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Etwas grotesk: Ein Asylsuchender gibt, umzingelt von Kameras, im Asylzentrum Hirschpark Auskunft. (Bild: bra)

Flüchtlinge wehren sich gegen Benimm-Flyer: Ist das klug?

Ende Januar, eine Woche vor der Fasnacht, präsentierte die Luzerner Regierung ihren Fasnachts-Knigge: Piktogramme thematisieren das Zusammenleben zwischen Mann und Frau und erklären allgemein verständlich, was man darf und was nicht (zentral+ berichtete). Damit will die Regierung sexuelle Übergriffe wie in der Silvesternacht von Köln verhindern.

Asylsuchende warfen nun am Samstag in einem Inserat in der «Neuen Luzerner Zeitung» (NLZ) der Luzerner Regierung vor, sie als «Wilde» hinzustellen und unnötig Öl ins Feuer zu giessen. In einem offenen Brief schrieben sie: «Wir fühlen uns gekränkt durch die Aktionen der letzten Wochen» (zentral+ berichtete). Und weiter: «Sexuelle Übergriffe sind keine Frage der Herkunft, sondern eine Frage des fehlenden Anstands.»

Der anerkannte Flüchtling Süleyman Özbayhan hat den Brief mitverfasst. «Die Aufklärungskampagne der Regierung stellt uns unter Generalverdacht», sagte er am Samstag in der «Tagesschau» von SRF. Der Luzerner Regierungsrat Guido Graf ist ob der Kritik überrascht und sagte unter anderem, der Flyer gelte für alle, nicht nur für Flüchtlinge.

Auch Flüchtlinge haben Ängste

Es war ein absurdes Bild, als die Luzerner Regierung ihren Erziehungsflyer vorstellte. Die versammelte nationale Presse war vor Ort. Ein Grüppchen Vorzeige-Ausländer durfte die Broschüre in der Hand halten und dazu fotografiert und interviewt werden.

Es herrschte eine seltsame Einigkeit über diese Massnahme. Kein Wort darüber, wieso gerade Luzern nach den Übergriffen in Köln einen solchen Flyer druckt. Schliesslich ging es um Ängste in der Bevölkerung, ein friedliches Zusammenleben – wer will sich da schon querstellen und unbeliebt machen. Und die hübschen Piktogramme im Flyer: Sie sind so präventiv und harmlos wie ein Aufklärungsbuch.

Doch jetzt scheren einige Ausländer aus der orchestrierten Aktion aus und wehren sich gegen die pauschale Vorverurteilung: Die Regierung provoziere Rassismus. «Sie haben uns als Wilde hingestellt, die aufgeklärt werden müssen», schreiben die Flüchtlinge. Verständlicherweise wollen sie nicht Sündenböcke für etwas sein, das sie nicht getan haben. Denn mal ehrlich: Was hat ein Flüchtling hier mit einem lüsternen Kriminellen in Köln zu tun? Nichts. Aber genau das impliziert der Flyer.

Leicht geharnischt sagte der Luzerner Regierungsrat Guido Graf in der «Tagesschau», der Brief gelte für alle, sei vorausschauend. «Wir wollen wirklich keine Probleme an der Fasnacht.» Wer will die schon? Aber wenn der Flyer wirklich für alle gilt, wieso gibt’s ihn dann erst jetzt? Oder ist es womöglich halt doch weniger schlimm, wenn Schweizer Männer Schweizer Frauen belästigen?

Dass Guido Graf Flüchtlinge pauschal verdächtigt und mit der aktuellen Krise Stimmung macht und sich profiliert, dagegen sollen sich die Betroffenen wehren. Wenn nötig mit einem offenen Brief. Flüchtlinge sollen Ansprüche geltend machen und aufstehen, wenn sie sich zu Unrecht verdächtig fühlen, gerade weil sie hier keine starke Lobby haben. Ausländer sind keine Gäste, die aus lauter Dankbarkeit das Maul halten sollen. Auch diese Menschen haben Ängste und Sorgen.

Fakten schönreden hilft niemandem

Ist er gelungen oder ein Schuss ins eigene Knie, der offene Brief von Flüchtlingen an die Luzerner Regierung? Die Aktion hat zwei Seiten. Nicht von der Hand zu weisen ist, dass der regierungsrätliche Anti-Grapsch-Flyer alle Flüchtlinge in einen Topf wirft. Dass das einigen der meist unbescholtenen Asylsuchenden missfällt, ist nachvollziehbar.

Doch ob die Flüchtlinge und mit ihnen die anonymen Geldgeber hinter dem 21’000 Franken teuren Inserat in der NLZ ihr Ziel erreichen, darf bezweifelt werden.

Die Täter der üblen Silvesternacht in Köln waren fast ausschliesslich asylsuchende junge Männer «nordafrikanischer beziehungsweise arabischer Herkunft». Das sind Fakten. Nach diesem Vorfall kamen auch bei uns Ängste auf, dass es an Grossanlässen wie etwa der Fasnacht zu ähnlichen Vorfällen kommen könnte. Das ist verständlich.

Nun kann man diese Unsicherheiten in der Bevölkerung ignorieren und hoffen, das nichts passiert. Oder man kann die Vorbehalte ernst nehmen und präventiv aktiv werden. Zum Beispiel mit dem Flyer.

Man stelle sich vor, es hätte an der Fasnacht tatsächlich Übergriffe wie in Köln gegeben – was man weder ausschliessen noch definitiv voraussagen konnte. Die Kritik an der Regierung für ihr «Nichtstun» wäre heftig gewesen.

Aus diesem Grund sind gewisse Passagen aus dem öffentlichen Brief heikel. Wenn die Initianten schreiben, sexuelle Übergriffe seien auch in ihren Herkunftsländern ein Verbrechen und dass diese Taten «keine Frage der Herkunft» seien, dann täuschen sie sich und sie täuschen die Bevölkerung. Wer ernsthaft behauptet, dass in Ländern wie Ägypten, im Iran oder in Afghanistan sexuelle Belästigung für Frauen kein grosses Thema ist, der verschliesst die Augen vor der Wahrheit. Und wer ernsthaft behauptet, dass der fehlende Respekt vor Frauen nichts mit dem teilweise rückständig gelebten islamischen Glauben zu tun hat, auch.

Der Regierung auch noch das Schüren von Rassismus vorzuwerfen, ist dann von den Finanziers des Inserates zusätzlich übers Ziel hinausgeschossen. Man kann das auch Instrumentalisierung nennen. Die Luzerner Bevölkerung ist gut genug geerdet, um wegen eines unauffälligen Verhaltens-Flyers für Flüchtlinge (wie er in vielen Ländern längst Standard ist) nicht alle diese Menschen unter Generalverdacht zu stellen. Das wäre in der Tat völlig daneben. Denn: Die allermeisten Flüchtlinge verhalten sich sehr anständig und verdienen unseren Respekt und unser Mitgefühl. Hier hilft auch eine klare Kommunikation darüber, was wir von ihnen erwarten.