Luzerner forschen zu Suizidversuchen bei LGBT-Jugendlichen

«Bewusstsein für Diversität zu schaffen ist kein Randgruppen-Thema»

Homo-, Bi- und Transsexuelle Jugendliche weisen eine fünf Mal höhere Suizidversuchsrate auf. (Symbolbild: Adobe Stock) (Bild: Adobe Stock)

Homo-, bi- und transsexuelle Jugendliche sind am ehesten suizidgefährdet. Andreas Pfister von der Hochschule Luzern will eine Studie durchführen, um an die Hintergründe zu gelangen. Denn in der Forschung bestehe ein «blinder Fleck».

Die Suizidversuchsrate ist bei lesbischen, schwulen, bisexuellen und transsexuellen Jugendlichen (kurz «LGBT») höher als bei heterosexuellen Jugendlichen. In der Schweiz kommen bis fünfmal mehr schwule und bisexuelle männliche Jugendliche an den Punkt, an dem sie ihrem Leben ein Ende setzen wollen. Doch weswegen? Zu den genauen Hintergründen gibt es für die Schweiz bislang noch keine Studien.

Andreas Pfister will das ändern. Er ist Professor für Soziale Arbeit an der Hochschule Luzern. Gemeinsam mit einem Forschungsteam hat er ein methodisches Verfahren entwickelt, mit dem untersucht werden kann, weshalb es bei 14- bis 25-jährigen LGBT-Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu Suizidversuchen kommt.

zentralplus: Weswegen sind LGBT-Jugendliche im Vergleich zu heterosexuellen und cisgender-Jugendlichen mehr gefährdet, einen Suizidversuch zu begehen?

Andreas Pfister: Es spielen verschiedene Faktoren bei suizidalem Verhalten mit. Genauso wie bei heterosexuellen Jugendlichen sind die Gründe vielfältig. Die sexuelle Orientierung – ob schwul, lesbisch oder bisexuell – oder die Geschlechtsidentität sind per se kein Risikofaktor für einen Suizidversuch. Die sexuelle Orientierung oder die geschlechtliche Identität kann ein Ausgangspunkt sein für negative gesellschaftliche Reaktionen wie homophobes Verhalten und Diskriminierung. Aber auch Schikanierung und Bullying in der Schule sowie fehlende Akzeptanz in der Familie können für Betroffene sehr belastend sein.

Studienleiter Andreas Pfister. (Bild: ida)

zentralplus: Man hat den Eindruck, dass das Thema in der Schweizer Forschung stiefmütterlich behandelt wird. Der Forschungsstand ist blank, mit Ausnahme von wenigen Studien zum Suizidverhalten von homo- beziehungsweise bisexuellen jungen Männern. Wird das Thema totgeschwiegen?

Pfister: In der Forschung besteht ein blinder Fleck, ja. Es ist erstaunlich, dass Schweizer Studien nicht zumindest am Schluss erwähnen, dass sie keine Auskunft über LGBT-Personen geben können. Erfreulich ist aber, dass 2016 LGBT-Personen im nationalen Aktionsplan Suizidprävention erwähnt und entsprechende Massnahmen gefordert wurden. Unsere Vorstudie wurde vom Bundesamt für Gesundheit finanziert. Für mich ist das ein klares Zeichen und nicht einfach ein Lippenbekenntnis: Der Bund will eine grössere Studie in diesem Bereich anstossen, um die Suizidprävention zu verbessern.

zentralplus: Sie haben in der Vorstudie zwei Jugendliche zu ihrem Suizidversuch befragt – eine bisexuelle junge Frau und einen jungen Transmann. Hat das Gespräch die beiden nicht aufgewühlt?

Pfister: Es gab intensive Momente, für beide Seiten. Die Befragten gaben jedoch an, dass sie sich wohlgefühlt haben. Ich hatte den Eindruck, dass sie ihre Geschichte erzählen wollten. Dass das Bedürfnis da ist, darüber zu sprechen. Ich denke, dass sie an der Befragung teilnahmen, um einen Beitrag zur Prävention zu leisten, damit andere Jugendliche einmal besser geschützt sind als sie. Mit der Vorstudie haben wir die Grundlage geschaffen, dass solche Interviews mit möglichst wenig Risiken möglich und ethisch vertretbar sind. Hierzu wurde auch die Fachmeinung von psychiatrischen und klinisch-psychologischen Expertinnen und Experten zugezogen.

«Er hatte das Gefühl, nur wenig selbst entscheiden zu können.»

zentralplus: Weswegen wollten sich die beiden das Leben nehmen?

