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Sittenwidriges Verhalten an Chilbis

Harte Arbeit in der Zuckerwatten-Welt

Josef Zanolla, der Vater von Eugen Zanolla und Brigitte Jolliet-Zanolla, mit dem «Hau den Lukas» an der Landi 1939 (Bild: Archiv Familie Zanolla, Luzern)

(Bild: zvg. Historisches Museum Luzern)

Nicht weniger als 150 verschiedene Chilbis locken im Kanton Luzern jedes Jahr tausende Besucher an. Warum dem «sittenwidrigen» Verhalten bevorzugt am 2. Oktober nachgegangen wird und was es mit Hühneraugenvertreibern auf sich hat, weiss unsere Bloggerin Sibylle Gerber.

Im Kanton Luzern finden jährlich über 150 Chilbis statt von Älplerchilbis mit Viehschau über Kirchweih-Gottesdienste bis zu grossen Lunaparks mit Überkopf-Bahnen. Doch woher kommt diese Tradition eigentlich? Und was steckt hinter der Kulisse dieser frohen und glitzernden Zuckerwatten-Welt?

Die Chilbi ist Volksfest und beliebter Treffpunkt der lokalen Bevölkerung. Auf dem Autoscooter wird geflirtet, am «Hau den Lukas» Kräfte gemessen und es wird viel und gut gegessen. Inmitten dieser heilen Zuckerwatten-Welt arbeiten die Schaustellerinnen und Schausteller, jene Menschen also, die dieses Fest überhaupt ermöglichen und sich dort, wie ihre Berufsbezeichnung schon sagt, «zur Schau stellen».

Ihre weit zurückreichende Geschichte, so wie auch die Geschichte der Chilbi, wurde bislang kulturhistorisch noch wenig erforscht. Vielleicht liegt das daran, dass die Schausteller wegen ihres reisenden Lebensstils mit einigen Vorurteilen behaftet sind, oder weil ihr Alltag für Sesshafte einfach schwer greifbar ist: Kaum sind die Schausteller da, sind sie auch schon wieder weg, unterwegs zum nächsten Chilbi-Platz mit Auf- und Abbau bei jedem Wetter.

Von der Kirchweihe zur Chilbi

Das schweizerdeutsche Wort «Chilbi» oder «Kilbi» (je nach Dialekt) leitet sich von «Kirchweihe» ab. Die Kirchweihe ist das jährliche Gedächtnisfest an die Kircheneinweihung, das in der Regel am Feiertag des Kirchenpatrons stattfindet. Parallel zur rein kirchlichen Feier entwickelte sich aber schon bald jenes Fest, das heute meistens mit Chilbi gemeint ist: ein weltliches Volksfest und gesellschaftliches Ereignis, das nur wenig mit Besinnlichkeit und Andacht zu tun hat.

Die Kirchweihe, um 1835 (Bild: Aquatinta-Radierung von Maehly & Schabelitz)

Die Kirchweihe, um 1835 (Bild: Aquatinta-Radierung von Maehly & Schabelitz)

Der geistlichen und weltlichen Obrigkeit waren diese Volksfeste ein Dorn im Auge, weil damit regelmässig lustvolle Ausschweifungen einhergingen. Gleichzeitig war man sich der Wichtigkeit dieses kontrollierten Ausbruchs aus dem Alltag bewusst. Der Chilbitag war einer der wenigen Tage im Jahr, an denen Tanzen, Trinken und Spielen von der Kirche und der Obrigkeit zwar nicht gern gesehen, aber doch geduldet wurde.

Jahrmarkt auf dem Kurzweilplatz (heute: Kasernenplatz) vor dem Baslertor, um 1830 (Bild: Aquarell von Johann Baptist Marzohl, ZHB Luzern Sondersammlung)

Jahrmarkt auf dem Kurzweilplatz (heute: Kasernenplatz) vor dem Baslertor, um 1830 (Bild: Aquarell von Johann Baptist Marzohl, ZHB Luzern Sondersammlung)

Organisiertes Erbrechen

Die Industrialisierung und die damit einhergehende Technisierung der Gesellschaft machten sich auch auf den Chilbi-Plätzen bemerkbar. Neuheiten wie die Dampfmaschine oder die Verbreitung von Elektrizität eröffneten ab dem späten 19. Jahrhundert ganz neue Möglichkeiten für den Antrieb und die Beleuchtung von Karussells und Co.

Lokomobil als dampfbetriebener Stromgenerator, um den 1. Weltkrieg (Bild: Archiv Max Stoop, Langnau am Albis)

Lokomobil als dampfbetriebener Stromgenerator, um den 1. Weltkrieg (Bild: Archiv Max Stoop, Langnau am Albis)

Aus der langsam kreisenden Bewegung des dampfbetriebenen Karussells entwickelten sich rasante Berg-und-Tal-Bahnen und schliesslich die hydraulisch gesteuerten Überkopfbahnen und Meisterwerke der modernen Ingenieurskunst. Heutige Maschinen gehen an das für den menschlichen Körper gerade noch ertragbare Limit. Nach oben sind fast keine Grenzen gesetzt, ganz nach dem Motto: schneller, höher, stärker.

