Zuger Chriesi: Disneyland oder Tradition?

«Da draussen ist das Epizentrum der Kirschtorte»

Die Zuger Kirschen: Blosse Nostalgie? Oder knallharte Wirtschaftsinteressen? (Bild: zvg)

Der eigentliche Rohstoff von Zug ist nicht der Kaffee und nicht das Öl. Aber ist das Zuger Chriesi mehr als blosses Marketing? Der Erfinder des Zuger Kirschenbooms sagt: Ohne Profit keine Chriesibäume.

Noch vor sieben Jahren hiess es, mit Chriesi lässt sich kein Geld verdienen. Heute prangt schon an der Autobahn ein Schild, das jedem Durchreisenden klarmacht: Hier gibt es Chriesi. Und nicht irgendwelche. «Der eigentliche Rohstoff von Zug, das ist nicht der Kaffee, auch nicht das Öl», sagt Ueli Kleeb von der IG Zuger Chriesi, «der Rohstoff von Zug sind die Kirschen.»

50’000 Liter Kirsch werden heute jährlich in der Region Zug und Rigi gebrannt, alleine im Kanton Zug brennen 204 Kleindistillerien und zehn Grosse. 15’000 Liter Kirsch werden zu 250’000 Zuger Kirschtorten verarbeitet. Und um die ganze Welt geschickt. Der Zuger Chriesianbau gehört im Rahmen des UNESCO Kulturerbes zu den «lebendigen Traditionen der Schweiz».

Nach langer Geringschätzung

Sie heissen Weissbäuchler, Dolleseppler, Trubiker, Baschimeiri, Notiker oder St. Verenakirsche. 63 Sorten von Brennkirschen sind zugelassen, dürfen nur in einem bestimmten Gebiet rund um den Zugersee wachsen, sollen sie zu Zuger Kirsch oder Rigi Kirsch gebrannt werden. Der hiesige Brand führt das Label Appellation d’Origine Protégée (AOP). Und nur der darf künftig in die Zuger Kirschtorte fliessen.

Kirschen überall. Den Zugern ist sie nach langer Geringschätzung wieder liebgeworden, sie wird gefeiert: Am Chriesitag, am Chriesimarkt, am Zuger Chriesisturm. Der Zuger Metzger Marcel Rinderli hat eine Chriesiwurst erfunden, auf Anregung einiger Chriesibegeisterter. Sie hat in der ganzen Schweiz und sogar bis nach Deutschland und Frankreich für Furore gesorgt, und auch Nachahmer gefunden.

Hartes Geschäft? Oder Naturschutz?

Aber der ganze Aufwand für die Kirschen, warum überhaupt? Was steckt hinter dieser neuen Zuger Chriesikultur? Ist das alles blosses Standortmarketing und hartes Geschäft? Oder echte lebendige Tradition? Naturschutz? Alles zusammen spiele eine Rolle. Das sagt einer, der es wissen muss.

Ueli Kleeb hat das Zuger Chriesi neu erfunden. Zusammen mit einer Gruppe von Gleichgesinnten. «Einige haben am Anfang noch gesagt, das geht doch nicht. Das rentiert niemals», sagt Kleeb. Er sitzt im Café Speck vor dem zweiten Kaffee und zeichnet mit dem Filzstift die Kreise der Chriesikultur auf den Block. Entstanden ist das Ganze vor sieben Jahren mit der Gründung der Interessengemeinschaft Zuger Chriesi. Deren Ziel war klar: «Wir wollten 1’000 neue Chriesibäume auf dem Zuger Gemeindegebiet pflanzen.» Die verschwundenen Hochstamm-Kirschbäume sollten wieder das Ortsbild prägen.

Baumpaten gesucht

Das Projekt stösst auf breite Unterstützung, es sind schon knapp zwei Drittel erreicht. Alle 36 Bauernbetriebe auf dem Zuger Stadtgebiet haben Kirschbäume. Und es soll noch mehr Bäume geben: Es können Baumpatenschaften für die Chriesibäume übernommen werden, «bitte schreiben Sie das im Text», sagt Kleeb lachend. Aber ernsthaft: «Das ist mir wichtig. Wir sind immer noch auf der Suche nach neuen Baumpaten. Das können auch Firmen sein.»

1’000 Chriesibäume für Zug, dessen ehemalige Hochstämmerpracht nach und nach dem Bauboom und den Umstrukturierungen in der Landwirtschaft weichen mussten. Ein «Obstwald» sei Zug vor 100 Jahren gewesen, sagt Kleeb. «Ich wohne seit 50 Jahren hier und habe die Veränderungen miterlebt. Wir wollten etwas dagegen halten.» Mit Kirschbäumen.