Pfister: Wie erwähnt, die Gründe und Umstände für Suizidversuche sind vielfältig. Es gibt selten nur einen Grund. Für den Transmann war es etwa emotional sehr belastend, dass das äussere Erscheinungsbild nicht mit dem inneren Gefühl und der selbst wahrgenommen Geschlechtsidentität übereinstimmte. Ihm wurde wiederholt eingeredet, dass er niemals so aussehen werde wie ein richtiger Mann. Er hatte das Gefühl, in seinem Leben nur wenig selbst entscheiden zu können. Das war für ihn sehr belastend.

Hier findest du Hilfe

Wähle die Nummer 143 der «Dargebotenen Hand», wenn es dir schlecht geht. Kostenlos rund um die Uhr wird dir auch über die Nummer 147 (Pro Juventute) geholfen.

Manchmal tut es gut, sich in einem sicheren Raum unter Gleichgesinnten zu treffen. In Luzern gibt es für schwule, lesbische, bisexuelle, trans- und anderssexuelle Jugendliche beispielsweise die Milchbar (zentralplus berichtete). Treffpunkt ist im Treibhaus, an jedem zweiten Mittwoch ab 19 Uhr. Das nächste Mal am 8. Januar.

zentralplus: Und bei der jungen Frau?

Pfister: Sie wurde als Kind missbraucht, was zu einer komplexen psychischen Belastung geführt hat. Diese Belastung prägte die weitere Entwicklung. Weiter belastend war, dass Bisexualität im Kulturkreis der Eltern wenig akzeptiert ist. Die junge Frau befürchtete deshalb negative Reaktionen und hat sich ihren Eltern gegenüber nicht geoutet.

zentralplus: Neben den angesprochenen Chancen einer solchen Studie bestehen aber auch Risiken, Jugendliche zu begangenen Suizidversuchen zu befragen.

Pfister: Das stimmt. Wichtig ist, dass durch solche Interviews die Jugendlichen und jungen Erwachsenen nicht zusätzlich belastet werden und im schlimmsten Fall sogar suizidales Verhalten verstärkt wird. Sie müssen soweit stabil sein, dass sie darüber sprechen können. Das stellen wir unter anderem sicher, indem sie über Psychiater und Psychotherapeutinnen rekrutiert werden. Zudem befragen wir keine Jugendlichen, die bereits viele Suizidversuche begangen haben. Für sie wären die Interviews zu belastend.

zentralplus: Und worauf werden Sie und Ihr Forschungsteam achten?

Pfister: Wir werden geschult, um mögliches suizidales Verhalten frühzeitig zu erkennen. Wir haben einen Ablauf- bis hin zu einem Notfallplan und werden immer Adressen für Hilfsangebote abgeben. Mit unserer Vorstudie haben wir all diese Risiken abgewogen. Prinzipiell ist es machbar, eine qualitative Studie über das Suizidversuchsverhalten von LGBT-Jugendlichen durchzuführen. Das Forschungsprojekt wird von Fachleuten aus Suizidprävention, von Psychiatern und der LGBT-Community begrüsst.

zentralplus: Wollen Sie in Ihrer Studie ausschliesslich LGBT-Jugendliche befragen?

Pfister: Nein. Um besser zu verstehen, was LGBT-spezifische Risikofaktoren und Hintergründe für Suizidversuche sind, wollen wir auch heterosexuelle und cisgender Jugendliche befragen. Bei LGBT-spezifischen Studien bestand in der Vergangenheit manchmal das Problem, dass der Fokus zu stark auf Risiken und Belastungen gelegt wurde. Die Gruppe wurde als spezifisch problembelastet in Abgrenzung zu heterosexuellen Jugendlichen erforscht.

zentralplus: Was wollen Sie mit Ihrer Studie besser machen?

Pfister: Wir wollen die Ressourcen betrachten und dem Umstand Rechnung tragen, dass sich die sexuelle Orientierung im Jugendalter teilweise noch in Entwicklung befindet. Jugendliche wollen beziehungsweise können sich manchmal nicht fest zuordnen. Absolut vermeiden wollen wir, dass durch unsere Studie der Eindruck erweckt wird, suizidales Verhalten sei bei LGBT-Jugendlichen gewissermassen «normal» und an der Tagesordnung. Dies ist nicht der Fall! Es gibt zwar mehr betroffene LGBT-Jugendliche als heterosexuelle und cisgender Jugendliche. Suizidales Verhalten betrifft aber zum Glück nur eine Minderheit innerhalb der LGBT-Community.

