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Was darf Musik? Eine Analyse aus der Ferne

Hollywoodmusik versus Luzerner Rap

Die Luzerner Rapper GeilerAsDu.

(Bild: zvg. Mario Wälti)

Songlyrics zwischen Hollywood und Realität oder echtem Leben und Traumwelt. Blogger Mario Wälti stellte sich einer alten Frage in verzweifelten Stunden auf Koh Samui. Wie es dazu kam und was die Analyse eines Luzerner und eines kanadischen Albums ergab.

Da bleibt einem doch die Spucke weg. Man fliegt quer durch die Welt, quasi an ihr anderes Ende, auf eine weit abgelegene Insel in Thailand, und das Einzige, was man dort vorfindet, sind sintflutartige Regenfälle, überflutete Strassen, gestrichene Flüge und Fähren, kurz: genau das, wofür man der (in dieser Zeit übrigens wunderschönen, aber bitterkalten) Schweiz mal den Rücken gekehrt hatte.

Tauchen ist nicht, Schwimmen ist nicht, Backpacking war nie geplant und geht jetzt auch nicht mehr. Und inzwischen ist auch das WLAN des Hotels vom Dauerregen tot. Damit ist die Möglichkeit, zum hundertsten Mal innert zehn Minuten durch den Instagram-Feed zu scrollen, weg. Sozialkontakte pflegen kann man auch nicht, WhatsApp funktioniert nicht mehr und ist eh zeitverschoben, und die anderen Gestrandeten auf dieser Insel sind nicht da, bei mir im Hotel, sondern vorne, im Dorf, im Ort, in der Bar, irgendwo auf der anderen Seite der Fluten, durch die Roller und Taxi nicht mehr kommen, an einem hoffentlich besseren Ort.

Das Verhältnis zwischen Wahrheit und Traum

Der Autor ist also allein, allein (und sie ist nicht weg, sondern war gar nie dabei, Grüsse an Hausmarke und Smudo). Was bleibt einem da also anderes übrig, als sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und sich nachhaltig mit einer der ältesten Fragen zu beschäftigen, die sich im Bereich der urbanen Musik stellt: dem Verhältnis zwischen Wahrheit und Traum in Songlyrics, oder anders formuliert: der Frage danach, wie viel Stilisierung und Übertreibung urbane Musik will und verkraftet? Und wo der Künstler seinen Hörern, frei gemäss der alten (Hip-Hop und R’n’B-)Schule, Echtheit und Echtsein schuldet. Was wollen wir? Hollywood oder Realität? Blockbusterkino oder Heimatfilm?

Zur Erklärung: Die Frage danach, was Musik, gerade im Bereich der Urban Music, sein soll, sein darf und sein muss, ob pure Unterhaltung ohne Anspruch auf Wahrheitsgehalt oder direkt aus dem Leben gegriffene «wahre» Geschichten, stellt sich in den letzten 20 Jahren nicht zum ersten Mal. Eminem, der wohl grösste und erfolgreichste Rapper der Neugeschichte, hat sich auf seinen ersten Alben über ausufernden Drogenkonsum und dessen Folgen ausgelassen. Dieses von ihm viel beackerte Thema wurde in erster Linie als lustiges, ja legitimes Hauptsubjekt seiner Platten akzeptiert, weil es – so sagte man sich – als Inhalt auf des Künstlers echtes Leben eben zutraf, sprich: weil dieser Herr Eminem eben selber anständig viel Drogen konsumierte.

Was gute Platten ausmacht

Nichtsdestoweniger wurde der Künstler für diesen Stil ebenso sehr gefeiert wie verabscheut. Gewisse empfanden den Stil als übertrieben, andere empfanden es als cool, Dritte hielten das Ganze für einen reinen Marketingplan und verabscheuten (oder feierten) es eben darum. Bis zum heutigen Tage landen immer wieder Alben von Rappern auf dem Konsumentenindex – verpönt für ihren jugendverführenden Inhalt von den einen, hochgejubelt für ihre Ehrlichkeit (oder ihr Übertreiben?) und ihre «Mir doch egal»-Attitüde von den anderen.

«Sind wir Batman in der Musik, aber privat Buchhalter?»

Und ebenso, wie irgendwelche behördliche Institutionen Platten mögen oder in die Hölle wünschen, scheiden sich die Szene-Geister an der alten Frage, was gute Platten denn ausmacht: Ist es die Wahrheit, die «Realness», das unverblümt Echte? Reden wir übers Bauernleben, wenn wir Bauern sind? Oder ist es das Übertriebene, der Film, die Flucht in nicht wahre Traumwelten? Sind wir Batman in der Musik, aber privat Buchhalter?

Das dekadente Starlife

Von solchen Gedanken beseelt (und nachdem auch das zweite mitgebrachte Buch, das neueste Werk von Benjamin von Stuckrad-Barre, zu Ende gelesen war), guckt der Autor also auf Koh Samui dem gegen die Scheiben klatschenden Dauerregen zu und nimmt sich – faute de mieux – Zeit zum Studieren zweier Platten, die unlängst rausgekommen sind.