Aber wieso will der Mensch überhaupt von einer Maschine durch die Luft gewirbelt werden? Brigitte Jolliet, Schaustellerin und Besitzerin der Überkopfbahn «Pegasus», erklärt den Erfolg solcher Bahnen so:
«Die Leute vergessen alle Sorgen, sie denken vielleicht höchstens: ‹Hoffentlich hält dieser Bügel!› Dann lassen sie sich gehen, vergessen alles Drum und Dran in ihrem Leben und freuen sich einfach über die Fahrt. Das ist auch das, was mir oft die Kraft gibt, diesen strengen Beruf so gut zu meistern, diese Freude der Leute.»

Wieso findet in vielen Luzerner Gemeinden die Chilbi am 2. Sonntag im Oktober statt?
Weil fast jede Gemeinde im Kanton Luzern an einem anderen Tag Kirchweihe feierte, herrschte an den Sonntagen ein reges «Chilbi-Laufen» und damit – aus Sicht der Obrigkeit – Gelegenheit zu sittenwidrigem Verhalten. Aus diesem Grund befahl der Bischof von Konstanz in einem Mandat von 1778 dem ganzen Kanton Luzern die Beschränkung der Kirchweihe auf ein einziges Datum: den zweiten Sonntag im Oktober. Einige Luzerner Gemeinden haben dieses Chilbi-Datum bis heute beibehalten.

Schaubudenzauber: Abnormitäten und Spektakel

Kettensprenger (Titelbild), «Dicke Berta», Tierbändiger und Hühneraugenvertreiber: Sie alle gehörten zu den Hauptattraktionen, als noch Schaubuden statt Bahnen die Chilbi-Plätze dominierten. Die Vorläufer der Schausteller zogen im Mittelalter als Gaukler und Spielleute umher und brachten mit ihren Schaubuden die Welt und damit willkommene Abwechslung in die Dörfer und Städte.

In einer Zeit, in der es noch kein Fernsehen gab, übernahmen die Schausteller gleichzeitig die Rolle der populärwissenschaftlichen Nachrichtenüberbringer und der packenden Unterhalter. Wahrheit und Fiktion lagen bei den geheimnisvollen Attraktionen nahe beieinander und mit Superlativen wurde bei deren Anpreisung nicht gespart: Der «kleinste» Mann, die «schwerste» Frau und das «gefährlichste» Tier waren auf der Chilbi, um die Schaulust des Volkes zu befriedigen.

Kettensprenger Charly de Kiswarth demonstriert an der Luzerner Herbstmesse seine Kraft, 1960 (Bild: Ernst Scagnet, Stadtarchiv Luzern)

Kettensprenger Charly de Kiswarth demonstriert an der Luzerner Herbstmesse seine Kraft, 1960 (Bild: Ernst Scagnet, Stadtarchiv Luzern)

Schaustellerin mit Schlange an der Luzerner Herbstmesse 1940 (Bild: Max Albert Wyss © Stiftung Fotodokumentation Kanton Luzern)

Schaustellerin mit Schlange an der Luzerner Herbstmesse 1940 (Bild: Max Albert Wyss © Stiftung Fotodokumentation Kanton Luzern)


Der Beruf der Schausteller hat sich stark verändert. Die meisten stellen heute nicht mehr sich selber, sondern ihre Fahr-, Belustigungs- und Geschicklichkeitsgeschäfte zur Schau – und wohnen lieber in einem Haus statt im Wohnwagen. Allerdings reisen die Schausteller auch heute noch durch die ganze Schweiz, um den Leuten Vergnügungen zu bringen.

Riese Constantin: Julius Koch, auch bekannt als «Géant Constantin», war 2.58m gross und wurde in Varietés und auf Jahrmärkten in ganz Europa als Riese inszeniert. Julius Kochs Spuren führen in den Kanton Luzern – seine Mutter stammte aus Mauensee. (Bild: zvg. Historisches Museum Luzern)

Riese Constantin: Julius Koch, auch bekannt als «Géant Constantin», war 2.58m gross und wurde in Varietés und auf Jahrmärkten in ganz Europa als Riese inszeniert. Julius Kochs Spuren führen in den Kanton Luzern – seine Mutter stammte aus Mauensee. (Bild: zvg. Historisches Museum Luzern)

Verdrängung der Chilbi?

Chilbis finden traditionellerweise auf zentralen Dorfplätzen oder städtischen Brachen statt. Diese Freiräume werden im Zuge der Verdichtung des öffentlichen Raumes jedoch immer knapper. Im Spannungsfeld zwischen Tradition und kommerziellen Interessen wird die Chilbi zum politischen Thema, nämlich dann, wenn es um die Frage geht, wie der öffentliche Raum genutzt werden soll. Was ist wichtiger: der Erhalt eines Kulturgutes oder die wirtschaftliche Nutzung eines Raumes? Solche Debatten spielen sich (meist) hinter der Kulisse ab. Vor der Kulisse aber, an der farbig leuchtenden Chilbi, werden die Besucher weiterhin eine sorglose Zeit verbringen, fernab vom grauen Alltag.

Ausstellung im Historischen Museum Luzern:

«Chilbi – Von Zuckerwatte, Karussells und Schaustellern»

19. Mai bis 16. Oktober 2016

«Pegasus» der Schaustellerfamilie Jolliet, Luzerner Herbstmesse, 2015 (Bild: Priska Ketterer © Historisches Museum Luzern)

«Pegasus» der Schaustellerfamilie Jolliet, Luzerner Herbstmesse, 2015 (Bild: Priska Ketterer © Historisches Museum Luzern)

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