«Dass ein Junge ausgegrenzt und als ‹schwul› beschimpft wird, nur weil er die Fingernägel bemalt, ist für Jungs ein Problem.»

zentralplus: Was ist das Ziel der Studie?

Pfister: Die Suizidprävention soll mithilfe der Forschungsergebnisse LGBT-sensitiver und -spezifischer ausgerichtet werden können. Fachpersonen der Suizidprävention und der LGBT-Community werden die Forschung in einem Beirat begleiten, sodass praxisrelevante Aspekte rechtzeitig einfliessen.

Zur Person

Andreas Pfister studierte Erziehungswissenschaften mit Schwerpunkt Sozialpädagogik an der Uni Zürich und in Berlin.

Seine Dissertation schrieb Pfister über das HIV-Schutzverhalten und die Karrierewege von Männern im Sexgewerbe. Auch untersuchte er, wie die Verknüpfung psychosozialer Probleme und gleichgeschlechtlicher Orientierung im sozialwissenschaftlichen Diskurs über schwule Jugendliche zustande kommt.

Pfister hat das Forschungsdesign beim Schweizerischen Nationalfonds eingereicht. Wird dem Vorhaben zur Erforschung von Suizidversuchen bei LGBT-Jugendlichen entsprochen, wird die qualitative Studie von 2020 bis 2024 durchgeführt.

zentralplus: Sie wollen auch Personen aus dem Umfeld von LGBT-Jugendlichen befragen. Weshalb?

Pfister: So erkennen wir Brüche und Situationen, in denen Jugendliche stark auf Hilfe angewiesen wären, ihr Umfeld das aber nicht bemerkt. Verstehen wir die Konstellationen besser, können wir die Suizidprävention verbessern. Sodass Angehörige aus Familie und Schule früher erkennen, wenn jemand Probleme hat, und rechtzeitig eingreifen können.

zentralplus: Im Februar stimmen wir über die Anti-Rassismus-Strafnorm ab. Würde die Annahme etwas dazu beitragen, dass die Suizidversuchsrate von schwulen, lesbischen und bisexuellen Jugendlichen gesenkt werden könnte?

Pfister: Ja. Wir wissen, dass strukturelle und gesellschaftliche Faktoren Einfluss auf suizidales Verhalten haben. Eine Annahme wäre ein klares Zeichen für die Akzeptanz der Gruppe, nicht nur rechtlich, sondern auch symbolisch. Es hiesse, dass die Schweizer Bevölkerung Schwule, Lesben und Bisexuelle künftig vor Hass und Hetze schützen möchte. In der Suizidprävention müssen wir aber auf allen Ebenen ansetzen. Es muss ein Bewusstsein für Diversität in Schulen und anderen Settings geschaffen werden. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, kein Randgruppen-Thema. Dass ein Junge ausgegrenzt und als «schwul» beschimpft wird, nur weil er jetzt beispielsweise lieber mit Puppen als mit Autos spielt und sich die Fingernägel bemalt, ist für Jungs ein Problem – ob später schwul oder nicht. Lehrpersonen müssen noch mehr sensibilisiert werden. Nicht zuletzt soll die Sexualaufklärung Kindern, Jugendlichen und Eltern vermitteln, dass es verschiedene Wege gibt im Leben. Eltern müssen wissen und akzeptieren, dass es manchmal anders kommt als gedacht und dies auch gut so ist.

zentralplus: In Schweden und Dänemark kommt es zu weniger Suiziden, nachdem die Homo-Ehe legalisiert wurde. Die Rate nahm um 46 Prozent ab. Könnte die Legalisierung der Homo-Ehe in der Schweiz einen ähnlichen Einfluss haben?

Pfister: Das könnte gut sein. Wie erwähnt spielen gesellschaftliche und strukturelle Faktoren eine Rolle. Die skandinavische Studie ist ein weiterer Hinweis dafür. Für LGBT-Personen macht es schon etwas aus, ob man in der Schweiz weiterhin darüber diskutiert, ob die Ehe Mann und Frau vorbehalten ist oder in absehbarer Zeit eine Öffnung und tatsächliche Gleichstellung erwirkt wird.

Deine Ideefür das Community-Voting

Die Redaktion sichtet die Ideen regelmässig und erstellt daraus monatliche Votings. Mehr zu unseren Regeln, wenn du dich an unseren Redaktionstisch setzt.

Deine Meinung ist gefragt
Deine E-Mailadresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert. Bitte beachte unsere Netiquette.
Zeichenanzahl: 0 / 1500.


0 Kommentare
    Apple Store IconGoogle Play Store Icon