Einerseits «Starboy», das neue Album von The Weeknd. Hollywoodesker und aufgeblasener geht es fast nicht mehr. The Weeknd ist derart dekadent, tingelt nonstop zwischen Autos für 1,2 Millionen, die sauberer sind als deine Kirchenschuhe, kaputten Modelfrauen und Kokslinien im Klub hin und her. Das ist das Starlife, da wird der Instagramfilter hochzelebriert, die Damen sind sexy und willig, die Drogen teuer, aber immer im Übermass vorhanden, und das alles wird unter- und überlegt von einer Lebensignoranz und Einsamkeit des Künstlers, dass das Gefühlschaos nur so eine Freude ist.

«Der zuckersüsse R’n’B wird auf intrigante Weise den abgrundtief kaputten Texten gegenübergestellt.»

Plus: Das ist alles hervorragend produziert und ausgearbeitet, und dieser zuckersüsse, sich direkt an Michael Jacksons roter Lederjacke orientierende R’n’B wird auf derart intrigante Weise diesen abgrundtief kaputten Texten gegenübergestellt, dass sich die Gehörmembrane anfühlen, als hätte ein Einhorn einen Regenbogen gemalt.

«Das ist Hollywoodmusik», denkt sich der Autor. Ein «Die Hard»-Film für die Ohren, eine separate Welt, in die man eintauchen kann und die man wohl nie die eigene nennen darf, soll, will oder muss, aber diese Musik, diese Welt, dieses Weltbild, das ist, ja, faszinierend. Ist das alles wahr? Who cares!? Es klingt gut, das soll es und tut es, mehr verlangt ja niemand, wenn er das Album «Starboy» auf maximaler Lautstärke im nicht vorhandenen Lamborghini Aventador pumpen will.

Hip-Hop-Combo für die Ewigkeit

So, erste Platte durch. Kurz erholen und sich die Schweissperlen abwischen, die sich der Autor beim Imitieren des Moonwalks während des Anhörens dieses Albums auf die Stirn gesteppt hat. Es regnet übrigens immer noch. Und es regnet mehr als in Luzern im April. Viel mehr. In kürzerer Zeit. Und der Autor dieses Textes macht hier gerade Ferien. Ferien!

«Turbo Mate & Kalaschnikow – ein fürwahr geiler Titel.»

Platte Nr. 2 also. GeilerAsDu, Luzerner Hip-Hop-Combo für die Ewigkeit. Gefühlte 28 Jahre hat es gedauert, seit die Herren das letzte Album rausgebracht haben, und jetzt liegt also das neue Werk namens «Turbo Mate & Kalaschnikow» vor mir. Ein fürwahr geiler Titel, wenn man bedenkt, dass Turbo Mate sich in den letzten Monaten zu einem der zentralsten Elemente des «Ich bin so alternativ, aber die Art, wie ich alternativ bin, ist so unglaublich Mainstream»-Starter-Packs entwickelt hat – zusammen mit Yoga, dem Hashtag #foodie und dem Hobby-Reisen (als würde das nicht jeder gern tun, ausser man landet im Flutregen).

Der offenste Seelenstrip

Jedenfalls: Los geht’s. Und was ich in den nächsten knapp 55 Minuten zu hören bekomme, raubt mir den Atem. Das ist unglaublich homogen produziert und gerappt, das ist derart ehrlich in allem, vom Anspruch auf Weltherrschaft bis zu den Tränen wegen verflossener Liebe, von Flüchtlingserlebnissen in Schweden bis zu durchzechten Nächten.

«Lieber ehrlich gut als unehrlich schlecht.»

«Das ist Realitätsrap, aber der ist so gut verpackt, dass er eben nicht langweilig wird», denkt sich der Autor. Da kann niemand kommen und behaupten, er lebe dieses Leben ja selber die ganze Zeit und brauche sich das also auf Platte nicht auch noch anzuhören. Nein, da sind Künstler am Werk, die erstens so gut rappen können und zweitens mit ihrer Gefühlswelt so im Reinen sind, dass der offenste Seelenstrip ebenso wenig peinlich ist wie grössenwahnsinniges Geprolle. Du vermisst den Lamborghini Aventador? Keine Angst, die Jungs sind Kings auf Fahrrädern. Ist das alles wahr? Klar, aber: Who cares?! Lieber ehrlich gut als unehrlich schlecht.

Zweite Platte durch, der Moonwalk blieb aus, dafür gab’s Mitgesinge, ein paar Tränen und den «Verdammt, diese Strophe hätte ich selber gerne geschrieben»-Reflex. Hollywood oder Realität? Traumwelten oder Hier und Jetzt? Der Autor ist hin- und hergerissen, aber wenn sie gut klingt, dann darf Musik nach wie vor sein, was sie will.

Die beste Urban-Music-Platte International und das beste Schweizer Rap-Album des Jahres 2016 sind beide am 25. November erschienen. Da ändern weder das Mass an Wahrheitsgehalt noch der Regen etwas dran.

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