Tradition, Kulinarik und Profit unter einer Decke

Aber die gibt es nur, wenn die Chriesi auch verkauft werden können. Deshalb formierten sich nicht lange nach der IG Zuger Chriesi auch die Organisationen «Zuger & Rigi Chriesi» und die Zuger Kirschtortengesellschaft, gleichzeitig entstand der Verein Ägeri Chriesi. Vier Institutionen gibt es im Kanton Zug, die sich dem Erhalt der Zuger Kirschbäume widmen.

Hier stecken Tradition, Kulinarik und Profit unter einer Decke. Geht das? Ist das noch Kultur? Das sei sogar lebenswichtig für die Kirschbäume, so Kleeb. «Man vergisst das oft. Aber die Chriesibäume kann es nur geben, wenn es auch Abnehmer für Früchte gibt. Und die wichtigsten Abnehmer für Kirsch sind die Confiseure und Bäcker, die Zuger Kirschtorte produzieren. In nur 1cl Kirsch stecken 28 verarbeitete Chriesi.»

«Dafür würde so mancher Zuger keinen Finger krumm machen»

Ueli Kleeb

«Und die kulturellen Teile des Ganzen», sagt Kleeb weiter, «der Chriesisturm etwa, die sind ja rein ehrenamtlich. Da machen gegen hundert Freiwillige mit, da werden so viele unbezahlte Arbeitsstunden geleistet.» Für die Kultur oder fürs Überleben der Chriesibauern? «Für beides. Wir wollen damit auch die Arbeit der Chriesibauern würdigen. Die arbeiten so viel für ein Kilogramm Chriesi, das ganze Jahr über, dafür würde so mancher Zuger nicht einen Finger krumm machen.»

Aber rennen schon, am Chriesisturm etwa. Schon seit Jahrhunderten: Die Zuger Chriesikultur sei nachweislich über 400 Jahre alt, sagt Kleeb, dessen Team seit fünf Jahren an einem historischen Buch über die regionale Kirschenkultur arbeitet. «Den Chriesimärt gibt es seit 400 Jahren. Die Chriesiglogge wurde 1711 erstmals genannt, sie läutete bis Mitte des 19. Jahrhunderts.» Damals war das Läuten der grossen Glocke von St. Michael der Moment, an dem die Zuger Stadtbevölkerung auf die Allmend rennen durfte, um sich dort mit Kirschen einzudecken. Wer zuerst seine Leiter an einen Stamm gesetzt hatte, durfte die ganzen Kirschen vom Baum holen. Heute ist der Chriesisturm ein Rennen mit acht Meter langen Leitern durch die Altstadt.

Die Kirschtortenmeile

Und dann feiert die ganze Chriesikultur nächstes Jahr Jubiläum: Die Kirschtorte wird 100 Jahre alt. Die Zuger Kirschtortengesellschaft will zur Feier der Torte im Neustadt-Quartier eine Kirtschtortenmeile installieren, drehbare Metallzylinder aufstellen, auf denen die Geschichte der Kirschen, des Kirschs und der Torte erklärt wird.

Gleichzeitig hat die Stadt bekanntgegeben, dass sie den nördlichen Teil des Dreispitzplatzes neu «Kirschtortenplatz» nennen will. Das ist nicht nur auf Liebe gestossen, es hat auch Einsprachen gegeben. Kirschtortenplatz klinge nach Ausverkauf, nach Disneyland. Geht das nicht zu weit? «Auf keinen Fall», sagt Kleeb.

«Die Kirschtorte gehört zum kulinarischen Erbe der Schweiz und ist auf der ganzen Welt bekannt. Man muss sich vorstellen, da draussen, das ist das Epizentrum der Kirschtorte.» Sagt er und zeigt aus dem Fenster. «Da drüben im Coiffeur Voser an der Alpenstrasse 7 hat Heinrich Höhn 1915 die Kirschtorte erfunden, zusammen mit der Wirtin aus dem Hotel Zugerhof, das gleich gegenüber gestanden hat. Höhn hat dann in Zürich Inserate geschaltet, in der NZZ, hatte Selbstbewusstsein.»

Kirschen als Feigenblatt fürs Zuger Image?

1943 übergab er sein Geschäft dem Chefkonditor, Jacques Treichler. Die Torte machte schnell die Runde in der Schweiz. Und macht sie immer noch. «Wenn man Leute von ausserhalb fragt, was sie mit Zug in Verbindung bringen, dann wird zwar oft das Steuerparadies genannt, oder der Rohstoffhandel. In positiver Erinnerung bleibt aber die Zuger Kirschtorte.»

Aber das andere, das gibt es ja trotzdem. Ist die Chriesikultur ein Feigenblatt? «Das hat man uns auch schon vorgeworfen. Aber nein, das ist sie nicht. Die Chriesirenaissance wurde ja nicht von oben verordnet, sondern ist aus privater Initiative heraus entstanden», sagt Kleeb. «Und vielleicht gelingt es dadurch sogar, dass die Zugerinnen und Zuger vermehrt über die Entwicklung ihrer Region nachdenken.»

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