Mit 30 Jahren ins Pflegeheim

Wenn die Lichter ausgehen, kommt die Einsamkeit

Das private Pflegeheim Steinhof in Luzern: Hier lebt Multiple-Sklerose-Patientin Alexandra nun schon seit sieben Jahren. (Bild: Andrea Zimmermann)

Mit 30 Jahren ins Pflegeheim – was bereits betagten Menschen Mühe bereitet, ist für junge, pflegebedürftige Menschen umso schwieriger. Dennoch gibt es für sie keine Alternativen. Die heute 37-jährige Alexandra aus Horw hatte sich nach ihrem Eintritt vor sieben Jahren schon bei der Sterbehilfe-Organisation «Exit» angemeldet. Heute will sie wieder leben. Eine bewegende Geschichte.

Von den 103 Betten des privaten Pflegeheims Steinhof in der Stadt Luzern sind derzeit 20 durch junge Menschen belegt. «Das Durchschnittsalter in unserem Heim liegt bei 74 Jahren. Das ist eigentlich relativ tief, wenn man bedenkt, dass es in einem reinen Altersheim ungefähr bei 88 Jahren liegt», sagt Heimleiter Paul Otte.

Eine dieser jungen Bewohnerinnen, die massgeblich zu diesem tiefen Altersdurchschnitt beiträgt, ist die 37-jährige Multiple-Sklerose-Patientin Alexandra. Sie lebt seit sieben Jahren im Pflegeheim. «Für uns als Eltern war es eine Erleichterung, als Alexandra ins Heim kam. Für unsere Tochter jedoch ganz und gar nicht», erzählen Alexandras Eltern. Doch eigentlich sei das wirkliche Problem nicht dem Heim zuzuschreiben, sondern viel mehr, dass Alexandra sich mit ihrer gesamten Lebenssituation nicht abfinden konnte. Das Akzeptieren der Umstände, die sie im Alter von 30 Jahren in ein Pflegeheim führten.

«Die Frage, wie lange wir Alexandra überhaupt noch haben werden, liess uns keine Ruhe.»

Alexandra wurde als 25-Jährige mit der Diagnose einer primär progredienten Multiple Sklerose konfrontiert. «Es war ein Schock für uns», sagt der Vater. «Den Gedanken, dass es ab jetzt nur noch abwärts geht, konnten wir kaum ertragen.» Hinzu kam die grosse Ungewissheit, da die Krankheit bei jedem Patienten anders verläuft. «Die Frage, wie lange es so weiter geht, wie lange wir Alexandra überhaupt noch haben werden, liess uns keine Ruhe.»

Bei Exit angemeldet

Lange Zeit wehrte sich Alexandra gegen den Rollstuhl. «Sie blieb lieber in ihrer eigenen Wohnung, als sich in einen Rollstuhl zu setzen.» Alexandra grenzte sich mehr und mehr von der Aussenwelt ab und versuchte alles, so gut es ging, selbstständig zu erledigen, auch wenn dies bedeutete, auf allen Vieren die Treppe rauf und runter zu kriechen. 2006, kurz nach ihrem 30. Geburtstag, wurde Alexandras schleichender Krankheitsverlauf zusätzlich von Schüben überlagert, wodurch sich ihr Zustand markant verschlechterte. Das Seh- und Sprechvermögen nahm stark ab, Koordinationsstörungen und Muskelschwäche dehnten sich auf den ganzen Körper aus. Darüber hinaus machten sich kognitive Einschränkungen bemerkbar. «Sogar ihr Denken hatte sich verändert», erzählt die Mutter. «Sie begann Dinge zu sagen, die eigentlich gar nicht zu ihr passten.»

Seither ist Alexandra Tag und Nacht auf fremde Hilfe angewiesen. Die Eltern boten ihr gemeinsam mit Spitex, Verwandten und Freunden Unterstützung und Pflege, waren 24 Stunden in Bereitschaft und übernachteten abwechselnd bei ihrer Tochter. «Ein Heim war bis dahin nie ein Thema», meint der Vater.

Für die Familie war die Situation jedoch immer schwieriger zu bewältigen, da die Belastung immer grösser wurde. «Erst da haben wir begriffen, wie schwerwiegend diese Krankheit ist.» Nach einem dreimonatigen Aufenthalt in einer Spezialklinik in Valens bei Bad Ragaz wurde der Familie klar, dass Alexandra nicht mehr in ihre Wohnung zurückkehren kann. «Das war schrecklich für Alexandra. Eigentlich geht man in eine Klinik mit dem Ziel einer Verbesserung des Gesundheitszustandes. Doch ihr Zustand konnte sich nicht mehr verbessern», so die Mutter. Und so kam Alexandra ins Pflegeheim Steinhof in Luzern.

Während sich die Eltern erleichtert fühlten, da sie die Gewissheit hatten, dass ihre Tochter nun gut betreut wurde, war Alexandra beim Heimeintritt an einem Tiefpunkt. Die Krankheit war nur fünf Jahre nach der Diagnose so weit fortgeschritten, dass sie alles aufgeben musste. Fortan war das «verdammte Heim», wie sie es ein Jahr lang nannte, ihr neues Zuhause. Sie meldete sich bei der Sterbehilfe-Organisation «Exit» an; wollte sterben. «Das war ein weiterer Schock für uns», erzählen die Eltern. «Doch wir konnten sie verstehen und mussten es akzeptieren lernen. Es wurde uns klar, dass wir das nicht für sie entscheiden können.»

