanlagen und Dorfstrasse, oder auch der Robert-Fellmann-Park. Auch bräuchte es beispielsweise mehr attraktive Fusswegeverbindungen zwischen Dorfstrasse und Bahnhof, die man reizvoll gestalten könnte.

Um Bewegung in diese Entwicklung zu bringen, wäre jetzt der perfekte Zeitpunkt. Der Impuls dafür müsste allerdings von der Gemeinde kommen. Auch wenn sich diese dafür auf neues Territorium begeben müsste.

zentral+: Was würden Sie vorschlagen, damit Baar städtebaulich weiterkommt?

Müller-Hotz: Es wäre aufschlussreich, die Bevölkerung zu ihren Ideen und Vorstellungen zu befragen. Bekannt sind solche Prozesse als «runde Tische» oder «Foren», die unkonventionell und kreativ ausgestaltet und moderiert werden sollten. Doch schlussendlich sind es die Baarerinnen und Baarer, die ihr Dorf beleben.

Es wäre beispielsweise toll, wenn an den Schulen ein Wettbewerb stattfände mit dem Titel «Wie seht ihr Baar?». Dadurch würden die Schülerinnen und Schüler sich aktiv mit der Gemeinde auseinandersetzen, Ideen entwickeln und das Baarer Entwicklungsthema in ihre Familien hineintragen. Von der Fachhochschule Rapperswil wurde ein solches Projekt auf landesweiter Ebene einmal erfolgreich umgesetzt und durch eine nationale Jury bewertet. Einige Ideen wurden im Tessin, in der Romandie und in Rapperswil tatsächlich auch übernommen und umgesetzt. In Baar könnte eine solche Jury beispielsweise mit Personen verschiedenen Alters aus Wirtschaft, Kultur und Politik zusammengesetzt sein. Das wäre ein Ansatz auf Motivationsebene und es entstünde eine Aufbruchsstimmung; ein Wir-Gefühl.

zentral+: Derzeit wirkt die Baarer Dorfstrasse, welche früher das gefühlte Zentrum von Baar war, sehr verlassen, ja fast ausgestorben. Was könnte gemacht werden, damit sich das ändert?

Müller-Hotz: Ich bin mir nicht sicher, ob da grosse neue Projekte zielführend sind. Ja, vielleicht wirkt die Dorfstrasse momentan etwas verlassen. Vielleicht müssen wir das einfach eine Zeit lang aushalten und abwarten, was passiert, vor allem auch hinsichtlich der Einführung der Tempo 30er-Zone. Und wenn städtebauliche Interventionen nötig erscheinen, sollten diese in angemessenem Rahmen, unter Berücksichtigung von Körnung und Massstäblichkeit vorgenommen werden.

zentral+: Die Baarer Alternative – die Grünen hat vor einiger Zeit eine Interpellation beim Gemeinderat eingereicht. Sie warnen davor, dass Baar durch die architektonischen Veränderungen der letzten Jahre sein Gesicht verliere. Sie fordert deshalb eine Fachkommission, welche Neubauten nicht nur nach rechtlichen, sondern auch ästhetischen und architektonischen Kriterien beurteilt. Was halten Sie davon?

Müller-Hotz: Ich warne davor, in einem nächsten Schritt weitere externe Fachleute beizuziehen. Baar darf selbstbewusst sein und seinen eigenen Weg gehen. Die Gefahr mit dem Beizug von externen Expertinnen und Experten könnte – muss aber nicht –  dahin führen, dass gängige Entwicklungsvorbilder vorgegeben werden, die der eigenständigen Baarer Charakteristik nicht gerecht werden.

zentral+: Cham hat kürzlich in Zusammenarbeit mit der Bevölkerung ein städtebauliches Leitbild verwirklicht und gilt als Vorzeigebeispiel. Sind die Grundvoraussetzungen genug ähnlich, dass in Baar ein vergleichbares Konzept umgesetzt werden könnte?

Müller-Hotz: Nicht unbedingt. Die Voraussetzungen sind schon anders. Der Ort ist kleiner und konnte sich durch seine ausgezeichnete Lage am Zugersee und Lorze sowie angemessene Distanz von Zug eigenständig entwickeln. Zudem wurde Cham stark geprägt von seiner Industriegeschichte – und Kultur mit verschiedenen Villen, Parks und dem Schloss St.Andreas. Baar ist geografisch viel näher an Zug und wächst quasi mit der Stadt zusammen. Das ergibt eine Situation zwischen zwei Partnern mit unterschiedlich geprägten Dorf-Stadt-Entwicklungsgeschichten, wie wir sie häufig in der Schweiz antreffen; beispielsweise in Kreuzlingen-Konstanz, Wettingen-Baden oder Jona-Rapperswil.

 

«Eigentlich könnte es sich Baar leisten, experimentierfreudig zu sein.»

Rosmarie Müller-Hotz


zentral+: Wo liegen die Gefahren für Baar bezüglich seiner städtebaulichen Veränderungen?

Müller-Hotz: Baar hat sich durch einige zu grosse Projekte in kurzer Zeit sehr verändert. Das führte zu einer gewissen Anonymität. Es wäre zu klären, ob mit mehr unabhängigen Einzelobjekten, die im Kontext mit dem attraktiven Umfeld stehen, die geforderte Dichte ebenso erreicht werden könnte.

Ein Riesenvorteil von Baar ist, dass die Gemeinde genügend Geld hat. Eigentlich könnte sie es sich da leisten, viel experimentierfreudiger zu sein.

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