«Ein Heim für junge Menschen fände ich am besten»

Trotz der Erleichterung fiel es zu Beginn auch den Eltern schwer, dass ihre Tochter fortan im Pflegeheim leben musste. Alexandras Vater sagt: «Ich habe bei der Arbeit lange nicht über das gesprochen, muss ich zugeben. Man tut sich oft schwer damit, anderen das persönliche Schicksal zu offenbaren.» Negative Reaktionen seien weitgehend ausgeblieben, obwohl es auch Personen gab, welche die Entscheidung nicht nachvollziehen konnten. «Meine Eltern haben mich immer wieder gefragt, warum wir sie nicht nach Hause genommen haben. Sie konnten sich gar nicht vorstellen, wie schwer die ganze Situation ist», sagt der Vater. Auch einige von Alexandras Freunden konnten nicht mit dem Schicksal ihrer Freundin umgehen, worauf der Kontakt abbrach.

Zu Beginn hatten Alexandras Eltern aufgrund des hohen Durchschnittsalters in einem Pflegeheim Bedenken. Die Befürchtung war, dass Alexandra sich umgeben von Betagten nicht wohlfühlen würde und keinen Anschluss finden könnte. «Ich musste dem Umfeld erklären, dass Alexandra in einem Pflegeheim ist, weil es nichts gibt, das sich speziell an junge Menschen in der Situation wie Alexandra richtet. Ein Heim für junge, pflegebedürftige Menschen fände ich natürlich am besten.»

Paul Otte, Heimleiter der Steinhofs, kann diesen Wunsch der Eltern zwar nachvollziehen, betrachtet dies jedoch kritisch. «Es braucht einen Paradigmenwechsel», so Otte. «Man muss davon wegkommen, dass man Pflegeheime gemäss dem Alter definiert.» Damit würden innerhalb der Gesellschaft künstliche Grenzen geschaffen, die suggerieren würden, welche Lebenssituation für welches Alter angebracht sei. Daher ist es Otte auch besonders wichtig, dass in Zusammenhang mit dem Steinhof von einem Pflege- und nicht von einem Altersheim gesprochen wird. Otte: «Man glaubt, dass man für jedes Segment eine spezielle Einrichtung haben muss. Wir praktizieren dies jedoch auf eine ganz andere Art. Als Pflegeheim sind wir eine Anlaufstelle für alle pflegebedürftigen Menschen – unabhängig vom Alter.»

Der Umgang mit Menschen fehlt Alexandra

Daher glaubt der Betriebswirtschaftler auch nicht, dass ein Heim für junge Menschen Sinn machen würde. Zudem sei es in der Praxis auch kaum realisierbar. «Der Markt ist zu klein, um in der Stadt Luzern ein solches Heim zu eröffnen.» Wollte man das betriebswirtschaftlich geschickt anlegen, bräuchte es ungefähr 80 bis 100 Betten. «Diese könnte man nicht füllen», so Otte. Man müsste somit ein grösseres Gebiet zusammenfassen, wobei jedoch das Problem besteht, dass die Patienten ihre vertraute Umgebung und ihr soziales Umfeld verlassen müssten. «Und was sagt man diesen Menschen, wenn sie einmal nicht mehr jung sind? Müssen sie dann den Ort verlassen, wo sie einen grossen Teil ihres Lebens verbracht haben?»

Nicht zuletzt bezweifelt Otte, dass man in einem Heim für junge Pflegebedürftige deren Bedürfnissen besser gerecht werden könne als in einem Mischheim. «Pflegebedürftige Menschen können nicht mehr zusammen Pingpong spielen oder eine Disco am Abend abhalten.» Viel mehr würde beispielsweise darauf geachtet, dass junge Menschen nach Möglichkeit ein gemeinsames oder gar ein Einzelzimmer erhalten.

Doch ist es damit getan? Die sozialen Kontakte zu Gleichgesinnten vermögen auch die bestmögliche Pflege und ein Einzelzimmer nicht zu ersetzen. Insbesondere am frühen Abend, wenn die Lichter in den Zimmern der anderen Bewohner bereits ausgehen, vermisst Alexandra den Umgang mit jenen Menschen, die das eigene Schicksal oder gar die Diagnose mit ihr teilen.

Wie schafft sie das alles?

Umgeben von Betagten dem eigenen Schicksal entgegen zu blicken, erfordert Mut und den starken Willen, sich der Krankheit zu stellen. Mittlerweile sind seit dem Eintritt ins Heim sieben Jahre vergangen und vieles im Leben der 37-Jährigen hat sich verändert. Alexandra hat sich bereits nach einem Jahr entschieden, ihre Mitgliedschaft bei Exit zu kündigen. «Sie hat ihre Balance im Heim gefunden und fühlt sich sehr wohl dort», freuen sich die Eltern. «Wenn wir unterwegs sind, spricht sie vom Steinhof als ihr Zuhause. Das ist sehr schön für uns und wir sind überzeugt, dass es keinen besseren Ort für Alexandra gibt als den Steinhof.»

Fragt man Alexandra heute nach ihrem Umgang mit ihrer Krankheit, antwortet die junge Frau, der das Sprechen zunehmend schwer fällt, mit einem Lächeln in den Augen: «Sie ist einfach da.» Wie sie das alles schafft? «Mit dem Kopf durch die Wand», so sei sie schon immer gewesen. Oder wie es ihre Eltern sagen: «Sie ist eine Kämpferin, sonst hätte sie längst aufgegeben.»

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